Brief an einen Freund
Ich hoffe, mein Brief erreicht dich in deinem fernen Land. Schließe die Augen, atme die freie Luft, schmecke den Duft des Kaffees und vergiss China! - Aber meint sie das wirklich?
Ming Shui (Klares Wasser) ist das Pseudonym der Shanghaier Dichterin und Schriftstellerin Liu Zhen. Die 34-Jährige ist in China vor allem für ihre Essays, Kolumnen und Fernseh-Drehbücher bekannt. 2002 erschien ihr Gedichtband ‚Warten‘ (Wie shei dengdai). Von den mehr als zehn Romanen, die Ming Shui geschrieben hat, konnte bislang nur einer (‚Gejue‘, Isolation) veröffentlicht werden, und auch der nur in Hongkong. Die anderen scheiterten vor allem wegen ihrer offenen Beschreibungen homosexueller Liebe an der Zensur. Ming Shui und ihre Freundin Wan Ru hatten im Herbst 1999 als erstes lesbisches Paar in China eine öffentliche Hochzeitsfeier mit Familie und Freunden abgehalten. – Ming Shui hat den Brief an unseren Kollegen Kai Strittmatter geschrieben, der sie einst in Shanghai besucht und seither Kontakt gehalten hatte (siehe Artikel
Die himmlische Liebe). Strittmatter war bis 2004 in China und ist heute der Türkei-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung.
Wir kennen uns jetzt schon ziemlich lange. Es war im Herbst 1999, in Peking sind sie schon über die Herbstblätter gestapft und bei uns waren die Bäume noch grün, als du nach Shanghai gekommen bist, um die zwei Frauen zu treffen, die es gerade zum ersten Mal gewagt hatten, in China eine öffentliche Hochzeit zwischen Frauen zu feiern. Wir wurden daraufhin gute Freunde, Du, Wan Ru und ich.
Jetzt, sechs Jahre später, zerbrechen Wan Ru und ich uns gerade den Kopf, wie wir unseren Kinderwunsch Wirklichkeit werden lassen können. Sieht so aus, als hätte jener Herbst ganz von selbst Früchte getragen. Aber mit dem Leben in Shanghai ist es nicht anders als mit dem Leben in allen anderen Orten in China auch: Weder weißt du, was morgen sein wird, noch weißt du, über was für Hürden du heute vor dem Sonnenuntergang noch stolpern wirst.
Eine Zeitlang sind wir, Wan Ru und ich, ganz in unserem eigenen Glück aufgegangen, haben uns nicht groß um den Alltag gekümmert, dachten: Hauptsache, wir treten niemandem auf die Füße, dann werden uns die anderen auch in Frieden lassen. Die unbeschwerte Freiheit, die wir eine Zeitlang so genossen, erscheint mir im Nachhinein besehen recht fragwürdig.
Nachdem unser Leben in ruhige Bahnen einlenkte, begannen wir, uns Gedanken zu machen, über viele Dinge, private wie politische: Wenn die Liebe erschöpft ist, wie schaffen es zwei Menschen, sich voneinander zu trennen? Wenn die eine im Netz der anderen verstrickt ist, wie wird sie damit fertig? Wenn einer der beiden Liebenden etwas zustoßen sollte – könnte es dann sein, dass all ihre persönlichen Dinge, die so voller gemeinsamer Erinnerungen stecken, von herzlosen Verwandten weggenommen und vernichtet werden? Und: Wenn wir tatsächlich ein Kind bekommen, wie verhalten wir uns dann dieser Gesellschaft gegenüber? Wie schützen wir sein zukünftiges Erbe?
Die Notwendigkeit entsprechender Gesetze erschien uns so dringlich wie nie zuvor – aber die Stimmen, die hier nach solchen Gesetzen rufen, sind schwach und leise. Der Konfuzianismus hat uns Chinesen gelehrt, pragmatisch und vorsichtig zu sein. Die ständige Ausschau nach versteckten Nischen, in die wir uns mit unseren Schwächen und unserem Schweigen zurückziehen können, steckt uns allen in den Knochen. In dem angeblich so grenzenlos freien und offenen Shanghai gibt es nicht eine einzige Bar für ‚Genossinnen‘ (Anm. d. Red.: So nennen sich Chinas Lesben). Diejenigen, die uns hin und wieder an bestimmten Abenden die Tür öffnen, verschieben diese Abende oft oder sagen sie ganz ab. Es gibt keine Zeitungskolumnen oder Fernsehprogramme, die sich Homosexuellen widmen. Filme zum Thema tauchen nur im Untergrund auf, und auch dann nur, wenn sie zuvor im Ausland Aufsehen erregt haben. Ja, in meiner Wohnung lade ich öfter mal zu Partys ein, aber auch dann können wir nur bestimmte Leute einladen.
Ich habe nicht viel zu meiner Entschuldigung zu sagen, auch ich als Betroffene und Chinesin habe nicht viel dazu beigetragen, dass sich die Situation ändert. Dafür schäme ich mich ein wenig. Vielleicht erinnerst du dich noch, wie wir im Winter in dem geschäftigen Restaurant ‚Lokomotive‘ im Xujiahui-Bezirk saßen und darüber sprachen, wie die Chinesen alle ihre Hoffnung immer in die Zukunft legen, oft weit außerhalb ihres eigenen Lebens: Hauptsache der Zug rollt, scheinen sie zu denken, irgendwann werden es schon ein paar schaffen, auf ihn aufzuspringen. Du, mein deutscher Freund, hast mich dann sanft gemahnt: „Ming Shui, du hast aber nur ein Leben …“
Es ist nun schon einige Zeit vergangen, aber jedes Mal, wenn mir diese Worte in den Sinn kommen, dann ist es vorbei mit meinem ruhigen Schlaf, selbst beim Spazierengehen werde ich dann plötzlich ganz unruhig. Es gibt Dinge, die erträgt auch der großzügigste Mensch nicht mehr.
Vielen Dank auch, dass du mir kürzlich deinen Verleger-Freund vorgestellt hast. Ming Shui, die Schriftstellerin – das ist schon eine traurige Angelegenheit. Habe mit zwölf meine ersten Essays veröffentlicht, hernach einen Haufen Literaturpreise gewonnen und einmal in einem landesweiten Wettbewerb den ersten Platz belegt – wie also kommt es, dass seit meinem Abgang von der Universität meine wahre Stimme nicht mehr zu hören war? Liegt es etwa daran, dass ich mit meinen Stimmbändern Probleme habe? Ist etwas mit den Ohren des Publikums geschehen? Oder liegt es an anderen ‚Unreinheiten‘ in meiner Stimme, dass mir der Mund verschlossen wurde?
Klar und tief empfinde ich den Schmerz vor allem dann, wenn ich mitten in der Nacht unter Tränen den Stift in meiner Hand zerbreche und schwöre, dass ich nie wieder eine Zeile schreiben werde. Der große Lu Xun (1881–1936) hat einst die Medizin für die Schriftstellerei aufgegeben, um mit seiner mächtigen Stimme die Seele des chinesischen Volkes zu retten. Meine zornige Seele hingegen treibt mich in manchen Momenten zu dem Gedanken, dass es heute praktischer wäre, die Schriftstellerei gegen die Medizin einzutauschen, wenn man schon Menschen retten möchte.
Mein Freund, es stimmt: Man lebt nur einmal. Ich werde mich aufraffen, werde mir Mühe geben.
Ja, China. Da war jenes eine Mal, als wir im Café darüber sprachen, was die Stadt Qingdao plante, nachdem ihr die Segelwettbewerbe für die Olympischen Spiele 2008 zugesprochen wurden: Die Stadtregierung wollte im Eiltempo ihre alten, noch von den Deutschen gebauten Häuser abreißen lassen und an ihrer Stelle neue Häuser hinstellen im ‚deutschen Stil‘. So ist das China von heute: kurzsichtig. Wo sie ‚entwickeln‘, da zertrampeln und ruinieren sie; wo sie ‚aufbauen‘, grassiert die Korruption. So ist das in Qingdao, so ist das in Shanghai.
Wohl auch deshalb hast du die Einladung zu deinem Abschiedsfest mit dem ‚Chai‘-Zeichen, dem auf Chinas Mauern und Wänden so allgegenwärtigen Zeichen für ‚Abriss‘ geschmückt, bevor du auf bist, in freiere Himmel zu fliegen, wo du unverschmutzte Luft atmen kannst. Bist du abgehauen, weil dich deine Liebe zu dem Land am Ende dazu gebracht hat, dass du es nicht mehr ertragen konntest?
Aber, Freund, wo können wir hin flüchten, wir, die wir hierher gehören? Sieht so aus, als sei es noch zu früh für mich, dem Schreiben abzuschwören, scheint so, als hätte ich doch noch eine Menge zu sagen.
Ja, China. Der, den ich für unseren besten Dichter halte, sitzt noch immer in einem Gefängnis irgendwo in China das nun sechste Jahr seiner neun Jahre Haft ab, verurteilt wegen eines angeblichen Treffens mit einer Prostituierten, in Wirklichkeit ist er in eine Falle der Polizei getappt. Derjenige unter meinen Freunden, der besser schreibt als alle anderen zusammen, hat sich aufs Geschäftemachen verlegt, und nur manchmal noch blitzt in seinen Briefen und seinen Worten sein anrührendes Talent auf.
Und und und.
Umweltzerstörung, Jugendkriminalität, Drogenmissbrauch, Zusammenstöße der Volksgruppen, Aids, die wachsende Wohlstandskluft, die großflächige Armut, die Überbevölkerung, die Korruption, der Verlust des Vertrauens, die Flucht des Talents, all die Probleme, die China hat, all die großen Wunden der Menschheit, die uns immer mehr an den Rand des Abgrunds drängen – ist es nicht ein Herzensanliegen chinesischer Schriftsteller, die Nöte des Volkes zu beklagen? Meines wenigstens ist es.
Wir können und wir sollten nur auf uns selbst zählen. Niemand außer uns selbst kann uns wachrütteln.
Aber genug von all den deprimierenden Dingen. Reden wir über Shanghai!
Es wird dich freuen zu hören, dass wieder viele neue Restaurants in Shanghai aufgemacht haben. Klar, wer nach Shanghai kommt, der kommt hierher, um die Küche und das Nachtleben zu genießen. Am Bund, der berühmten Uferstraße, haben Ausländer jetzt neben dem Restaurantkomplex ‚Three on the Bund‘ noch ein ‚18 on the Bund‘ eröffnet. Diese neuen Gourmetkolonialisten führen die Tradition des frühen 20. Jahrhunderts fort – und die Shanghaier, die immer scharf waren auf alle importierten Dinge, stürzen sich mehr als bereitwillig auf alles Neue.
Außerdem haben wir wieder einmal einen schönen neuen Ort entdeckt, eine alte Brauerei des ungarisch-jüdischen Architekten L.E.Hudec, in einem Park, auch sie wird bald zu einem neuen Kneipen- und Restaurantkomplex umgebaut. Aber an gutem Essen hat es in dieser Stadt ja noch nie gemangelt. In dem Ort ‚Sieben Schätze‘ unweit von unserer Wohnung gibt es viele kleine Garküchen von Zugewanderten aus ganz China, da hat sich die chinesische Küche von Sichuan über Hunan bis Shandong in ihrer ganzen Vielfalt ausgebreitet. Auch wir beide haben dort schon getrunken, erinnerst du dich noch? Bald werden sie dort auch Boote haben, auf denen man Wein trinken, dazu Stücke der Kun-Oper hören und die Spaziergänger am Ufer beobachten kann.
Shanghaier Mädchen gehen dort spazieren, die sich die Landschaft anschauen und dabei von den Leuten aus der Landschaft heraus angeschaut werden, die sich ihrerseits die Landschaft anschauen. Kann es einen schöneren Nachtisch geben nach einem guten Mahl?
Wie sie leben, die jungen Shanghaier, die jungen Shanghaierinnen vor allem? Das ist in wenigen Worten kaum zu beschreiben. Die jungen Shanghaierinnen haben es eigentlich ganz gut getroffen. Mit all ihrer neuen Unabhängigkeit und ihren Karrierechancen brauchen sie sich nicht mehr an einen Mann anlehnen, meist sind sie es, die ihre Männer kontrollieren, den Geldbeutel inklusive. Sich einzuschmeicheln haben sie nicht nötig, aber im Schmollen sind sie große Klasse.
In Joint Ventures und ausländischen Betrieben haben sie wichtige und manchmal unersetzliche Positionen inne. Sie sind sehr gebildet. Ich habe es nicht oft erlebt, dass eine Frau aufgrund ihres Geschlechtes diskriminiert wird – außer natürlich in der Politik. Auch das war für mich ein wichtiger Grund, von meiner Heimat Shandong nach Shanghai zu ziehen.
Wir Auswärtige und Ausländer sind in Shanghai übrigens ziemlich beliebt. Es ist große Mode unter den Shanghaierinnen, sich einen Ausländer zu schnappen, auch wenn die Zahl der glücklichen Ehen sich dann doch in Grenzen hält. Aber auch das war in Shanghai schon früher so, wahrscheinlich hast du auch viele solcher Geschichten in den Werken früherer Schriftsteller oder in den Groschenromanen der ‚Shanghai Babys‘ gelesen (Diese Gruppe junger Autorinnen, die sich vor allem durch ihr gutes Aussehen auszeichnen und in den letzten Jahren so bekannt geworden sind, dass man von der „Literatur der schönen Schriftstellerinnen“ sprach. Ich habe mich jedes Mal geärgert, wenn mein Name in diesem Zusammenhang fiel.)
Die Auswärtigen haben mittlerweile fast das ganze Stadtzentrum von Shanghai besetzt, die wirklichen Shanghaier wurden an den Stadtrand und die Vorstädte gedrängt, wo die Verkehrsverbindungen sehr unpraktisch sind und von wo aus sie die steigenden Immobilienpreise beobachten und sich darüber die Haare zerraufen. Wann wohl die Shanghaier zurück ziehen dürfen in ihre alten Häuser mit den Shikumen-Steintoren? Im Moment sind Preise von 30.000 Yuan (3.000 Euro) pro Quadratmeter für eine Wohnung im Zentrum nichts Besonderes. Für euch mag sich das nach nicht allzuviel anhören – aber vergiss nicht, die Leute hier bekommen keine Euro, sondern Renminbi ausgezahlt. Und als ich 1992 nach Shanghai kam, da kostete der gleiche Quadratmeter noch 4.000 Yuan.
Auch die Autos werden täglich mehr, obwohl die Stadtregierung die Autoschilder versteigert und den Preis ständig erhöht, um ihre Zahl zu beschränken. Im Moment macht der Preis des Nummernschildes schon fast ein Drittel des gesamten Autokaufes aus. Hilft alles nichts.
Aber zurück zu den Frauen.
Geh zum Bund und schau dir die Kulisse an, diesen Wettstreit zweier Skylines. Hier, am Westufer des Pu-Flusses die versammelte Architektur der alten Kolonialmächte: Ordentlich, diszipliniert, imposant, prachtvoll. Dann schau hinüber nach Pudong, auf das neue Shanghai – und du siehst zehntausend Pferde in wildem Galopp, durcheinander, undiszipliniert, unabhängig, ohne Verbindung, chaotisch. Ich finde, das ist ein ganz gutes Symbol für den Vergleich zwischen dem Leben der Frauen von damals und jetzt. Mit dieser Meinung stehe ich wahrscheinlich ziemlich allein da. Aber spiegelt sich die geistige Verfassung eines Volkes nicht in vielen Aspekten unseres Lebens wider, in der Architektur wie in Kunst und Musik, auf der Bühne wie im Kino?
Der gierig unsere Zivilisation verschlingende Materialismus macht sich auf jeden Fall in geistigen Mangelerscheinungen bemerkbar – und im Falle der jungen Frauen von heute sind es besonders gravierende. Was Arbeit und andere Aspekte angeht, so haben sie heute viel mehr Möglichkeiten als früher. Aber innerlich werden sie immer ärmer.
Die einen verwandeln sich in Sklavinnen des Geldes, die anderen flüchten sich in die Liebe und Beziehung, aber beide kann nichts vor der inneren Ödnis retten. Ihr Fastfoodleben befriedigt sie nicht, wie könnte es auch: eine Nahrung ohne Seele und Gefühl kann keinen Körper mit Seele und Gefühl hervorbringen. Und so nehmen manche Drogen, andere prostituieren sich (oder leben ein Leben, das der Prostitution nahekommt), wieder andere tauchen in der leeren Welt des Internet ab.
Die Macken der Generation von Einzelkindern treten immer klarer zutage. Wer weiß, vielleicht wird man über uns bald nicht mehr als ein Land mit einer riesigen Bevölkerung reden, sondern als ein Land mit einer riesigen Zahl von vereinsamten Menschen.
Lieber Freund, ich hoffe, mein Brief erreicht dich in dem fernen Land. Schließ die Augen, atme die freie Luft, schmecke den Duft des Kaffees – und vergiss China!
Deine gute Freundin Ming Shui
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Dossier: China