Die himmlische Liebe
Erstmals gaben sich zwei Frauen in China das Ja-Wort. Noch fehlt der staatliche Segen, aber die Diskussionen der "Genossinnen", so nennen sich die Lesben, ist in vollem Gange.
Stellt man ihre beiden Namen aneinander, Wan Ru und Ming Shui (siehe Foto Artikel Brief an einen Freund), ergeben sie Sinn: „Wie klares Wasser.“ Das schrieb Wan Ru für Ming Shui: „Wie ich sie anbete – ihr Talent, ihren grausamen Eigensinn, ihre traurige Schönheit, ihren tiefen Blick, ihre erschütternden Berührungen. Wie ich mir wünsche, jede winzige Laune von ihr zu deuten, all ihre Gesichter zu erforschen. Ich habe nur noch den einen Wunsch: dass sie mich nie verlässt.“
Ming Shui antwortete mit einem Gedicht: „Dein geknickter Flügel / streicht an meinem nackten Herzen vorüber. / Bunt und prächtig / Du, der Schmetterling im Traum / Im Flügel keine Muster / Sondern fein gravierte Wunden.“
So lernten sie sich kennen: Wan Ru hatte Ming Shuis Telefonnummer herausgefunden und wählte noch in der gleichen Stunde. „Ruf in zehn Minuten nochmal an“, sagte Ming Shui, sie war beschäftigt. Genau 600 Sekunden später klingelte das Telefon erneut. Ming Shui wimmelte die Anruferin wieder ab. Und noch einmal. Den siebten Anruf nahm Ming Shui im Bett ihrer damaligen Freundin entgegen. „Ihre Hartnäckigkeit rührte mich“, erinnert sich Ming Shui. „Die gab einfach nicht auf.“ Ming Shui war neugierig geworden. Sie verabredeten sich in einem Café.
„Wan Ru sah mich nur an“, erzählt Ming Shui. „Sie sagte nichts und lächelte nicht.“ Wan Ru sagt: „Im Herzen lächelte ich zum Bersten.“ Ming Shui suchte sich gerade eine neue Wohnung. Sie mietete ein winziges Appartement im Zentrum Shanghais. Genug Platz für ein Bett und einen Computer. Und für mich, fand Wan Ru und zog ein.
Ming Shui, die Schöne, ist Publikum gewöhnt. Sie sprudelt wie eine neu geschlagene Quelle. Derweil hat Wan Ru den Kopf an ihre Schulter gelegt. Still ist sie. Ihre Augen können kaum von der Älteren lassen, ruhen auf deren von Strähnen gerahmtem, olivenförmigem Gesicht, auf den Wangen, durch die blaue Adern schimmern. Während Ming Shui erzählt, streichelt sie Wan Ru mit Blicken. Sie sagt: „Wan Ru war so zäh, dass ich vor ihr kapituliert habe.“ Sanft sagt sie es, fröhlich und dankbar.
Im August reisen die beiden in die alte Kaiserstadt Suzhou. Sie schlendern durch Gärten und an Kanälen entlang. Im Hotelzimmer knien sie voreinander nieder und schwören sich ewige Treue. Am 16. Oktober 1999, ein halbes Jahr nach ihrem ersten Rendezvous, heiraten sie. Für die Einladungen wählt Wan Ru den Spruch: „Mit dem Weichen das Harte bezwingen.“ Dem Mondkalender zufolge ist es ein segensreicher Tag für Eheschließungen.
Am Tag darauf schreibt die Zeitung, in Shanghai hätten 20.000 Paare geheiratet. „Da gab es zwanzigtausend Bräutigame“, sagt Ming Shui. „Und zwanzigtausendundzwei Bräute.“ An jenem Tag heirateten zum ersten Mal in China zwei Frauen einander. Ohne den Segen des Staates. Aber in Schleier und weißen Seidenkleidern. Als der Chauffeur des Brautwagens seufzt, in seinem ganzen Leben habe er keine so atemberaubenden Bräute gefahren, da muss er ausnahmsweise einmal nicht flunkern. „Wo sind denn die Männer?“, fragt er dann.
Mit 17 hatte sie der erste Kuss ereilt. Der Zwang zu Schreiben verzehrte sie bereits zu jener Zeit, sie war eine kleine Berühmtheit in ihrer Provinz – wie oft schon vereinten sich Talent, Schönheit und Intelligenz mit solcher Macht? Sie nahm ihre Umgebung im Sturm. „Überall war ich die Erste“, erinnert sich Ming Shui. „Nur in der Liebe blieb ich taub und blind.“ Da wurde sie geküsst. Von der besten Freundin, einem hübschen Mädchen mit einer Leidenschaft für klassische Literatur. Ming Shui war verwirrt und wütend. Hätte das nicht mit einem Mann geschehen sollen? Es blieb bei dem Kuss, und dann auch wieder nicht.
Ming Shui ging nach Shanghai an die Theaterakademie – die Erinnerung folgte ihr. Kein Tag, an dem sie nicht an das Mädchen dachte. Alle hatten Freunde, gingen aus, Ming Shui blieb in ihrem Zimmer und schrieb. Essays, Kritiken, Drehbücher. Sie war Klassensprecherin und Klassenbeste, und sie hasste es. Die anderen hielten sich fern von ihr. Ihre Aufsätze hatten Titel wie ‚Abrisszone‘ und ‚Grab‘. „Ich gehe bald ein“, vertraute sie einer Mitschülerin an. „Schon drei Jahre lebe ich ohne Sex. Ich bin eine verdorrte Pflanze.“ Eines Tages kam jene Freundin zu Besuch. Die beiden lagen auf dem Bett, Ming Shui nahm all ihren Mut zusammen: „Erinnerst du dich noch an damals?“ Sie schluckte: „Bist du ... so eine?“ Die Freundin erstarrte. „Nein!“, rief sie. Ming Shui brachte kein Wort mehr hervor, Hass und Liebe erfüllten sie zugleich.
Zehn Jahre. Dann wusste Ming Shui, dass sie Frauen liebt. Zehn volle Jahre. „Es liegt etwas im Argen in China“, sagt sie – „die Einführung in Liebe und Gefühle.“
Lange Zeit glaubte sie, im Irrgarten ihrer Emotionen zu verhungern und zu verdursten, ahnte nicht einmal, dass es so etwas gibt wie Homosexualität. „Keiner sagte einem, dass Liebe zwischen Frauen falsch ist – sie existierte schlicht nicht. Hätte mich einer gewarnt: ,Das ist eine Sünde!‘, dann hätte ich zumindest von der Möglichkeit erfahren und mich für sie entscheiden können.“
Ming Shui ist heute 29, nur fünf Jahre älter als Wan Ru, aber zwischen den beiden liegt eine ganze Generation. „Viel hat sich gebessert“, glaubt Ming Shui. Wan Ru sagt, sie habe bereits mit fünf Jahren gewusst, dass sie sich für Mädchen interessiert. Mit neun schnappte sie im Fernsehen das Wort ‚lesbisch‘ auf.
In China war die Diffamierung der gleichgeschlechtlichen Liebe nie so verwurzelt wie im christlichen Abendland. Anspielungen auf sie tauchen in Literatur und Theater durch zwei Jahrtausende hinweg immer wieder auf. Erst die Prüderie der Kommunisten machte dem den Garaus, auch wenn es nie ein Gesetz gab, das die Homosexualität verbot. Es brauchte kein Gesetz: Verdächtig war jeder, der sich von der Masse unterschied, das war im Sexuellen nicht anders.
In den letzten Jahren jedoch hat sich der Staat aus den Schlafzimmern zurückgezogen, und die Homosexuellen tasten sich vorsichtig ins Licht. Sie verabreden sich übers Internet, treffen sich in Bars wie in Pekings ‚Half and Half‘, geben Zeitschriften heraus. Und sie nennen sich frech tongzhi, ‚Genossen‘.
Himmel heißt das erste Magazin der Genossinnen, es erscheint seit 1999 in Peking, handkopiert. Lebenshilfe findet man dort, Antwort auf Fragen wie: „Sind alle Frauen lesbisch?“ („Nein“) oder: „Gibt es Heilung?“ („Es ist keine Krankheit“). Redakteurin bei Himmel ist eine 29-jährige Malerin mit dem Künstlernamen ‚Stein‘. „Wir müssen uns organisieren“, schrieb sie. „Wenn Frauen weiter Angst haben, sich öffentlich zu bekennen, dann wird sich nie etwas ändern.“
Stein hat ihre eigene Meinung zur Hochzeit von Ming Shui und Wan Ru. „Muss man den Heteros denn alles nachmachen?“, fragt sie. „Wie spießig!“ Ming Shui wiederum hat so ihre Vorstellungen von den Menschen im Norden. „Peking“, sagt sie, „das sind Diskussionen und Seminare.“ Und Shanghai? „Partys, Ausflüge, Essen.“ Kurz: „Die in Peking machen Revolution. Wir hier in Shanghai leben.“
Sie leben. Ohne Druck, ohne Angst. Sie haben unverschämtes Glück: gute Freunde und eine Mutter, die nach den ersten Tränen erkannte, dass sie nicht ihre Tochter Wan Ru verlieren, sondern eine zweite gewinnen würde. Ming Shui versteht es, ihr Herz zu reichen. Sie verstecken sich nicht. Zwei Mädchen, die Zärtlichkeiten austauschen, erregen in China kaum Aufmerksamkeit, auch nicht im Restaurant, bei Schmetterlingsküssen über Wasserschlange in Knoblauch und Sellerie mit weißen Lilien.
Wan Ru, Angestellte bei einer Fluglinie, und Ming Shui, Schriftstellerin, heirateten in einem französischen Restaurant, das früher eine Kirche war. Sie schritten über einen roten Teppich und tauschten Ringe aus vor Zeugen, die das mit ihren Unterschriften dokumentierten. Der Hochzeitsmarsch wurde gespielt. Sie küssten einander. Wan Rus Mutter hielt eine Rede. Die Bräute weinten schon beim Einmarsch, die Mutter die ganze Zeit. Das schwule Freundespaar hielt der Mutter die Hand und seufzte: „Wann werden wir je so etwas erleben?“ Als Wan Ru mit belegter Stimme den Schlager ‚Innigst Geliebte‘ sang, da heulten auch die Kellnerinnen.
Aber sie mussten ein verstecktes Hochzeitslokal suchen, um nicht aufzufallen. Ming Shui hat ihr Leben lang für die Medien gearbeitet, sie wollte sich der Meute nicht ausliefern. Auch scheiterte ihr Roman an der Zensur. Wegen solcher Passagen: „Wie blass sie ist. Ein marmorner Engel, dessen kühler Flügel um Wei Wens Nacken strich. Jetzt kam ihr leiser Atem näher, ein großer Bausch Watte, stieg höher, höher, immer höher, kreist … Nach Orchideen schmeckte ihr Atem, einhüllende Wärme, flockige Watte.“ So erschreckt man Lektoren in Shanghai.
Aber vielleicht klappt es im neuen Jahr in Peking. Sorgen macht sich Ming Shui nicht. „Gott hat mich gesegnet“, meint sie, die im Gelben Fluss getaufte Christin: das Talent, der Erfolg und nun – man merkt ihr das immer wieder hervorbrechende kindliche Erstaunen darüber an – die Liebe. Wan Ru sagt: „Ich habe lange dafür gebetet, dass Gott mir so eine Frau schickt.“ Dabei glaubte sie gar nicht an Gott. Bis sie Ming Shui traf.
Kai Strittmatter, EMMA 4/2005
Der Autor war bis 2004 Korrespondent der Süddeutschen Zeitung in China.
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