In der aktuellen EMMA

Cholitas erklimmen Gipfel

Elena Quispe in den Bergen. Foto: Jairo Andres Perez Mendez
Artikel teilen

"Hier bin ich frei”, sagt Elena Quispe, 6.000 Meter über dem Meeresspiegel auf dem Huayna Potosí, einem vergletscherten Berggipfel in der Hochgebirgskette Cordillera Real in den südamerikanischen Anden. Um sie herum nur Schnee und die Gipfel der Berge.
Frauen wie Elena haben im Hochgebirge eigentlich nichts zu suchen. Die Berge Boliviens sind Männerland. Die Grenze des Basislagers überschreiten indigene Frauen im Prinzip nicht. Es gibt zwar kein Verbot, auch keinen Aberglauben, nein, man traut es Frauen ganz einfach nicht zu, dass sie den Gipfel eines Berges erreichen könnten.

Doch die Cholitas trauen sich. Wie Bergsteigerinnen sehen sie wahrlich nicht aus. Ihre Tracht macht Frauenkörper rund, ihre runden Gesichter, dazu die dünnen Beinchen. Sie haben nicht den Körper einer Athletin. Dennoch gelten sie als stark genug, um 20 Kilogramm Ausrüstung für Touristen zum Basislager zu tragen. Dann aber endet der Weg für sie.

„Cholita“ war lange Zeit ein Schimpfwort für die indigene Bevölkerung. Bolivien ist das einzige Land Südamerikas, in dem indigene Gruppen die Mehrheit der Bevölkerung sind. Die Aymara, zu der auch Elena gehört, sind die älteste noch lebende Volksgruppe der Hochanden, Nachfahren der Tiwanaku-Hochkultur. Ihre Tänze und Lieder kommen aus einer Zeit vor dem Inka-Reich. Als Chola – oder (verniedlichend) Cholita – werden indigene Frauen in Bolivien und Peru bezeichnet, die sich nach einer in den 1920er Jahren aus Europa nach Südamerika importierten Mode mit vielen Unterröcken übereinander und Männerhüten kleiden.

Lange wurden Cholitas in Bolivien als minderwertig hingestellt, sie durften weder in Restaurants gehen, noch in Busse steigen. Gerade gut genug, um ein Kind nach dem anderen zu bekommen, den Haushalt zu führen und das Vieh zu hüten. Eisern bewacht von ihren Männern, die so gern vor Eifersucht platzen.

Auch Elena hütete als kleines Mädchen Lamas auf der Weide. Nachts schlief sie mit ihrer Mutter und ihren fünf Geschwistern auf dem Lehmboden ihrer Hütte. Mit 14 führte Elenas Weg in die Berge, um Geld für die Familie zu verdienen. Auch sie schleppte 20 Kilo Gepäck für Bergsteiger-Touristen bis zum Basislager.

Bei ihrem ersten Aufstieg sog sie alles ein: Den zersplitterten Berg, als hätte jemand einen riesigen Felsen in die Landschaft gerammt, den es beim Aufprall in Millionen Teile zerrissen hat. „Glitzernde Steine, manche schimmerten wie Pfützen aus Öl, andere waren geformt wie Herzen. Gräser und Blumen im Wind“, sagt Elena. Die Luft wurde dünner. Der Berg so groß, sie so klein. Immer weiter stieg sie auf, entfernte sich von der Welt, aus der sie kam. Und dann wollte sie mehr.

Immer wieder ging Elena in die Berge. Immer ein Stück höher. Irgendwann spürte sie, sie könnte es zum Gipfel schaffen. Und sie schaffte es. Oben auf dem Huayna Potosí stand sie, unter sich die Wolken, um sich schneebedeckte Gipfel und in sich das unbeschreibliche Gefühl von Freiheit.

Die folgenden Jahre wurden zur Höhenjagd. Elena wird zur „Cholita Escaladora“, zur Cholita-Bergsteigerin der ersten Stunde. Sie besteigt den Illimani, 6.439 Meter, den Nevado Sajama, 6.542 Meter, den Acotango, 6.052 Meter. Mit vier befreundeten Cholitas Escaladoras erklimmt sie schließlich den Aconcagua in Argentinien – mit fast 7.000 Metern der höchste Berg Südamerikas. „Wir Frauen in Pollera sind Kämpferinnen. Niemand kann uns aufhalten!“, rufen die Cholitas, wenn sie den Gipfel erreichen.

Die Tracht der Cholitas besteht aus einer Pollera, einem ein Meter langem Überrock. Darunter sind bis zu zehn Unterröcke. Obenrum tragen sie Bluse, Schultertuch und auf dem Kopf den Melonen-Hut. Die Cholitas Escaladora tragen Wanderschuhe und Helme.

Die „kletternden Cholitas“ haben in Bolivien Berge für Frauen versetzt. Sie sind Vorbilder geworden, haben Würde und Stolz für Frauen erkämpft und „Cholita“ als Ehrennamen zurückerobert. „Was unsere Männer können, das können wir auch!“

Über fünf Cholitas wurde 2019 ein Dokumentarfilm gedreht. Er zeigt, wie die Frauen in Argentinien jenen Aconcagua, den höchsten Berg außerhalb Asiens, besteigen. Elena ist eine von ihnen. 20 Tage steigen sie auf. Im Gepäck: natürlich ihre Polleras, Kokablätter, die Wiphala (die Flagge der indigenen Bevölkerung des Andenhochlandes) und die Nationalflagge Boliviens. Der Film zeigt – neben großartigen Aufnahmen des Aconcaguas – wie hartgesotten die Cholitas sein können.

Je näher die Frauen ihrem Ziel kamen, desto stärker wurde der Wind. Es fiel ihnen immer schwerer zu atmen und weiterzugehen. Was ihnen half: ein Ritual. Nach jeder langen Pause machten sie „Challa“. Dabei werden Kokablätter mit Erde und Ethylalkohol bedeckt und unter Steine gelegt. Dann nimmt jede Cholita einen Schluck von dem Ethylalkohol. So werden das Gebirge (Achachillas) und Mutter Erde (Pachamama) um Erlaubnis und Segen für die Reise gebeten. Beides haben sie bekommen. Schließlich hissten die Cholitas die Whiphala und die Nationalflagge Boliviens auf dem Gipfel des Aconcagua.

Ihre Tracht ist mittlerweile zum Symbol für den Start von Frauen geworden, die vielen Nachahmerinnen zeugen davon. Es gibt Cholitas, die in Tracht in den Boxring steigen oder Skateboard fahren. In La Paz gibt es die „Warmis sobre Ruedas“, die „Frauen auf Rädern“, Skateboarderinnen in Tracht.Elena Quispe hat das Bergsteigen inzwischen zu ihrem Beruf gemacht. Sie ist 25, hat keine Kinder, dafür die Ausbildung zum Guide. Am Wochenende führt sie TouristInnen in die Berge. Sie liebt es, die Geschichten der Frauen zu hören. Sie sagt: „Ich will einen Mann, der mich so liebt wie ich bin – jeder andere kann gehen.“

Einer, der passt, ist schwer zu finden in einem Land des Machismo, in dem viele auch ein Springmesser in der Hosentasche tragen. Drei von vier Bolivianerinnen wurden schon einmal von ihrem Mann geschlagen. Zwischen 2013 und 2020 starben 780 Frauen durch die Hand eines Mannes – eine der höchsten Femizidraten in ganz Südamerika. Weniger als ein Drittel der Täter wurde verurteilt; die meisten kauften sich frei, unterdrücken weiter ihre Ehefrauen, Schwestern, Töchter.

Doch Elenas Business läuft gut. Immer mehr TouristInnen bevorzugen eine Cholita vor den männlichen Guides. Und sie zahlen für eine Wanderung mit ihr auch gerne etwas mehr. Elena Quispe ist für Männer zur Konkurrenz geworden –und damit Teil eines Wandels. Immer mehr indigene Frauen wollen einen Beruf. Sie werden Politikerinnen, Journalistinnen, Geschäftsfrauen. Sie machen Auslandsreisen, vergolden ihre Zähne, lassen ihre Röcke in den feinsten Stoffen schneidern. Sie wandeln die weibliche Tracht zum Symbol für Unabhängigkeit und Stärke. Am „Weltfrauentag“ gehen tausende Bolivianerinnen für Gleichberechtigung auf die Straße, viele von ihnen in Cholita-Tracht.

Inzwischen geht Elena Quispe nicht mehr nur in die Berge, sie geht auch in Schulen. Sie zeigt den Schülerinnen ihren Helm und das Steigeisen und will ihnen vermitteln, dass sie mehr werden können als eine Hausfrau: Doktorin, Anwältin, Bergsteigerin.
Während die Mädchen zaghaft anfangen eigene Träume zu spinnen, verfolgt Elena Quispe einen ganz besonderen. Sie spart ihren Lohn und sucht nach Sponsoren. Alles für eine Reise nach Nepal. „Ich träume davon, den Mount Everest zu besteigen“, sagt sie. In einem Jahr will sie losgehen.

MAJA SCHIRRLE

 

Ausgabe bestellen
Anzeige
'
 
Zur Startseite