Christa Stolle für Menschenrechte
Es muss im dritten oder vierten Semester ihres Ethnologie-Studiums in Bonn gewesen sein, als Christa Stolle (Foto Mitte) nicht fassen konnte, was ihr Professor seinen StudentInnen da erzählte. Das Thema lautete: Genitalverstümmelung. „Und der erklärte, das sei eben ein wichtiges Initiationsritual für Mädchen, das man respektieren müsste.“ Das fand Studentin Stolle überhaupt nicht. Sie hielt die Tatsache, dass Millionen Mädchen Klitoris und Schamlippen abgeschnitten werden, für skandalös. Aber als die Studentin das sagte, handelte sie sich eine Menge Ärger ein. Ärger mit denen, die fanden, Ethnologen müssten „neutral“ sein und dürften den „Forschungsgegenstand“ nicht beeinflussen. Für Christa Stolle hingegen war klar: „Wir müssen der anderen Kultur natürlich auf Augenhöhe begegnen, aber einer so grausamen Tradition gegenüber neutral sein – das geht nicht!“ Und damit, seufzt Stolle, „begann der Stress mit den Kulturrelativisten, den ich bis heute habe.“
Aber es begann auch der Weg von Christa Stolle (Foto 6. v. re) von der empörten Ethnologie-Studentin zur kämpferischen Frauenrechtsaktivistin. Und zur Geschäftsführerin von Terre des Femmes, die sie jetzt seit fast 27 Jahren ist. TdF, gegründet 1981, nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn es um so genannte „Verbrechen im Namen der Ehre“ geht. Schon lange vor dem Mord an Hatun Sürücü im Jahr 2005 prangerte die Organisation Zwangsverheiratung und Ehrenmorde an. Via Lobbyarbeit trug sie entscheidend dazu bei, dass Genitalverstümmelung in Deutschland seit 2013 ein eigener Straftatbestand ist.
"Es gibt noch eine 'Vierte Welt' - das ist die der Frauen."
Im Herbst 2015, als die Flüchtlinge nach Deutschland strömten und so manche verheiratete 16- oder gar 14-Jährige darunter war, startete TdF die Petition „Frühehen stoppen!“ Ihre Forderung: Keine Eheschließung unter 18 Jahren! Über 100.000 Menschen unterschrieben, Terre des Femmes übergab die Unterschriften im Mai 2016 bei einem Fachgespräch im Justizministerium. „Wir hoffen, dass die Ehe ab 18 ohne Wenn und Aber bis Ende des Jahres durch ist“, sagt Christa Stolle im Ton der routinierten Gesetzesreformerin. Die 57-Jährige ist mit vier Geschwistern auf einem Bauernhof bei Oldenburg aufgewachsen, die Familie hielt Pferde und Hühner und betrieb eine Fischzucht. Aber auf dem katholischen Mädchengymnasium gab es „viele neue junge LehrerInnen, die uns den Blick in die Welt geöffnet haben“. Auf diese Welt war Christa neugierig. Und so begann sie, nach einem Jahr in den USA, ein Ethnologie-Studium in Bonn und Tübingen. „Und da öffneten sich mir die Augen“, erzählt Stolle. Sie sah auf die so genannte Dritte Welt und stellte fest: „Da gibt’s noch eine vierte Welt – und das ist die der Frauen.“
Nur eckte sie mit dieser Haltung an. Auch in Seminaren, die sich „feministisch“ nannten. Da ging es zum Beispiel um Menstruationshütten, in denen sich die Frauen während ihrer Periode verbergen mussten. „Da habe ich gefragt: Was soll denn daran bitte feministisch sein? Ich will, dass Frauen und Männer gleichberechtigt leben!“
Und so machte sich Christa Stolle auf die Suche nach einer Organisation, die das, was den Frauen passierte, als Menschenrechtsverletzung ansah und dagegen kämpfen wollte.“ Sie fand: Terre des Femmes. Das war 1985. Vier Jahre zuvor hatte die Hamburger Journalistin Ingrid Staehle die Frauenrechtsorganisation gegründet. Der an das Kinderhilfswerk Terre des Hommes angelehnte Name war Programm. Jetzt also die „Erde der Frauen“. Fünf Jahre lang engagierte sich Stolle ehrenamtlich in der Städtegruppe Tübingen. 1990 wurde sie Geschäftsführerin. Sie gründeten das Referat „Frauenrechte in islamischen Gesellschaften“ und starteten die Kampagne „Gewalt im Namen der Ehre“. Und schließlich, als immer mehr betroffene Frauen sich an sie wandten, eröffneten sie auch eine Beratungsstelle.
Heute hat die Organisation, die 2011 von Tübingen nach Berlin zog, 34 hauptamtliche Mitarbeiterinnen plus Ehrenamtliche in 24 Städtegruppen; der Verein hat 2.000 „Mitfrauen“ und 4.000 regelmäßige finanzielle FörderInnen. Auf eines ist Geschäftsführerin Stolle besonders stolz: „Wir finanzieren uns zu 70 Prozent aus Mitgliedsbeiträgen und Spenden. Das macht uns frei, denn wir müssen uns nicht reinreden lassen. Darauf habe ich immer gesetzt!“
"Wir haben es
an mehreren Fronten mit einem Backlash zu tun!"
Die innere Unabhängigkeit wird künftig womöglich noch wichtiger werden. „Wir haben es an mehreren Fronten mit einem Backlash zu tun“, sagt Stolle. Da ist auf der einen Seite der Islamismus. „Dem wird teilweise mit einer unglaublichen Toleranz begegnet, die die Tür für patriarchale Traditionen ganz weit öffnet“, ärgert sich die Frauenrechtlerin. Von der anderen Seite kommen die Rechtspopulisten mit ihrem rückwärtsgewandten Frauenbild. Und manchmal zwingt das Christa Stolle zu einem Spagat. So bat kürzlich das baden-württembergische Sozialministerium Terre des Femmes um eine Stellungnahme zur Vollverschleierung. Selbstverständlich ist die Frauenrechtsorganisation für ein Verbot von Burka und Niqab. Das Problem: Den Gesetzentwurf hatte die AfD eingebracht. Nun ging bei Terre des Femmes die Debatte los: Man dürfe mit der AfD keine gemeinsame Sache machen, fanden die einen. Die anderen, zu denen auch Christa Stolle gehörte, erklärten: „Das Verbot der Vollverschleierung ist richtig. Warum kommt der Gesetzentwurf denn nicht von einer anderen Partei?“ Genau das schrieb Stolle auch in die Stellungnahme.
Die Menschenrechtsarbeit für Frauen wird in den nächsten Jahren nicht leichter werden. Da ist es gut, dass „meine Männer meine größten Unterstützer sind!“ Irritation über den Plural ist nicht nötig. Christa Stolle, Mutter einer 25-jährigen Tochter, versteht sich einfach sehr gut mit ihrem Ex-Mann. Und mit ihrem aktuellen sowieso. Den Support kann sie gut gebrauchen. Denn: „Wir haben in den nächsten Jahren echt viel zu tun!“