Christine Lavant: Die Wiederentdeckung
Nacht. Eine kleine Dachkammer in einem kärntnerischen Straßendorf, da sitzt sie und schreibt. Tagsüber hat sie gebügelt, gekocht, Wasser geholt, Holz und Kohle hinauf- und den Ascheeimer die steile Stiege hinuntergetragen. Und eingeheizt. Und abgewaschen. Und gestrickt. Und beim Stricken gelesen. Die Hände mit den Nadeln unter dem Tisch, auf dem Tisch das Buch, dicht vor ihren Augen, weil sie schlecht sieht.
Mit dem Stricken verdient sie für sich und ihren Mann Josef Habernig, den verarmten Gutsherrn und brotlosen Künstler, den Lebensunterhalt. Jetzt ist ihr Mann schon zu Bett gegangen, schläft in Sichtweite. Tagsüber tippt sie, wenn sie zum Schreiben kommt, ihre Prosatexte und Briefe in die Schreibmaschine. Aber nachts stört das Tippen den Schläfer. Da schreibt sie ihre Briefe mit der Hand weiter. Raucht dabei eine Zigarette nach der andern.
Die Gedichtentwürfe schreibt sie grundsätzlich mit der Hand, in kleine Schulhefte, immer auf die rechte Seite, bis sie auf der letzten Seite des Hefts angekommen ist, dann dreht sie das Heft um, klappt es andersherum auf und schreibt wieder auf die rechte Seite; die vormals rechte ist nun eine linke und steht kopfüber. Wenn sie mit dem Schreiben aufhört, packt sie das Heft in eine Schuhschachtel, die unter das Bett geschoben wird.
Wieder und wieder überarbeitet sie die Entwürfe, variiert manche Zeilen, die dann zum Baustein werden für ein anderes Gedicht. Manchmal schreibt sie bis zu zehn Gedichte an einem Tag, manchmal vergehen Monate oder sogar Jahre, bis ein Gedicht seine in ihren Augen gültige Form hat. Dann wird sie es „abklopfen“, mit der Maschine abtippen. Und das Blatt vielleicht einem Brief an einen Freund, eine Freundin beilegen. Und das Heft dann verbrennen. Und auch alles verbrennen, womit sie nicht zufrieden ist. Sie habe „schon Hunderte von Gedichten verbrannt“, schreibt sie in einem Brief.
Manche Gedichtentwürfe und Gedichte versteckt sie auch zwischen anderen Papieren. Damit ihr Mann sie nicht findet, mit dem sie sich beinahe fünfundzwanzig Jahre hinweg die Dachkammer, diesen einzigen Raum, teilt. Und auch nach seinem Tod, als sie längst schon Preisträgerin des Großen Österreichischen Staatspreises und zweifache Georg-Trakl-Preisträgerin ist, als der junge Thomas Bernhard und die Lampersberger zu ihren Freunden zählen, als sie mit dem Philosophen und Religionswissenschaftler Martin Buber eine Brieffreundschaft hat und mit der späteren Nobelpreisträgerin Nelly Sachs im Austausch steht, auch da und bis ganz zuletzt wohnt sie, mit einer kurzen Unterbrechung, in dieser Dachkammer in ihrem Geburtsort St. Stefan. Hat sie nicht auch als Kind mit den sechs Geschwistern und den Eltern in einer Stube gewohnt?
Sie, das ist Christine Lavant, geborene Thonhauser, Tochter eines Bergarbeiters und einer Flickschneiderin, neuntes und letztes Kind ihrer Eltern. Zwei Geschwister waren kurz nach der Geburt gestorben. Und auch sie war von Geburt an gezeichnet von schweren Krankheiten: Skrofeln, Tuberkulose, Lungenentzündungen, war bedroht vom Ertauben, Erblinden, nur durch eine radikale Röntgenbehandlung kam sie mit dem Leben davon.
Dann der Schock, mit Schulantritt von den Gleichaltrigen wegen ihrer Schwäche und ihres Aussehens gehänselt und gequält zu werden, aufgefangen nur von der Fürsorge und Liebe der Schwestern und vor allem der Mutter. Das besessene Lesen schon des Mädchens, das besessene erste Schreiben, das Irren. Das Irrsein. Zwanzigjährig lässt sie sich 1935 nach einem missglückten Selbstmordversuch freiwillig für einige Wochen in die Klagenfurter Psychiatrie einweisen. Die Kosten für diesen Aufenthalt muss, weil die Familie zu arm ist, die Gemeinde übernehmen.
Als ein Verlag, der an einem Buchmanuskript zunächst interessiert scheint, doch wieder abspringt, vernichtet sie alles – und will das Schreiben eigentlich ganz aufgeben. Bis auf zwei, drei in Zeitungen veröffentlichte Gedichte ist deshalb aus dieser ihrer Frühzeit nichts erhalten.
Drei Jahre später sterben kurz hintereinander die Eltern. Das familiäre Quartier, das heißt, die eine Stube, in der sie, zusammen mit den Eltern und den Geschwistern, bisher gelebt hat, wird ihr gekündigt, sie muss in ein elendes Zimmer umziehen und verdient sich von da an als Strickerin den Lebensunterhalt.
1939 heiratet sie den sechsunddreißig Jahre älteren Josef Habernig – gegen den Widerstand einer ihrer Schwestern, die sie, um die Heirat zu verhindern, noch einmal in die „Landesirrenanstalt“ einweisen lassen wollte. Ein ungeheures Glück, dass es dazu nicht kommt, denn ab 1940, nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich, greift das sogenannte Euthanasie-Programm der Nazis auch in Österreich. In Kärnten kursieren bald Gerüchte über die Ermordung von Patienten. In der Klagenfurter „Irrenanstalt“, an die Christine Lavant sich noch gut erinnert, gehören die Gemeindearmen zu den ersten, die ermordet werden. Und sie, eine Strickerin, die Autorin sein will? Wirklich verrückt. Das Verstummen als Autorin verschafft ihr unter diesen Umständen Sicherheit.
Erst im Herbst 1945, nach Kriegsende, beginnt die inzwischen Dreißigjährige erneut mit dem Schreiben. Allein im ersten Jahr schreibt sie ihre ersten drei längeren Erzählungen: „Das Kind“, „Das Krüglein“ und „Erzählungen aus dem Irrenhaus“. Und Hunderte von Gedichten. 1948 erscheint „Das Kind“, ab 1950 stellen sich erste Erfolge ein, es ist das Jahr, in dem sie mit ihrem Mann endlich umziehen kann – in besagte Dachkammer im Haus einer befreundeten Familie.
Bei einer Künstlertagung Ende 1950 dann geschieht ihr das Lebensereignis: Sie begegnet dem Maler und Intellektuellen Werner Berg, der die große Liebe ihres Lebens wird. Er bewirtschaftet mit seiner Frau und den fünf gemeinsamen Kindern einen Bauernhof in Unterkärnten. Ganz bewusst hat er die Entscheidung für das harte Leben als Selbstversorger, oft am Rande des Ruins, getroffen, wollte sich „dem Leben ausliefern“, um „das Malen daraus zu gewinnen“. Während der fünf Jahre, die die ebenso intensive wie schwierige Beziehung Werner Bergs und Christine Lavants andauert, entstehen Lavants wichtigste Gedichte – und Bergs eindrucksvolle Porträts von ihr. Den dunklen Blick auf die Welt teilen sie, die Schwermut und nicht zuletzt auch die Skepsis gegenüber dem arrivierten Kunstbetrieb, seinen Moden, seinen Eitelkeiten. Weit über tausend Seiten schreiben sich die beiden Liebenden, manchmal sind es zwei oder drei Briefe pro Tag.
Mit Werner Berg berät die Lavant die Auswahl der Gedichte für ihren ersten Gedichtband, mit ihm bespricht sie Verlagsangelegenheiten und Alltagssorgen. Für ihn schreibt sie, an ihn schickt sie unzählige Gedichte – Gedichte einer Liebenden und einer, die mit der Unmöglichkeit dieser Liebe hadert.
Fünf Jahre kommen die beiden nicht voneinander los, bis Werner Berg 1955 schließlich einen Selbstmordversuch unternimmt, und sie den Kontakt zu ihm, der nur knapp überlebt, auf Bitten seiner Ehefrau abbricht. Danach hört sie mit wenigen Ausnahmen auf, literarisch zu schreiben. Und so kommt es, dass beinahe alle Texte, die es von ihr gibt – an die 1.500 Seiten Prosa und ungefähr 1.500 Gedichte –, in diesen nur zehn Jahren zwischen 1945 und 1955 entstanden sind. „Menschen können gut ohne Gedichte sein, aber ein Gedicht nicht ohne Menschen“, schreibt sie in einem Brief. Ihr Schreiben ist Zeugnis ihrer Einsamkeit, ihrer lebenslangen Suche nach einem ebenbürtigen Gesprächspartner, nach Antwort, nach Austausch, nach Zuwendung.
Weder die Armut, noch die körperlichen, noch die seelischen Leiden erklären allerdings die enorme Sprachmächtigkeit dieser Autorin, die uns in ihrer Lyrik, deutlicher noch als in ihren Prosawerken, entgegentritt. Zeit ihres Lebens hat Christine Lavant nur die Grundschule besucht, denn der fünf Kilometer lange Fußweg zur weiterführenden Hauptschule war zu anstrengend für sie.
Sicher, gelesen wurde in Lavants Familie immer, schon der Großvater mütterlicherseits sei „mit ’m Romanbüchl in der Hand“ gestorben, hat sie in einem Interview erzählt, auch die Mutter und die Schwestern hätten gelesen, „beim Türkenschälen [d. i. Maiskolbenschälen], bei allem haben wir gelesen, und natürlich ist der Türkenhaufen nie kleiner geworden.“ Was gelesen wurde, erfahren wir aus einem Brief: „Größtenteils Kitsch, was aber meines Erachtens kein Schaden ist.“
Als das kränkliche, dünne Mädchen mit zwölf Jahren zur Kur an die Ostsee geschickt wird, beginnt es, einen „Seelenwanderungsroman“ zu schreiben. Ihr Kommentar dazu: „Um Gottes Willen, ich kann doch nicht Sandburgen bauen, wenn ich zwölf Jahre alt bin!“ Mit siebzehn fällt ihr zufällig ein Buch von Knut Hamsun in die Hand, das beginnt so: „Ja, wir sind Landstreicher auf Erden. Wir wandern Wege und Wüsten, zuweilen kriechen wir, zuweilen gehen wir aufrecht und zertreten einander.“ Das ist der Moment, in dem ihr klar wird, was Sprache vermag. „Und von da an mochte ich eigentlich alles andere nimmer.“
Christine Lavant leiht sich unzählige Bücher aus der „Johann Offner’schen Bücherei“ in Wolfsberg aus, auf Empfehlung der Bibliothekarin entdeckt sie im Herbst ’45 Rilke, dessen Lektüre sie zutiefst trifft und ihr das Tor zum eigenen lyrischen Schreiben aufstößt. „Ich hab gedichtet Tag und Nacht.“ Allein bis zum Frühjahr 1946 entstehen neben der Erzählung „Das Kind“ an die 100 Gedichte. Nach dem Krieg eröffnet sich ihr auch die Welt der modernen amerikanischen Literatur, als von der Besatzungsmacht regelmäßig ein sogenannter „Bücherbus“ über Land geschickt wird.
„Dieser blaue Autobus ist also der Rabe, der mich allmonatlich mit ein bisschen Brot versorgt, aber nimmer lange, denn ich habe den ganzen Autobus schon ausgelesen. Ich kann nämlich nicht schlafen. Auch wenn ich Schlafpulver nehme, kaum ein paar Stunden nach dem Morgengrauen. So muss ich Nacht für Nacht aufsitzen und stricke und lese dabei, da geht so ein Autobusvoll bald drauf.“ Aber auch die umfassende literarische Bildung, die sie sich so erwirbt, erklärt keineswegs die Kraft und die traumwandlerische Sicherheit, mit der sie sich dieses Instrumentariums bedient.
Eines der Grundthemen, die ihre Prosa ebenso wie ihre Lyrik durchziehen, ist ihre Herkunft aus ärmsten Verhältnissen und die dafür gesellschaftlich eingeforderte Haltung der Bescheidenheit und Demut. Diese Rolle passt ihr nicht, sie schreibt sich davon frei. Aber die Not des alten Lebens hat ihr auch den Blick geschärft für leeres Geschwätz, hat den vitalen Humor hervorgebracht, der vor allem in manchen ihrer Briefe und auch hier und da in den Gedichten durchscheint, und der ihr hilft, die eigene Schwermut in Schach zu halten. In einem der frühen Briefe, Ende 1946, heißt es: „Solange ich schreibe, bin ich glücklich, wenn es auch oft mit solchen Schwierigkeiten verbunden ist, von denen sich Wenige eine Vorstellung machen können. […] Aber das Schreiben ist halt das Einzige, was ich habe. Es ist meine schmerzhafte Stelle u. zugleich die heilende Salbe. Ich lache und weine darinn bete an u. verspotte, wage und spiele bin hochmütig und großartig und schließlich elend und erniedrigt.“
1948 erscheint unter dem selbstgewählten Pseudonym „Christine Lavant“ ihr erstes Buch. Ab 1950 bekommt sie vom Land Kärnten eine sogenannte „Künstlerhilfe“ zugesprochen, die ihre Existenz deutlich erleichtert, um die sie sich aber jedes Jahr aufs neue bewerben muss. Und was, wenn das literarische Schreiben einmal versiegt? Wird dann das Geld ausbleiben, und, noch wesentlich schlimmer, werden die Freunde ausbleiben? Denn immer wieder hat sie sich trotz des engen sozialen Umkreises, der ihr als „Proletin“, wie sie sich selbst nennt, vorgezeichnet war, mit zum Teil verzweifelter Intensität gebildete Gesprächspartner und geistige Förderer gesucht – und gefunden. Darunter zuerst den Klagenfurter Augenarzt Adolf Purtscher, der dem neunjährigen Mädchen damals das Augenlicht rettete. Die Frau dieses Arztes wird es sein, die ihr 1946 die erste Schreibmaschine schenkt. Auch mit dessen Schwester, Nora Purtscher-Wydenbruck, die in England lebt und sich unter anderem als Übersetzerin von T. S. Eliot einen Namen macht, freundet sie sich an und steht mit ihr über Jahre hinweg in brieflichem Austausch, ebenso wie mit der Lyrikerin Ingeborg Teuffenbach und dem Trakl-Entdecker und -Förderer Ludwig von Ficker.
Zu keinem Zeitpunkt aber wird ihr neues geistiges Umfeld ihr selbstverständlich sein. An den Kritiker Emil Lorenz schreibt sie in einem Brief: „Wenn ich nicht mehr dichten kann, dann habe ich auch nicht das Recht, Menschen zu treffen, welche ich als Chr. Lavant kennengelernt habe. Das ist doch klar? Was kann euch an dem armseligen Strickweiblein liegen? Mit diesem habt ihr gar nichts gemein. Dieses hat ein schlechtes, zusammengeschrumpftes Stück Leben, den abgenutzten Lappen eines von Haus aus wertlosen Lebens. Niemand von euch würde diesen Lappen auch nur mit Handschuhen anfassen wollen, so ist es.“
Bis zum Tode hält sie die Spannung aus zwischen dem höchst bescheidenen Leben, das sie in St. Stefan führt – und der Tiefe ihrer Imagination, durch die sie sich als den größten Dichtern ihrer Zeit ebenbürtig erweist. In der Sammlung „Seventeen Modern German Poets“, die 1971 bei Oxford University Press erscheint, stehen ihre Gedichte neben Gedichten von Ingeborg Bachmann, Gottfried Benn, Johannes Bobrowski, Bertolt Brecht, Paul Celan, Ernst Jandl, Hans Magnus Enzensberger und Nelly Sachs.
Fremd nach beiden Seiten hin zu sein, bleibt also ihre Grunderfahrung.
Einerseits entfremdet dem Dorf: durch ihre kleinen Extravaganzen – das Ketterauchen als Frau, die nächtlichen Spaziergänge („für einen Landmenschen, [einen], der am Land aufwächst, ist es ja beinahe eine Todsünde, spazieren zu gehen, ja? Das kann man einfach nicht, das tut man nicht. Also bin ich halt abends spazieren gegangen und da hab ich den Mond beobachtet.“), das Sitzen im Schneidersitz auf ihrem Kanapee, wenn sie Besuche empfängt, vor allem aber natürlich durch ihr Schreiben. Viele ihrer Gedichte sind erst posthum erschienen, wohl weil sie zu radikal waren, zu schamlos, zu lästerlich nach damaligen Begriffen. Mit dem Prosaschreiben hatte sie übrigens schon 1952 aufgehört, nachdem sich die Dorfbewohner in ihrer Erzählung „Das Krüglein“ allzu erkennbar abgebildet fanden und verärgert waren.
Nach der anderen Seite hin aber kennt sie eben auch das Fremdsein in der Welt der bürgerlichen Künstler und Gebildeten. Zeit ihres Lebens wird sie die Schwester all derer bleiben, die im Elend sind. Der Armen, Ausgestoßenen, Kranken. Denen es an der Kraft, an der Möglichkeit, an Unterstützung, am Selbstbewusstsein mangelt, um Gehör zu erlangen oder das Leiden gar in eine Anklage zu verwandeln, so wie es ihr durch ihr enormes Talent und ihren zähen Willen gelungen ist.
Dieses Fremdsein nach beiden Seiten hin ist es wohl, das ihr die zum Schreiben nötige Distanz gibt und ihr originäres Denken hervorbringt. Allerdings braucht eine, die unter diesen Umständen nicht zerrissen werden will, von der einen oder von der anderen Seite, braucht so eine vor allem Mut. Und Mut ist es, der das lyrische Werk prägt, das Christine Lavant hinterlassen hat – verschiedene Arten von Mut.
Da wäre zum einen der Mut, die Dinge in radikaler Schmucklosigkeit beim Namen zu nennen und dadurch gerade in Zuständen, in denen sie Machtlosigkeit empfindet, ihre Souveränität wiederzugewinnen. Oft blickt sie, bei aller Verzweiflung, auch mit Frechheit und beißendem Humor auf diejenigen, die sie in die Schicklichkeit, in die Stummheit zurücktreiben wollen.
Es ist auch der Mut, Anklage zu erheben gegen leere Formeln katholischen Glaubens. Die Dichterin bescheidet sich nicht in Demut, wenn die versprochene Hilfe Gottes immer wieder ausbleibt, sondern fordert ein, was dem leidenden Menschen versagt wird. Von „Fackeln der Erde“ spricht sie zu ihm, dem Gott, von „schweren Signalen“, die ihm die Menschen senden und die er erkennen möge:
Nicht jedes heißt: Hilfe!
Es sind von den Feuern sehr viele
hochfahrend und furchtlos
und manche rollen wie Räder
sehr weit in die Nacht deiner Nähe.
Lies unsere Zeichen!
Der erstaunlichste Mut, der uns in den Gedichten von Christine Lavant begegnet, ist ihr Mut zur universalen Perspektive, das Aufreißen der vermeintlich kleinen, engen, eigenen Welt hin zum existenziellen Fragen. Die selbst oft genug und immer wieder erfahrene Todesnähe hat ihren Blick geschärft für die ausgesetzte Stellung des Menschen auf halber Strecke zwischen All und Erdinnerem. Zwischen dem Blick zum Himmel – und dem Grab. Um darüber zu schreiben, macht sie, ebenso furchtlos wie meisterhaft, die Hochsprache zu ihrem Instrument, allerdings nicht ohne diese Sprache immer wieder zu messen und zu brechen an dem, was ihr konkret begegnet: den alltäglichen Handgriffen, dem Kreislauf der Natur, den vier Elementen Feuer, Wasser, Erde, Luft, den Pflanzen und Tieren, vor allem aber dem eigenen Körper – dem Schädel, den Augen, dem halb ertaubten Gehör, in dem die „Glocke“ klingt, den „verdorrten“ Händen. Bestattung
Zu Diensten sind ihr dabei auch die Geschichten der Bibel ebenso wie dörfliche Sprachspiele: Rätsel, Abzählverse, Legenden und Märchen. Der soziale Druck, das, was sie empfindet, nur verschlüsselt darzustellen, und die äußerliche Beschränkung des ländlichen Lebens stellen für sie keine Begrenzung dar, sondern treiben sie nur desto konsequenter in die Tiefe des Ausdrucks. Dass das Größte im Kleinsten enthalten ist, dass wahrhaftige Sätze auch am Straßenrand wachsen können und dabei mitunter aussehen wie Unkraut, weiß Christine Lavant in jedem einzelnen ihrer Gedichte. Sprachgewalt ist eben keine Frage der eitlen Attitüde. Gutes Schreiben keine Technik, sondern eine Haltung.
Der Text ist das gekürzte Nachwort aus: „Christine Lavant. Seit heute, aber für immer. Gedichte“, ausgewählt von Jenny Erpenbeck (Wallstein).
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