Claire Waldoff: Geliebte Revolverschnauze
Geschert hat sie sich am liebsten um gar nichts. Mädchen dürfen nicht Fahrradfahren? Nur munter rinn in die Pedale! Mädchen prügeln sich nicht mit Jungs? Immer feste druff! Mädchen verderben sich den Charakter, wenn sie sich bilden? Was ist Charakter!
Konventionen schienen für Claire Waldoff von klein auf einzig dazu da, gesprengt zu werden – und zu sprengen gibt es genug, als Clara Wortmann (so ihr eigentlicher Name) 1884 in Gelsenkirchen geboren wird. Nicht nur das Korsett, das um den weiblichen Körper geschnürt ist, schreit nach einer Prise Dynamit, sondern auch und vor allem jenes, das die Köpfe einzwängt. Soll das größte Lebensversprechen einer Frau wirklich darin bestehen, eine Ehe im Dienst des Mannes zu führen und dabei eins, zwei, drei, ach, am besten – so wie Claras Mutter – ganze 16 Kinder auf die Welt zu bringen?
Clara durchschaut schnell: Das sind keine Perspektiven für sie. Gerade einmal 14 Jahre alt, schreibt sie einen Brief an den Verein Frauenbildungs-Reform in Hannover, um sich an einem der ersten Mädchengymnasien des Deutschen Reichs zu bewerben. Gegründet worden war die Schule von der Frauenrechtlerin Helene Lange.
Abitur will Clara machen! Medizin will sie studieren! Neue Lebensräume will sie sich eröffnen! Und so zieht sie alleine nach Hannover, büffelt Griechisch, Latein, Mathematik, ganz im Geiste von Helene Lange: Gleiche Bildung für beide Geschlechter – das ist ganz in Claras Sinn. Später wird sie in dem von ihr vertonten Lied „Das moderne Mädel“ singen: „Ich sag es ganz frei, die Zeit ist vorbei: Wir spielen nicht mehr Heimchen am Herd.“
Dass man sich in eine vorgegebene Rolle nicht einfach fügen muss, das lernt Clara allerdings nicht nur von Helene Lange, sondern auch von den TheaterschauspielerInnen, die sich im hannöverschen Café Kröpcke treffen und an deren Stammtischdebatten die Gymnasiastin immer öfter teilnimmt.
Es dauert nicht lange, bis Clara die Schule hinschmeißt, ihre roten Zöpfe in einen kessen Bubikopf verwandelt, sich von Clara Wortmann in Claire Waldoff umtauft – und zur Bühne geht. An den Provinzschmieren von Bad Pyrmont und Kattowitz gibt sie die naive Sentimentale ebenso wie die derbe Soubrette – all das aber letztlich nur, um schließlich ihre eigene Rolle zu erfinden. Eine, die ihrem Wesen so sehr entspricht, dass sie sie gar nicht spielen muss: Als lautstarke, unbestechliche Göre landet sie 1907 ihren Durchbruch. Auf einer Kabarettbühne in Berlin.
Femme fatale oder femme fragile – solche Kategorien des 19. Jahrhunderts hebelt die Waldoff in ihrer selbst gewählten Rolle kurzerhand aus. Exemplarisch zeigt sich das an einem ihrer frühen Couplets, „Nach meine Beene is ja janz Berlin verrückt“, das später auch Marlene Dietrich in ihr Repertoire aufnimmt. Was die Dietrich mit verführerischer Stimme als erotische Nummer präsentiert, knallt die Waldoff mit subversiver Ironie dem Publikum vor den Latz. Dass sie keine langen Beine hat, kann jeder sehen. Aber genau das macht es aus: der Widerspruch. Und die Dreistigkeit. Im Text des Chansons tut sie so, als sei sie eine männerverschlingende Lulu, unwiderstehlich in ihrer erotischen Wirkung – dabei signalisiert sie genau das Gegenteil: Mit ihrer ganzen Gestalt macht sie klar, dass sie nicht im Traum daran denkt, ihre Weiblichkeit in den Dienst männlicher Verführung zu stellen. Das Theater um die erotische Frau, das die Dietrich eifrig mitspielt, entlarvt die Waldoff als Männerfantasie.
Ähnlich ungeschminkt verfährt sie in ihrer Bühnenpräsenz. Die Virtuosität, die die Tingeltangel-Soubretten der Zeit in die Kunst des kokettierenden Augenaufschlags investieren, verweigert sie. Sie trägt kein Röckchen, mit dessen Saum sie vielsagend wippen kann, ihre Hüften balzen nicht. Stur wie ein Stier haut sie ihr Lied ins Publikum. Sie singt, ohne sich anzubiedern, verwehrt es, eine Projektionsfläche zu sein – und greift stattdessen lieber an.
Insbesondere mit ihrem Gesang. Denn die Waldoff schmettert. Röhrt. Posaunt. In jedem Fall lautstark. Und anstrengend, so bar jeglichen Wohlklangs. Unter streng musikalischen Gesichtspunkten betrachtet ein Fall fürs Übezimmer: Wo bleibt die dynamische Ausdifferenzierung, Frau Waldoff? Wo die Nuancierung im Timbre? Müssen Sie immer so brüllen? Ja, sie muss! Es ist Teil ihres künstlerischen Profils. Und ihres Profils als Frau. Lauter sein als die Männer – nichts leichter als das.
Die lyrischen Ichs, aus deren Perspektive sie ihre Lieder vorträgt, sind Dienstmädchen, Köchinnen, Verkäuferinnen. Sie philosophiert über die Liebe, den Geschlechtsakt, das Verlassenwerden. Sie macht Vorwürfe („Wejen dir hab ick meine jute Stellung bei Tietz aufgegeben“) und Vorschriften („Max, nimm dir doch den Schnurrbart ab!“).
Genauso gerne wie aus Frauen- singt Claire aber auch aus Männerperspektive, denn überhaupt liebt sie es, zwischen den Geschlechtern zu switchen. Nachdem die wilhelminische Zensur ihr 1907 einen Strich durch den Plan gemacht hat, in einem englischen Herrenanzug aufzutreten – den sie eigens für sich selbst hat schneidern lassen – darf sie es dann doch, als sie berühmt ist. Und als in den Zwanzigern der androgyne Stil zur Mode wird, hat die Waldoff all das längst verwirklicht, ohne viel Aufsehen darum zu machen.
Ebenso wie sie auch ihre Liebe zu Frauen einfach gelebt hat. Obwohl im wilhelminischen Berlin just diskutiert wird, den Strafparagraphen 175 auch auf Beziehungen zwischen Frauen anzuwenden, scheut Claire Waldoff sich nicht, öffentlich zu ihrer großen Liebe, Olly von Roeder, zu stehen. Mit ihr wird sie bis an ihr Lebensende zusammenbleiben. Als die Mode endlich nachzieht und die Lesbe in der Weimarer Republik en vogue ist, sind die beiden Frauen schon seit Jahren ein offizielles Paar.
Ihre unerschütterliche Liebe verkraftet es sogar, dass die Waldoff in den Zwanziger Jahren angeblich eine Affäre mit Marlene Dietrich hat. Eine Sensation, die sich wie ein Brandfeuer durch Berlin hindurchmunkelt: Gemeinsam werden die beiden so ungleichen Frauen auf Künstlerbällen gesehen, die Waldoff als Oscar Wilde verkleidet, die Dietrich als Blue Boy. Und man glaubt zu hören, dass die Dietrich die dunkle Färbung ihrer Stimme einzig und allein dem Gesangsunterricht der Waldoff zu verdanken habe. Was wirklich geschah, wird wohl ein Geheimnis bleiben – die Waldoff jedenfalls hatte es schnell satt, immer wieder auf die Chose angesprochen zu werden. Mit den Worten „Marlene und ich sind längst eine vergangene Kamelle“, wies sie neugierige Journalisten zurecht.
War Claire Waldoff eine Frauenrechtlerin? Na klar, was denn sonst! Viele Facetten des Feminismus finden sich in ihrem Liedrepertoire: Einerseits ganz offensichtlich, wie ihn ihr Friedrich Hollaender in „Raus mit den Männern ausm Reichstag!“ auf den Leib geschrieben hat; ein bissiger Kommentar auf das erst 1919 eingeführte Frauenwahlrecht: „Raus mit den Männern ausm Reichstag, // und raus mit den Männern ausm Landtag, // und raus mit den Männern ausm Herrenhaus, // wir machen draus ein Frauenhaus!“
Ihre Chansons spiegeln aber auch eine subtilere Emanzipation, so etwa die aufkommende Genderthematik der Zwanziger Jahre. In „Hannelore vom Halleschen Tor“ beschreibt sie das Verschwimmen der Geschlechtergrenzen, das Spiel mit den Identitäten: Hannelore geht mit Männern und Frauen ins Bett, keiner weiß, welches Geschlecht sie selbst hat. Dass die Sängerin Peaches „Hannelore“ jüngst in einer Cover-Version herausgebracht hat – samt fulminantem Transgender-Video – zeigt, wie aktuell dieses Chanson bis heute ist.
Und, kaum zu glauben, die Waldoff röhrte auch schon gegen Schönheitsoperationen: Im Körperkult der Zwanziger Jahre erlebt die chirurgische Kunst, die sich ausgerechnet durch die Verwundeten des Ersten Weltkriegs verfeinerte, erhöhte Nachfrage. Fettabsaugung? Nasenkorrektur? Busenvergrößerung? Ohne die Waldoff! Sich für einen Mann zu verändern, kommt nicht in die Tüte, wie sie in „Wegen Emil seine unanständige Lust“ unmissverständlich kundtut: „Wie ick bin, hat der Emil schon immer jewußt, // Da hätt er mir ja nich nehmen jemußt.“
Mit Aufkommen der Nazi-Zeit erhält Claire Waldoff ein Auftrittsverbot. Es wird aber nach kurzer Zeit wieder rückgängig gemacht. Waldoff ist einfach zu beliebt beim Volk! Dennoch ist sie als Feministin und Homosexuelle scharf im Visier der Braunhemden, allzu deutlich konterkariert sie die faschistische Ideologie der Frau als Mutter. „Ich sehe es als Katastrophe an, wenn wir die Frauen so vermännlichen, dass mit der Zeit der Geschlechtsunterschied, die Polarität verschwindet“, tönt Heinrich Himmler. Denn: „Dann ist der Weg zur Homosexualität nicht weit.“ Ab 1933 wird die Verschärfung des Paragraphen 175 vorangetrieben, in den einschlägigen Nachtclubs werden Razzien durchgeführt, so genannte „Säuberungsaktionen“.
Claire Waldoff versucht sich zu arrangieren, mogelt sich durch, deutscht die Namen ihrer jüdischen Komponisten ein, wie die Nazis es von ihr verlangen. Und drückt vielleicht das ein oder andere Auge zu sehr zu, anstatt – wie viele andere aus dem Kabarett – das Land zu verlassen. Emigration jedoch kommt für sie nicht in Frage, zu eng sind ihre Lieder an die deutsche Sprache gebunden, zu sehr braucht sie das Singen.
Als sich ihre Auftritte immer weiter reduzieren, weil ihr offensives Auftreten ein Dorn im Auge von Goebbels ist, verlässt Waldoff Ende der Dreißiger Jahre ihr geliebtes Berlin und zieht mit Olly von Roeder in ein kleines Sommerhäuschen im tiefsten Bayern.
Nach Ende des Krieges interessiert Berlin sich nicht mehr für sie; in der Welt des Rock ’n’ Roll wirken ihre Schlager anachronistisch. In den wenigen Radio-Interviews, die aus den 1950er Jahren überliefert sind, klingt sie – gezeichnet von mehreren Schlaganfällen – verbittert und müde. Die Chuzpe ist hin, die emanzipatorische Verve gebrochen, ebenso wie der unverwüstliche Optimismus, der ihr so oft attestiert wurde. 1957 stirbt sie völlig verarmt in Bad Reichenhall – und gerät endgültig in Vergessenheit.
„Was das Wort Fürchten anbelangt, so stand das nie in meinem Lexikon“, hat Claire Waldoff einmal gesagt. Sich um nichts zu scheren: Das war die nachgerade anarchische Kraft dieser Sängerin. Eine Kraft, mit der sie vielen Frauen ihrer Zeit Mut gemacht hat. Eine Kraft, die bis heute wegweisend ist.
Sylvia Roth
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