Alice Schwarzer schreibt

"Ich sehe mich, also bin ich"

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Ihr Blick ist direkt und selbstbewusst. Nie bietet sie sich an. Immer beherrscht sie das Bild und die Inszenierung. Sie war, das ist jetzt klar, eine der Bedeutendsten unter den Künstlerin­nen des Surrealismus. Wie schwer sie wog, das werden wir nie mehr richtig beurteilen können, denn das Gros ihrer Arbeit, ihrer Texte und Bilder, wurde vernichtet. Ver­nichtet, als die Gestapo am 25. Juli 1944 in ihr Haus auf Jersey ein­drang und Claude Cahun und Suzanne Malherbe verhaftete. Bei­de wurden zunächst zum Tode verurteilt, dann zu lebenslanger Haft. Die Alliierten befreiten sie im Mai 1945. Malherbe, ihr „anderes Ich", starb 1972; Cahun selbst starb am 8. Dezember 1954 auf der Insel Jersey; es heißt, an den Spät­folgen der Nazitortur.

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Erst in den späten 80er Jahren wurde Cahuns Werk zufällig auf Jersey wiederentdeckt. Bis dahin war Cahun ganz vergessen. Ihr Name figurierte noch nicht einmal in der „Enzyklopädie der Surreali­sten". Was nicht nur an dem Ver­nichtungsschlag der Nazis gegen ihr Werk und an dem üblichen posthumen Umgang der Männer­welt mit kreativen Frauen lag.

Schon zu Lebzeiten war Claude Cahun über ihre Kreise hinaus nur wenig bekannt und wurde im Aus­land sogar für einen Mann gehal­ten. Das lag daran, dass sie zwar viel schuf, aber nur wenig veröffentlichte. Und es lag auch an ihrem Pseudonym Claude Cahun, das sie mit 23 angenommen hatte. Claude ist im Französischen ein geschlechtsneutraler Name, hin­ter dem sich ebenso eine Frau verbergen kann wie ein Mann. Doch gerade diese Namenswahl ist ein Ausdruck für ihre Grund­haltung: Cahun wollte sich nie auf eine Rolle festlegen lassen. Sie wollte weder Frau sein noch Mann.

Ihr ganzes Werk ist geprägt von ih­rer Suche nach Identität und Au­thentizität. Und von ihrem Schmerz über die Erfahrung von Weiblich­keit. „Ich lasse mir den Kopf kahl­scheren, die Zähne ziehen, die Brü­ste entfernen", schrieb sie. „Alles, was meinen Blick stört oder beunruhigt: den Magen, die Eierstöcke, das bewusste abgekapselte Hirn." Lucy Schwob kommt am 25. Okto­ber 1894 als Tochter eines Zeitungs­verlegers in einer jüdischen Groß­bürgerfamilie in Nantes zur Welt. Das kleine Mädchen wächst mit der Großmutter auf, denn ihre Mut­ter kommt „früh in eine Klinik in Paris" (womit wohl die Psychiatrie gemeint sein wird). Und der Vater? Sie selbst wird später sagen, sie sei vom „besitzergreifenden Vater irrational geliebt worden".

Im Alter von 13 geht Lucy Schwob von Nantes nach Oxford. Der Grund sei vermutlich der im Zuge der „Dreyfuß-Affäre" hochschla­gende Antisemitismus gewesen, vermutet ihr Biograph. Doch der französische Hauptmann Dreyfuß, der 1899 wissend fälschlich wegen angeblichem Hochverrat zu zehn Jahren Festung verurteilt worden war, war gerade in dem Jahr, in dem Lucy ins Ausland flieht, voll rehabilitiert worden.

Welchen Grund hatte das Mädchen also, von zuhause wegzugehen? War es der „irrational liebende" Vater, über den sie im Alter von 38 Jahren eine so bedeutungsschwere Arbeit machen wird? Hat also eine frühe Demütigung, gemischt mit stolzem Selbstbewusstsein, sie so radikal aus der Frauenrolle ausbrechen lassen?

Sie ist 23, als sie sich den Namen Claude Cahun gibt (nach ihrem Lieblingsonkel Leon Cahun). Sie ist 24, als sie die Tochter der Frau kennenlernt, die ihr Vater in einer zweiten Ehe heiratet: die Malerin Suzanne Malherbe, die unter dem Pseudonym Marcel Moor arbeitet (in dieser Zeit hatten Frauen noch nicht einmal einen Zugang zu den Kunsthochschulen). Suzanne wird ihre Lebensgefährtin und Geliebte.

Im selben Jahr schneidet Cahun sich die Haare radikal kurz. Später wird sie sie oft rosa, silbern oder golden färben oder ganz rasieren. Sie ist 27, als Claude und Suzanne zusammen nach Paris ziehen. Es ist eine Epoche des Aufbruchs, auch für die Frauen, die „neue Frau" ist angesagt. Die beiden Künstlerinnen beziehen eine Woh­nung am Montparnasse, Rue Notre-Dame-des-Champs 70 b. Über 15 Jahre lang wird diese Adresse ei­nes der avantgardistischen Zentren von Paris sein und Claude Cahun die „Seismographin einer Epoche".

Cahun und Malherbe nehmen Kontakt auf zu den zwei in dieser Epoche wohl aufregendsten Krei­sen in Paris: zu den Surrealisten um Andre Breton und den Frauen der „Rive Gauche", diesem extra­vaganten, kosmopolitischen Kreis von Kreativen um Adrienne Mon-nier und Sylvia Beach (siehe „Paris war eine Frau" in EMMA 5/96).

1925 erscheint von Cahun erst­mals eine Sammlung von Kurzge­schichten, drei Jahre später ihr au­tobiographisches, lyrisches Haupt­werk „Aveux non avenus" (Nichti­ge Bekenntnisse). Sie veröffentlicht ihre ersten fotografischen Selbst­porträts. Außerdem spielt sie Theater. Sie engagiert sich poli­tisch und veröffentlicht auch in der Homosexuellenzeitschrift „L'Amitié": „Meine Ansicht über die Ho­mosexualität und die Homosexu­ellen ist genau die gleiche wie meine Meinung über die Heterosexualität und die Heterosexuel­len", schreibt sie. „Alles hängt vom Individuum und den Umstän­den ab. Ich trete für die allgemei­ne Freiheit der Sitten ein."

Doch die anderen scheinen nicht so gelassen wie sie. Die Surreali­sten haben ein radikal anderes Bild vom weiblichen Menschen, als Claude Cahun es hat: bei ihren Kollegen sind Frauen zwar nicht länger nur Muse, Model und Ge­liebte, sondern nun auch noch Künstlerin dazu, aber eigenständi­ge Individuen sind sie nicht. Sie bleiben relative Wesen, bleiben Objekt und werden von ihren Gefährten meist obsessiv nackt dargestellt.

Sicher, der Hohepriester der Sur­realisten, Breton, schätzt Cahun und attestiert ihr „große magische Kraft". Dennoch. Dennoch nimmt sie öffentlich nicht den Platz ein, der ihr gebühren würde. Wozu sie wohl auch selbst beiträgt. Denn die als freie Künstlerin arbeitende Frau und Großbürgerin muss von ihrer Arbeit nicht leben. Sie be­tont immer wieder selbst ihren „Dilettantismus" und verweigert sich der „Professionalisierung". Tut sie das, weil sie nicht dazu­gehören will - oder weil sie nicht dazugehören darf?

Die Kunsthistorikerin Laura Cottingham spricht von einem „kulturellen Schweigen", das Claude Cahun umgab und von der „kulturellen Unsichtbarkeit" ihrer Bilder. In der Tat, weder Cahuns Person noch ihr Lebensstil und ihr Werk waren Teil des geltenden Kanons, sie waren weder Teil der Norm noch des Normverstoßes (der ja nur die andere Seite der Medaille ist).

Die Stimme von Claude Cahun ver­stieß dreifach gegen die Sprache der Herrschenden: als Jüdin, als Frau, als Homosexuelle. Diese Stimme konnte und wollte man auch in den Kreisen der Avantgar­de nicht hören. So kam es, dass Cahun, die unter Eingeweihten als eine der Vielversprechendsten galt, in einer zeitgenössischen Publikation 1936 in London als „Genosse Cahun" eingeführt wurde. Wenn schon Cahun, dann wenigstens als „Genosse".

Heute, nach ihrer Wiederent­deckung, drohen Claude Cahun ähnliche Gefahren. Von ihrer „Männlichkeit" und ihrem „Cross-dressing" ist in Amerika die Rede. Cahuns Ambivalenz und Androgynie trifft das nicht. Sie selbst hat einmal gesagt, man müsse sich „anders wahrnehmen, um zu wer­den, was man ist". Cahun kämpf­te lebenslang gegen die Fest­legung und für die Freiheit. Das unterscheidet ihre Arbeit von der einer Cindy Sherman.

Sherman spielt die stereotypen Klischees von Weiblichkeit durch bis zu ihrer Enthüllung. Cahun vagabundiert zwischen den Rollen bis zu ihrer Überwindung. „Ich will nur mit der äußersten Spitze nähen, stechen und töten. Der Rest des Körpers, die Fortsetzung - welche Zeitverschwendung", schreibt sie. „Ich will nur zu meinem eigenen Bug reisen."

1932 tritt Claude Cahun der Asso­ziation der „Ecrivains et Artists revolutionnaires" bei, einer Grup­pe kommunistischer Künstlerin­nen und Schriftstellerinnen. Ein Jahr später verlässt sie diese Grup­pe, weil die Surrealisten und Trotzkisten ausgeschlossen wor­den waren. Sie engagiert sich ver­stärkt in der surrealistisch-anti-faschistischen „Contre-Attaque". Schon 1936 kritisiert Cahun in aller Schärfe den Stalinismus und macht dazu ironisch-entlarvende Arbeiten.

Ein Jahr später, im Jahre 1937, ziehen Cahun und Malherbe auf die Kanalinsel Jersey, auf der Cahun ihre Kindheitsferien ver­bracht hatte. Sie kaufen ihre „Ferme sans nom" (Hof ohne Namen) und schließen sich ab 1940 der Resistance an. Als „namenloser Soldat" schreibt und verbreitet die Elsässerin Cahun jetzt Gegen­propaganda in deutscher Sprache und surrealistischer Manier. Auf die Fahne, die sie nächtlich an der Kirchturmspitze anbringt, schreibt sie: „Jesus ist groß, aber Hitler ist größer. Jesus starb für die Men­schen, doch die Menschen sterben für Hitler."

Acht Jahre später ist Cahun ein letztes Mal in Paris und trifft dort auch Breton. In ihren späten Arbeiten ist der Friedhof ein häufi­ges Motiv. Cottingham erkennt bei Cahun ein „Gefühl der Trennung von Ich und Körper" und einen lebenslangen „Selbsthass". Was auch immer der Antrieb gewesen sein mag für ihre radikale Ent­schlossenheit, auszubrechen und sich mitzuteilen: Ihre Stimme und ihr Blick dringen auch Jahrzehnte später weit über das bereits Gesagte hinaus.

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