Constantin Schreiber: Die Kandidatin
Deutschland im Jahr 2053 – oder schon viel früher? Sabah Hussein, die Kandidatin, ist Muslimin, 44 und als Sechsjährige mit ihren Eltern 2015 aus Syrien über Ungarn nach Deutschland geflüchtet. Sie ist eine ehrgeizige Karrieristin, die auf dem Ticket Frau und Migrantin in ihrer Partei nach oben gespült wurde und nun aussichtsreiche Kanzlerkandidatin der Ökologiepartei, ÖP, ist: in Highheels und mit roten Lippen – aber orthodox gläubig und mit intimem Kontakt zu ihrem radikalen Imam. Die ÖP ist die stärkste Partei im Land. Sie hat kräftig dazu beigetragen, dass eine politisch korrekte Sprache mit Sprechverboten durchsetzt ist und jeder Mensch, bevor er an einer Uni eingestellt wird, einer „peinlichen Analyse“, PA, unterzogen wird, die seine Gesinnung nach Rechtslastigkeit überprüft.
Das Wort Kopftuch darf nicht mehr ausgesprochen werden, ein böses K-Wort
Das „Gute Namen Gesetz“ ist schon auf dem Weg. Damit können Frauen männlich konnotierte Nachnamen wie Kaufmann in Kauffrau austauschen (diverse Menschen könnten sich „Kaufix“ nennen). Das Diversitätsgesetz greift bereits, in jedem Personalausweis wird vermerkt, ob jemand ein „Vielfältigkeitsmerkmal“ hat, also entweder z. B. Muslim:in ist oder eine „nichtweiße Hautpigmentierung“ bzw. eine „diverse geschlechtliche Identität“ hat. Das Wort Kopftuch darf nicht mehr ausgesprochen werden, ein böses K-Wort, durch das sich Menschen „verletzt fühlen“. Hijab ist jetzt die alleingültige Bezeichnung.
Das Gerechtigkeitsministerium schaltet Werbespots, in dem weiße, privilegierte Menschen aufgefordert werden, ihre Jobs freizumachen für Diskriminierte.
Es ist eine Satire, bei der die Leserin oft nicht weiß, ob sie weinen oder lachen – oder es mit der Angst kriegen soll. Mit Blick auf das Jahr 2053 – oder spielt dieses fiktive Szenario in Wahrheit nicht viel früher?
Auf der Gegenseite erstarkt eine immer heftiger agierende Rechte, die im großen Stil Land in Mecklenburg-Vorpommern aufkauft, um ein rein weißes Reich namens Neu-Gotenhafen zu errichten. Finanziert von einem aus dem Osten stammenden Millionär namens Sven Birn, ein Wiedergänger von Steve Bannon, Trumps einstigem Chefpropagandisten. Echte Journalisten gibt es in diesem Deutschland nur noch wenige, die öffentliche Meinung wird von bezahlten YouTubern und ideologiegesteuerten Bloggern produziert.
Mit viel Ironie, profunden auch außenpolitischen Kenntnissen und satter Menschenkenntnis beschreibt Constantin Schreiber das sich schon heute abzeichnende journalistische und politische Milieu, leicht zugespitzt. Sein satirisches „Vielfältigkeitsgesetz“, das VifaföG, lässt erkennen, dass der Autor und Tagesschau-Sprecher auch gelernter Jurist ist.
In "Inside Islam" legte Schreiber offen, was in Deutschlands Moscheen gepredigt wird
Schreiber ist, ganz wie seine Protagonistin, Anfang vierzig. Aber in Deutschland geboren und ein Mann. Allein das dürfte denen, die er in seiner Satire karikiert, schon ein Dorn im Auge sein. Ein Fall von kultureller Aneignung? Oder Islamophobie? Gar Rassismus? Da muss man schon Schreibers Lebenslauf vorweisen können, um diesem Vorwurf vielleicht entgehen zu können. Als Jugendlicher hat er viele Jahre in Syrien verbracht, bei Freunden seiner Eltern. Er spricht fließend Arabisch und berichtete als Journalist jahrelang aus dem arabischen Raum. Für den ägyptischen Sender ONTV moderiert er seit 2011 eine Wissenschaftssendung, vier Millionen Ägypter schalten alle zwei Wochen ein.
Den Grimme-Preis erhielt Schreiber für die Moderation der Serie „Marhaba – Ankommen in Deutschland“, Fünf-Minuten-Sendungen, die Geflüchteten Deutschland und die Deutschen erklären, mit arabischen Untertiteln. Einen Bestseller lancierte der Journalist 2017 mit „Inside Islam“, in dem er offenlegt, was so alles in Deutschlands Moscheen gepredigt wird. Constantin Schreiber ist also ein echter „kritischer Brückenbauer“, wie er in einem Interview sagt.
Es ist Realsatire, dass die Wochenzeitung Die Zeit ein Streitgespräch über dieses Buch zwischen Schreiber und ausgerechnet Khola Maryam Hübsch initiiert hat. Ausgerechnet mit diesem streng verschleierten Mitglied der sektiererischen Ahmadiyya-Gemeinde. Diese Begegnung hätte „Der Kandidatin“ entsprungen sein können. Doch der so spottlustige Constantin Schreiber blieb auffallend passiv in dem absurden „Dialog“. Schrieb er innerlich etwa einen neuen Schluss für seine „Kandidatin“ – anstelle seines schwachen letzten Kapitels? Denn bei dem arg konstruierten Ende sind dem Autor leider Elan und Spottlust verloren gegangen.
WEITERLESEN: Constantin Schreiber: Die Kandidatin (Hoffmann & Campe, 22 €)