Cornelia Strunz: Die Heilerin

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Das Sprechzimmer der Ärztin Cornelia Strunz ist ein ehemaliges Appartement. Es liegt im Schwesternhaus des Berliner Krankenhauses Waldfriede. Sie hat es gemütlich eingerichtet. Mit einem roten Schlafsofa und vielen Erinnerungsfotos von Treffen mit Patientinnen im Regal. Zu Cornelia Strunz kommen Frauen aus der ganzen Welt, alle haben eines gemeinsam: Ihnen wurden in ihrer Kindheit die Genitalien verstümmelt.

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Im September 2013 wurde das Zentrum von Waris Dirie eröffnet

Bei ihr finden die Frauen Hilfe. Nicht nur medizinisch, sondern auch menschlich. Cornelia Strunz ist rund um die Uhr für ihre ­Patientinnen erreichbar, auch wenn das im Krankenhausalltag nicht immer einfach ist. „Ich habe das Telefon immer bei mir. Wenn es klingelt, seile ich mich von den Kollegen auf der Station ab und ziehe mich in eine Ecke zurück. Wenn ich im Operationssaal bin, rufe ich sobald wie möglich zurück“, erklärt sie. Und dabei wirkt sie vom ersten Moment an überzeugend einfühlsam und herzlich.

Cornelia Strunz ist die Leiterin des „Desert Flower Centers“. Das wurde am 11. September 2013 in Anwesenheit von Waris Dirie eröffnet. Das ehemalige somalische Model setzt sich seit der Veröffentlichung ihrer Autobiografie „Wüstenblume“ 1998 gegen weibliche Genitalverstümmlung ein – und gründete die „Desert Flower Foundation“.

Noch am selben Tag wurden die ersten beiden Patientinnen in Berlin operiert. Dabei wird das Narbengewebe abgetragen und aus den Schwellkörper des Organs, die im Inneren des Körpers liegen, eine neue Klitoris geformt.

Ihre jüngste Patientin ist acht Jahre alt, die älteste über
60 Jahre

Entwickelt hat diese Methode der französische Arzt Pierre Foldes (EMMA 4/05). Er schulte seine Berliner KollegInnen. Und die Kosten für die ­Rekonstruktion? Die übernimmt die Krankenkasse. Ist die Patientin nicht krankenversichert, springen die Stiftung und der ­Förderverein des Krankenhauses ein.

Nun können die Patientinnen wieder Lust empfinden. Aber mit der Operation weicht das traumatische Ereignis nicht aus dem Leben der Frauen. Es begleitet sie ein Leben lang. Cornelia Strunz weiß das. Sie spricht von „meinen Frauen“ statt von „meinen Patientinnen“.

„Ich bin immer für meine Frauen da. Für alle großen und kleinen Probleme“, sagt sie. Ihre jüngste ­Patientin ist erst acht Jahre alt, die älteste über 60 Jahre. Strunz begleitet sie ein Stück auf ihrem Weg in ein neues Leben.

Cornelia Strunz’ Team ist seit der Eröffnung vor zwei Jahren gewachsen. Ihr stehen nun vier ChirurgInnen sowie eine Sozialpädagogin, eine Seelsorgerin, ein Psychologe, eine Physiotherapeutin sowie bei Bedarf Dolmetscherinnen zur Seite. Rund 90 Frauen kamen bislang zur Beratung in ihre Sprechstunde. Jede zweite entschied sich für eine Operation. „Es zählt jedes Schicksal. Jede Frau hat ihre Geschichte“, sagt Strunz.

Manche Frauen sprechen zum ersten Mal über das traumatische Ereignis

Seit Anfang 2015 gibt es an der Klinik auch eine Selbsthilfegruppe. Sie trifft sich einmal im Monat. Das ist wichtig, denn das Reden über das Erlebte ist für viele Betroffene ein Tabu, das Thema schambesetzt. Manche Frauen sprechen mit Ärztin Strunz zum ersten Mal über das traumatische Ereignis. Das sind dann die heiklen Momente bei ihrer Arbeit. „Da weine ich manchmal mit“, sagt die Ärztin. Was ihr Mitgefühl den Frauen bedeutet, erfuhr Cornelia Strunz erst, als ihr eine Übersetzerin zuraunte: „Schau’ mal, das sind ihre schönsten Kleider. Sie haben sich für dich ihre Festsachen angezogen.“

Cornelia Strunz ist Chirurgin. Sie stammt aus einer „typischen Arztfamilie“, wie sie sagt. Schon ihr Großvater und auch die Großmutter waren in Berlin niedergelassene Mediziner. Ihre Mutter arbeitet als Allgemeinärztin, ihr Vater führt eine Praxis als Mund-Kiefer-Gesichtschirurg. Cornelia Strunz hat vier Schwestern – drei von ihnen haben sich ebenfalls für die Medizin entschieden. „Dass ich meine Arbeit so machen kann, wie ich es tue, habe ich meiner Familie zu verdanken“, sagt sie.

Strunz weiß nur zu gut, dass die Genitalverstümmelung von Frauen ein globales Problem ist. Unicef schätzt, dass weltweit etwa 130 Millionen Frauen Opfer des grausamen Rituals geworden sind. Sie stammen aus Ägypten, Sierra Leone, Guinea, Äthiopien, Somalia, dem Sudan oder Kenia. In insgesamt 28 Ländern wird der grausame Brauch praktiziert. Und die ­Tradi­tion setzt sich täglich fort: Alle elf Sekunden wird ein Mädchen neu verstümmelt.

Mehr als 48.000 Frauen sind allein in Deutschland betroffen

Auch in Deutschland gibt es viele Frauen, die mit den Folgen leben müssen. Terre des Femmes geht von rund 48.000 ­beschnittenen Frauen aus. Die Dunkelziffer dürfte aber höher liegen, denn von den Frauen mit vorübergehender Aufenthaltserlaubnis und Flüchtlingen gibt es keine Angaben zu dem Problem. Cornelia Strunz kann das bestätigen: „Wir haben derzeit 30 Patientinnen mit einem laufenden Asylverfahren.“

Seit September 2013, dem selben Monat, als das Desert Flower Center eröffnet wurde, ist die weibliche Genitalverstümmelung in Deutschland ein eigener Straftatbestand. Sie wird mit einer Freiheitsstrafe zwischen ein und fünf Jahren bestraft. Doch das Gesetz hat eine wichtige Lücke: Es gilt nur für Beschneidungen, die nachweislich in Deutschland durchgeführt wurden. ­Üblich sind jedoch so genannte „Ferienbeschneidungen“, die die Eltern in ihrer alten Heimat organisieren.

Die Arbeit mit den Frauen hat Cornelia Strunz’ Leben verändert. Sie ist bereits seit vielen Jahren Ärztin. Doch erst heute sagt sie: „Eigentlich weiß ich erst jetzt, warum ich Medizin studiert habe.“

Desert Flower Center

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Genitalverstümmelung

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Jahr für Jahr werden weitere drei Millionen Mädchen verstümmelt - und das auch mitten in Europa, ja mitten in Deutschland.

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Es dauerte fast zwanzig Jahre, bis die sexuelle Verstümmelung auch im Westen als Skandal erkannt wurde. Europäischen Feministinnen, die sich in den 70er und 80er Jahren mit den meist afrikanischen Opfern solidarisierten, wurde vor allem von Linken vorgeworfen, sie seien "eurozentristische, bürgerliche Privilegierte",  die sich gefälligst herauszuhalten hätten aus "anderen Kulturen und Sitten".

Das wagt heute niemand mehr. Aber noch immer reicht die Sensibilisierung in Deutschland für dieses Verbrechen nicht aus. In Frankreich, wo viele Betroffenen aus den Ex-Kolonien leben, werden die verantwortlichen Eltern, Ärzte und Beschneiderinnen hart verfolgt. Dank des Mutes verstümmelter Mädchen, die es – unterstützt von französischen Feministinnen – gewagt hatten zu klagen. Auch Eltern, die mit ihren Töchtern in ihre Heimatländer reisen und sie verstümmelt zurück bringen, droht Gefängnis.

Hierzulande hat etwa jedeR zweite GynäkologIn schon einmal eine genitalverstümmelte Frau behandelt, hat aber in der Regel nicht genügend medizinische Kenntnisse für die Behandlung. 1996 erkannte das Verwaltungsgericht Magdeburg als erstes deutsches Gericht die drohende Verstümmelung einer Frau von der Elfenbeinküste als Asylgrund an. Und seit dem 1. Januar 2005 gilt das Gesetz, das auch "geschlechtsspezifische Asylgründe" bei Zuwanderung anerkennt.

Allerdings entscheiden Gerichte immer wieder gegen die Frauen, wenn in deren Heimatländern Genitalverstümmelung (theoretisch) gesetzlich verboten ist – was die Mädchen in den Dörfern in der Regel nicht schützt. Im Juli 2009 verabschiedete die Große Koalition ein Gesetz gegen Genitalverstümmelung, das die Verjährungsfrist - wie beim sexuellen Missbrauch - erst ab dem 18. Lebensjahr einsetzen lässt. Ein eigener Straftatbestand ist die Genitalverstümmelung allerdings bis heute nicht. 

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