Es passierte im Operationssaal während der Nachtschicht. Natalie Urwyler war in der neunten Woche schwanger. Sie bekam heftige Bauchkrämpfe und Blutungen. Als Oberärztin durfte sie den OP nicht verlassen. Und es gab niemanden, der sie hätte ablösen können. Natalie Urwyler brachte ihre Schicht zu Ende. Die Ärztin arbeitete zu dem Zeitpunkt in einem Krankenhaus, in dem nur zehn Prozent Frauen in Führungspositionen sind. Dabei hatte sie, eine angehende Professorin, an der renommierten Stanford Universität geforscht und galt als eines der größten Talente des Inselspitals.
Mit über 10.000 MitarbeiterInnen gehört die Insel-Gruppe zu den größten ArbeitgeberInnen des Kantons Bern. Urwyler sprach die Missstände forsch und offen an. Und sie kämpfte für einen besseren Mutterschutz. „Wir Ärztinnen standen alle im Röntgen, arbeiteten mit chemischen Substanzen“, klagt sie.
Die Diskriminierung von Ärztinnen in der Schweiz ist ein offenes Geheimnis. In medizinischen Fachkreisen gilt die Faustregel: „Immer noch lieber einen deutschen Mann als eine Schweizer Mutter“. Dabei werden Deutsche, die in der Schweiz arbeiten, eigentlich nicht gern gesehen, weil sie Arbeitsplätze wegnehmen – in den Chefetagen vor allem den Frauen. „Ich sehe keine Frauen in Führungspositionen“, entgegnete der Chefarzt Natalie Urwyler trocken, als sie den Missstand gemeinsam mit ihren Kolleginnen thematisierte. Warum nicht? Frauen könnten „keinen Stress vertragen“, seien „zu zurückhaltend oder zu frech und kommunikativ viel zu schwach“.
Natalie Urwyler war fassungslos. Und beschloss: „Ich akzeptiere das nicht!“ Urwyler sagte der Klinikleitung den Kampf an. Als sie erneut schwanger wurde, erhält sie 2014 die Kündigung, wegen eines „nachhaltig gestörten Vertrauensverhältnisses“. Für Urwyler war klar: „Nun muss die Schweizer Verfassung umgesetzt werden. Seit 37 Jahren ist die Gleichstellung von Mann und Frau ein Grundsatz der Gesetzgebung.“ Das Schweizer Gleichstellungsgesetz postuliert ein Kündigungsverbot, wenn die Kündigung „ohne begründeten Anlass auf eine innerbetriebliche Beschwerde über eine Diskriminierung …“ folgt.
Der Prozess bewegte über vier Jahre die ganze Schweiz. Dann bekam Urwyler endlich Recht. Das Spital musste sie wieder anstellen und zahlen. Sie wurde zwar wieder angestellt, aber sofort wieder freigestellt – ebenfalls ein Verstoß gegen das Gesetz. „Ich kämpfe das aus“, sagt die heute 44-Jährige entschlossen. Jetzt arbeitet sie an einem anderen Krankenhaus und ist dort glücklich.
Früher hatte Natalie Urwyler immer geglaubt: „Wenn ich fleißig bin, kann ich alles erreichen, genau wie ein Mann.“ Diese Einstellung half ihr durch die Schulzeit, durch das Medizinstudium, in dem Frauen in den Augen der damaligen Professoren Exotinnen waren, und im Knochenjob als Narkoseärztin. Das nötige Selbstbewusstsein hatten ihr die Eltern mitgegeben, die Mutter medizinisch-technische Radiologieassistentin, der Vater Chirurg. Die ermutigten sie zu allem. Und auch ihr Ehemann, ebenfalls Arzt, steht voll hinter ihr. „Wir teilen uns auch die Elternschaft“, sagt Urwyler. „Eine Frau kann nur mit Erfolg berufstätig sein, wenn sie einen Teil ihrer sozialen Verpflichtungen abgeben kann. Da gehört der Vater des Kindes dazu. Männer können alles, außer schwanger sein, gebären und stillen – der Rest geht!“
Mittlerweile ist sie eine Art Gallionsfigur geworden, hat Kontakte zu Hunderten Frauen, die Ähnliches beklagen. Urwyler hat einen Präzedenzfall geschaffen, das Urteil ist ein Meilenstein in der Gleichstellung der Geschlechter in der Schweiz. Aber Urwyler kämpft weiter, auch für Nina: „In den schwierigen Zeiten dachte ich immer: Du musst weitermachen. Du hast die Aufgabe, für deine Tochter zu kämpfen und Dinge für Frauen besser zu machen.“