Corona trifft Mädchen hart
Franziska will ihre Ruhe. Kaum ist die 16-Jährige von der Schule zuhause, verschwindet sie in ihrem Zimmer. Sie geht ihren Eltern aus dem Weg, ihren kleinen Bruder schreit sie grundlos an, ihre Hobbys – Gitarre und Hockey spielen – hat sie an den Nagel gehängt. Ihre Schulnoten werden zunehmend schlechter. Es gibt Tage, da will sie gar nicht aufstehen. Manchmal fängt sie an, unkontrolliert zu weinen, im Supermarkt, im Badezimmer, beim Abendessen. Innerhalb eines Monats hat sie sieben Kilo abgenommen.
Ihre Eltern wussten lange nicht, was los ist, dachten, es könnte vielleicht eine enttäuschte Liebe sein. Franziska war nie „schwierig“, sondern immer ein „ehrgeiziges, kluges und selbstbewusstes Mädel“, so die Mutter. Aber genau das will sie nun ausgerechnet nicht mehr sein. Heimlich kontrolliert die Mutter das Handy der Tochter. Sie findet über 1.500 unbeantwortete Nachrichten. Die letzte Nachricht an ihre beste Freundin Sanja ist zwei Wochen alt: „Ich mag nicht mehr schreiben.“
Burn out mit 16? Seit Corona ist das kein Sonderfall mehr - vor allem bei Mädchen
Als die Mutter den Browserverlauf überprüft und eine Seite mit einem Mädchen entdeckt, dass über Selbstmordvarianten philosophiert, geht sie mit Franziska zu einer Psychologin. Die stellte eine Diagnose: „Erschöpfungsdepression“. Burn Out mit 16? Franziska war einfach alles zu viel geworden. Zu viel Leistungsdruck in der Schule, Druck von ihren Eltern „mehr“ zu machen, Gruppenzwang im Freundeskreis, ein permanent summendes Handy. „Jetzt reiß dich halt mal zusammen!“, war die erste Reaktion des Vaters.
"Dieser Rat macht es für Betroffene nur noch schlimmer“, sagt Annette Cina. Die 50-jährige Psychotherapeutin arbeitet am Institut für Familienforschung der Universität Fribourg in der Schweiz. Sie forscht und lehrt zu kindlichen und jugendlichen Verhaltensstörungen. Seit etwa 20 Jahren beobachtet sie, wie sogenannte „Erschöpfungsdepressionen“ immer jüngere Menschen treffen, vor allem die Mädchen – und oft die ehrgeizigen in der Pubertät. Die Fachwelt spricht gar von einem „Mädchenphänomen“.
„In den vergangenen Jahren hätten gerade bei jungen Mädchen unglaubliche Selbstdisziplinierungsprozesse stattgefunden, sie wollten perfekt sein“, sagt Annette Cina. Laut einer Studie des Robert-Koch-Instituts sitzt heute in jeder zweiten Schulklasse ein Mädchen mit psychischen Störungen – Tendenz steigend. Wie oft bei psychosomatischen Störungen gibt es nicht den einen spezifischen Grund, sondern das Zusammenkommen mehrerer: ehrgeizige Eltern, belastende Familiensituationen wie zum Beispiel eine Trennung, Leistungsdruck in der Schule, eigene Ansprüche und verstärkter Gruppenzwang und lebensferne Schönheitsideale auf Social Media. Jetzt kommt auch noch die Isolation durch Corona hinzu.
Die Mädchen verspüren einen enormen Druck, sie glauben, nicht gut genug zu sein
Warnzeichen sind: Verhaltensänderungen, starke emotionale Schwankungen, Schlafstörungen, Konzentrationsschwächen, Bauch- und Kopfschmerzen, Appetitlosigkeit, Gereiztheit, Traurigkeit oder Interessenverlust.
„Diese Mädchen spüren einen großen Druck. Im Kern steht oft das Gefühl, nicht gut genug zu sein“, sagt die Psychologin. Nicht gut genug in der Schule, nicht hübsch genug, nicht cool genug, nicht interessant genug, nicht liebenswert genug. „Wenn dann Probleme auftauchen, die sie nicht sofort lösen können und sie nicht in der Familie sicher verankert sind, kommt Angst auf und ihr System kippt.“
Cina sieht dieses Phänomen als ein grundlegendes Problem der westlichen Gesellschaft: „Verschiedene gesellschaftliche und wirtschaftliche Krisen und daraus resultierende Verunsicherungen haben sich in das kollektive Bewusstsein geschlichen. Der Glaube an selbstverständlichen Wohlstand ist gebrochen. Viele fragen sich: Worauf kann ich mich wirklich verlassen? Das eskaliert durch Corona gerade wieder ganz massiv. Wie reagiert eine Gesellschaft auf diese Verunsicherung? Sie setzt auf Leistung und zieht die Stellschrauben an. Leistung gleich Erfolg, Erfolg gleich Sicherheit. Daher der Trend zum Perfektionismus und zu Optimierungswahn, den unsere Gesellschaft seit einigen Jahren nahezu zelebriert. Und aus Sorge um das eigene Kind wird eben auch das eigene Kind optimiert.“
Das Verhalten von Mädchen wird von Anfang an stärker bewertet
Hinzu komme die Fokussierung der Eltern auf ein oder höchstens zwei Kinder. Während die Babyboomer noch in Großfamilien aufgewachsen sind und wiederum für reichlich Nachwuchs sorgten, bekommen Frauen im Durchschnitt seit den letzten 15 Jahren 1,5 Kinder in Deutschland, Österreich und der Schweiz.
Da ist eben auch das sich verstärkende Leistungsprinzip und die damit einhergehende Bewertungskultur – besonders bei Mädchen. Jungen werden mehr Freiheiten zugestanden. Mädchen werden von Anfang an zu mehr Ordentlichkeit, Lernbereitschaft und Folgsamkeit erzogen. „Mut“ würde oft vernachlässigt. Und: Ihr Verhalten wird generell stärker bewertet als das von Jungen.
„Der Umgang mit Rückschlägen bleibt auf der Strecke. Auch schwierigen Situationen muss man Raum geben können. Es gehört zum Leben dazu, Niederlagen durchzustehen, hinzunehmen. Das halten schon Erwachsene oft schwer aus. Wie gehen sie dann mit Misserfolgen ihrer Kinder um? Ertragen sie es, wenn ihr Kind nicht gut in der Schule, nicht so beliebt ist? Sie können ihm nicht jeden Stein aus dem Weg räumen, aber sie können sagen: Ich bin da. Ich stehe an deiner Seite. Gemeinsam kommen wir da schon durch“, sagt Annette Cina.
Grundsätzlich empfiehlt die Psychotherapeutin Eltern mehr Gelassenheit in der Erziehung und Zutrauen in die Kinder. Das eigene Kind nicht ständig zu bewerten, sondern es viel mehr so zu lieben, wie es ist. Cina: „Eine gute Eltern-Kind-Basis ist der Grundstein für Vertrauen ins Leben!“
Social-Media ist einer der Hauptgründe für Depressionen bei Mädchen
Doch auch dieser Grundstein kann wackeln. Die Einflüsse von außen sind mit den sozialen Medien enorm gewachsen. Eine 2019 erschienene Studie des University College London kommt zu dem Schluss, dass die Social Media einen erheblichen Einfluss auf die seelische Gesundheit Jugendlicher hat und besonders Mädchen in Depressionen stürzt.
Befragt wurden 11.000 Jugendliche im Alter von 14 Jahren. Ergebnis: Die Mädchen leiden bei Social-Media-Nutzung doppelt so häufig an Depressionen wie ihre männlichen Altersgenossen. Ihnen machen vor allem die Körperbilder, wie sie von Influencerinnen propagiert werden, zu schaffen. Sie empfinden ihr eigenes Leben als unspektakulär, den eigenen Körper als defizitär. 40 Prozent der Mädchen nutzen die Netzwerke mehr als drei Stunden täglich – die Jungen spielen in ähnlichem Umfang Computer-Spiele.
Und Corona verschärft das ganze Dilemma. Der seelische Druck ist in der Isolation enorm gestiegen – das bestätigen mehrere Studien. Fast jedes dritte Kind im Alter zwischen sieben und 17 Jahren zeigt inzwischen psychische Auffälligkeiten, berichten die AutorInnen der Hamburger COPSY-Studie, die jährlich das Wohlbefinden von Familien analysiert. Das grundlegende Problem sei der Kontaktverlust, fast alles spiele sich inzwischen abstrakt online ab – ein Teufelskreis.
Aber nicht immer macht Corona alles schlimmer. Im Fall von Franziska war der Lockdown sogar eine Erlösung, sie sei „runtergekommen“, sagt sie. Kein Stress mehr mit MitschülerInnen im Klassenzimmer, kein Gepöbel im Schulbus, kein Zwang, jeden Tag super auszusehen. Manchmal hat Franziska auch einfach nichts gemacht. Das Gefühl von Langeweile kannte sie vorher gar nicht. Und: Sie ist dem Rat ihrer Therapeutin gefolgt und hat ihr Handy auf Flugmodus gestellt, bis auf zwei Stunden am Tag. Franziska ist wieder im Leben gelandet.