Cressida Dick: Die Harry Potter
In der Reihe der Beamten, die am Morgen nach dem Terroranschlag vom 22. März ihren ermordeten Kollegen vor dem neuen Hauptquartier von Scotland Yard mit einer Schweigeminute ehrten, stand Britanniens hochrangigste Polizeibeamtin nicht an erster Stelle. Die Beförderung von Cressida Dick (auf dem Foto mit dem Londoner Bürgermeister Sadiq Khan) zur ersten Chefin in der 188 Jahre langen Geschichte des Metropolitan Police Service – so der offizielle Titel der Londoner Behörde, die im Volksmund kurz die „Met“ oder Scotland Yard heißt – war zwar im Februar bekannt gegeben worden. Doch sie hat die größte Polizeibehörde des Landes, die neben der Verbrechensbekämpfung in der wuchernden Hauptstadt auch landesweit Verantwortung für die Terrorabwehr trägt, erst im April übernommen.
Zwischen den Uniformierten stach Cressida Dick lediglich durch ihre kleine Statur hervor. Dennoch verströmte die schmächtige Frau im geschäftsmäßigen schwarzen Hosenanzug und königsblauem Rollkragenpullover jene gelassene Autorität, die der 56 Jahre alten, alleinstehenden Polizistin in mehr als 30 Dienstjahren Respekt und Loyalität eingetragen haben.
Als sich die Reihe nach der kurzen Zeremonie auflöste, klopfte Cressida Dick ihrem Vorgänger unauffällig auf die Schulter und spendete dem sichtlich Ergriffenen wortlos Zuspruch, bevor dieser sich der Presse stellte. Kollegen nennen sie vertrauensvoll „Cress“. Andere haben ihr den Spitznamen „Harry Potter“ gegeben. In der Tat besteht eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Zauberlehrling, zumal wenn Cressida Dick ihre Lesebrille aufsetzt. Dazu passend trägt sie das dunkle, mittlerweile grau durchsetzte Haar in einem knabenhaften Pony-Schnitt.
Nicht nur das Geschlecht, sondern auch die Herkunft aus einer Oxforder Akademikerfamilie machten die Berufswahl von Cressida Dick ungewöhnlich. Ihr Vater, der starb, als sie elf Jahre alt war, lehrte Philosophie, ihre Mutter Geschichte und Politik. 1979, im ersten Jahr, in dem das mehr als 700 Jahre alte Balliol College in Oxford Frauen zuließ, trat Cressida Dick dort ein Land- und Forstwirtschaftsstudium an. Nach einem Abstecher in die Buchhalterei wechselte sie alsbald zur Londoner Polizei.
Damals, 1983, standen Beamtinnen, die 1919 als Ersatz für die wegen des Krieges fehlenden männlichen Arbeitskräfte offiziell zugelassen worden waren, noch viele Hürden im Weg. Die „Frauenabteilung“ war erst 1973 voll in den Dienst integriert worden. Symbolhaft dafür war die Erlaubnis, Hosen zu tragen, allerdings zunächst nur beim Nachtdienst und im Winter.
Zu einer Zeit, in der Margaret Thatcher es als erste Frau bereits in die Downing Street geschafft hatte, war eine Chefin in der ausgesprochenen Macho-Welt von Scotland Yard noch undenkbar. Als Women’s Hour Cressida Dick 2013 auf die Liste der hundert mächtigsten Frauen des Landes setzte, vertraute sie der BBC-Hörfunk-Sendung an, zwar persönlich verschont geblieben zu sein von offenkundigem Sexismus, jedoch Kolleginnen zu kennen, die belästigt und schikaniert worden seien. Die Polizeibeamtin würdigte die „vielen mutigen Frauen“, die das System vor Arbeitsgerichten angefochten und die Kultur verändert hätten. Die Zustände seien nicht perfekt, aber sie sei stolz darauf, wie weit die Polizei in kurzer Zeit gekommen sei. „Jetzt geht man davon aus, dass Frauen jede Aufgabe wahrnehmen können.“
Die Zahlen belegen den Wandel. Seit 1977 ist der Frauenanteil bei der britischen Polizei von sieben auf knapp 30 Prozent gestiegen. „Immer noch nicht genug“, kommentierte der angesehene Guardian-Kolumnist Martin Kettle die „historische Berufung“ von Cressida Dick an die Spitze der „Met“; doch stehe der Kurs in Richtung Gleichberechtigung außer Zweifel. In der Tat bekleiden heute Frauen die vier höchsten Polizeiposten des Landes. Und ihre Vorgesetzten sind eine Innenministerin und eine Premierministerin.
An den verschiedenen Stationen ihres Weges von der Streifenpolizistin zur Polizeipräsidentin, unter anderem als Zuständige für Multikulturalität in einer als „institutionell rassistisch“ kritisierten Truppe, oder an der Spitze der Terrorabwehr, hat Cressida Dick hohes Ansehen geerntet mit ihrem ebenso ruhigen wie resoluten Führungsstil.
Diese Eigenschaften legte sie auch an den Tag, als ihre Karriere in dem bis heute nicht verstummten Aufruhr um den Tod von Jean Charles de Menezes auf dem Spiel stand. Cressida Dick führte das Kommando, als der brasilianische Elektriker nach den Londoner Selbstmordattentaten im Juli 2005 von der Polizei irrtümlich als Terrorverdächtigter erschossen wurde. Scotland Yard wurde in einem Strafverfahren zwar wegen Fehlverhaltens verurteilt, Cressida Dick jedoch von jeder persönlichen Schuld ausgenommen. Ihre Kollegen rechneten ihr hoch an, wie sie in der Öffentlichkeit für ihre Beamten einstand.
Vor zweieinhalb Jahren sah es aus, als sei der steile Aufstieg kurz vor dem Gipfel zum Halt gekommen. Differenzen mit ihrem Vorgesetzten veranlassten Cressida Dick, die „Met“ zu verlassen und ein aus Geheimhaltungsgründen nicht näher bezeichnetes Direktorat im Außenministerium anzunehmen, das wohl mit der Terrorbekämpfung zusammenhing.
Die Herausforderungen, vor denen die neue Chefin von Scotland Yard jetzt steht, sind enorm. Sie übernimmt eine durch Sparmaßnahmen und öffentliche Kritik ebenso demoralisierte wie überstrapazierte Truppe. Große Hoffnungen ruhen auf der Frau, die das Amt stets vor die eigene Person gestellt hat. Ein Wesenszug wird ihr dabei zugutekommen. Bei aller Hingabe zu ihren Beruf bekundet Cressida Dick, dass sie nichts um den Schlaf bringen kann.
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