Selbstverständlich ist Daniel Cohn-Bendit, 56, kein Pädophiler. Und höchstwahrscheinlich ist er auch keiner der vielen Väter, die sich an ihren Kindern vergreifen. Aber er ist – und war immer – ein Kind seiner Zeit. Mehr noch: Er war ein Leader seiner Zeit. Was er gedacht und getan hat, das geht darum nicht nur ihn und die direkt Betroffenen an, es geht uns alle an.
Der Stein des Anstoßes? 1975 hat Dany le Rouge drei Leuten in Paris, zwei Männern und einer Frau, viele Stunden lang Rede und Antwort gestanden über seine bewegte Zeit zwischen 1968 und 1975, über seine Siege, Niederlagen und Irrtümer. Der Held der Pariser Barrikade war im Herbst 1968 von der verschreckten De-Gaulle-Regierung als „juif allemand“ (deutscher Jude) nach Deutschland ausgewiesen worden. Und der diesseits und jenseits des Rheins aufgewachsene Sohn deutscher Emigranten mit dem auf Wunsch deutschen Pass (der Bruder hat einen französischen) wurde fortan in Frankfurt aktiv.
Er plaudert darüber, "wie kleine Mädchen schon gelernt hatten, mich anzumachen".
Zusammen mit seinem Kumpel Joschka bewohnte der rote Dany ein Zimmer in derselben WG und war ungekrönter König vom „Revolutionären Kampf“. Der RK war eine Anarcho-Action-Gruppe, deren AktivistInnen in den Fabriken „das Proletariat“ agitierten, Abbruch-Häuser besetzten, sich Straßenschlachten mit der Polizei lieferten und in der Szene Furore machten.
Über diese Zeiten sprach Cohn-Bendit also anno 1975 mit seinen geneigten Interviewern. Die redigierten das Gespräch druckreif und veröffentlichten es als 150-Seiten-Monolog in Frankreich und Deutschland. Im Kapitel 9 geht es über acht Seiten um Danys Zeit als Kindergärtner. Denn während sein Zimmergenosse Joschka die Lederjacke anzog und im Stadtwald den revolutionären Kampf übte, zog es Dany zwei Jahre lang in den Uni-Kindergarten, wo er, fest angestellt und bezahlt, mit den Kleinen spielte. Immerhin.
Unter dem Titel „Little Big Man“ – mit dem er wohl ebenso die Kinder wie sich selbst meint – erzählt er, wie das so herging damals. Wer diesen Text heute liest, dem muss es nicht nur wegen des Umgangs mit der Sexualität, sondern auch wegen der völligen Abwesenheit jeglicher pädagogischer Kompetenz dieses Kindergärtners nur so grausen (siehe im Originaltext auch das Beispiel von dem hoch gefährdeten und hoch gefährlichen kleinen Jungen).
Da erzählte der heutige Europa-Abgeordnete damals munter, wie zwischen 1972 und 1974 sein „ständiger Flirt mit allen Kindern bald erotische Züge“ annahm: „Ich konnte richtig fühlen, wie die kleinen Mädchen von fünf schon gelernt hatten, mich anzumachen.“ Und wie es „mehrmals passierte, dass einige Kinder meinen Hosenlatz geöffnet und angefangen haben, mich zu streicheln“. Der damals 28-Jährige hat, so schreibt er, „auf Wunsch“ dann auch zurückgestreichelt...
In Frankreich schlug die Debatte um Cohn-Bendit hohe Wellen.
Schon damals wurde Cohn-Bendit deswegen der „Perversion“ beschuldigt. Daraufhin unterstellte er seinen Kritikern schlicht politische Gegnerschaft: „Als Extremist hatte ich nicht das Recht, Kinder zu betreuen.“ Doch hatte er „glücklicherweise einen direkten Vertrag mit der Elternvereinigung, sonst wäre ich entlassen worden“. Ihn schützten damals genau die Eltern, von denen einige ihre lieben Kleinen fortschrittlicherweise beim „Vögeln“ zugucken ließen und so manche ihr Kind auch schon mal mit ins Bett nahmen, weil das ja so natürlich und so „antiautoritär“ war.
Cohn-Bendits Lebensbericht erschien 1975 in dem links-sektiererischen Trikont-Verlag und wäre längst vergessen, wenn nicht – ja wenn nicht eine, mit der er damals auch im Kindergarten hätte spielen können, die Sache wieder ans Licht geholt hätte: Bettina Röhl, 38, die Tochter von Ulrike Meinhoff. Eben die, die auch die inkriminierenden Fotos von Joschka Fischer an die Öffentlichkeit gebracht hat und die damit diese ganze Debatte überhaupt erst auslöste.
Anfang dieses Jahres veröffentlichte Bettina Röhl die Fischer-Fotos und die Cohn-Bendit-Zitate gleichzeitig. Doch was geschah? Dieselben Journalisten, die die schlagkräftige Vergangenheit des Außenministers begierig – wenn auch abwiegelnd – aufgriffen, dieselben Journalisten ließen die sexuellen Übergriffe des Europa-Politikers auf Kinder links liegen. Es dauerte Wochen, bis Ende Januar eine englische Zeitung, The Observer, den Skandal aufgriff. Und es verging noch ein Monat, bis auch die französische Presse einstieg.
Dann allerdings schlug die Debatte um Cohn-Bendit in Frankreich hohe Wellen: eine Serie von Artikeln, ein kritisches Fernseh-Interview mit dem einstigen Politgegner, ein wohlwollendes Interview mit dem einstigen Weggefährten (in Libération – der Pariser taz). Nur wenige nutzten den Anlass zu einem (selbst)kritischen Blick zurück auf die (pseudo)revolutionäre Moral von damals, die zwar der alten Doppelmoral den Garaus gemacht, dafür jedoch das unverhüllte Recht des Stärkeren eingeführt hatte. Diese neue Moral leugnete die Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen ebenso wie die zwischen Erwachsenen und Kindern. Ausgerechnet die „sexuelle Revolution“ ebnete der kapitalistischen Vermarktung und sexistischen Brutalisierung der Sexualität vollends den Weg.
Cohn-Bendit
behauptet, der Text sei keine Realität, nur 'Fiktion'.
Le Monde brachte apropos des Falls immerhin ein ganzes Dossier zur Frage der sexuellen Moral und sexuellen Gewalt sowie der Rolle der 68er dabei. Ganz anders die deutsche Presse. Hier wurde über Cohn-Bendit und seine für die Zeit so fatal typischen Ansichten erst berichtet, als es gar nicht mehr zu vermeiden war – mit Ausnahme von Bild und der Beckmann-Talkshow. So reagierte zum Beispiel die Zeit erst Anfang März, die Paris-Korrespondentin bescheinigte den französischen Medien schlicht Hysterie. Und auch die Meinungsmacher von taz bis FAZ versicherten unisono, hier handele es sich um eine Lappalie, die nur zur späten Abrechnung mit dem einstigen Bürgerschreck und im Wahlkampf zur „Menschenhatz“ des grünen Politikers benutzt werde.
Und alle, einfach alle in Deutschland zitierten unhinterfragt die sehr leicht überprüfbare Behauptung Cohn-Bendits, bei dem Text handele es sich keineswegs um Realität, sondern um „Fiktion“ (so dreist argumentierte er übrigens in Frankreich nicht, da sprach er von „Provokation“). Und überhaupt, so nicht nur Cohn-Bendit, seien das ja auch andere Zeiten gewesen.
Ja, es waren andere Zeiten. Von Anfang an war die von den Studenten ausgelöste Jugendrevolte begleitet von der Forderung nach einer „sexuellen Revolution“, mehr noch: Sie war davon ausgelöst worden. So war zum Beispiel in Nanterre, dem Pariser Uni-Campus des Studenten Cohn-Bendit, der Ärger losgegangen, weil die Jungs nicht zu den Mädchen aufs Zimmer durften.
Denn um die Bedürfnisse von Frauen und Kindern ging es nie.
Diese sexuelle Revolution schien zunächst eine Befreiung für alle zu sein, denn sie machte endlich Schluss mit der Unterdrückung kindlicher Lust und weiblichen Begehrens. Doch sie leugnete gleichzeitig die Machtverhältnisse im Patriarchat – und wendete sich so bald gegen die Frauen und die Kinder. Der pädophile Zugriff homosexueller Männer auf Kinder wurde als Wunsch des Kindes verbrämt. Aus dem alten Sexverbot wurde der neue Bumszwang. Gehörten die Frauen früher nur einem Mann, hatten sie jetzt allen zur Verfügung zu stehen („Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment“). Wer nicht mitmachte, galt als „prüde Zicke“ – und wer mitmachte, blieb bald auf der Strecke.
Denn um die Bedürfnisse von Frauen und Kindern ging es den neuen Herren nie. Es ging ihnen nur um sich. Sie sprachen von Menschen, meinten aber nur Männer. Die sexuelle Revolution, das machte spätestens die Frauenbewegung klar, war zum Bumerang geworden. Zum Bumerang gegen Frauen und Kinder.
Es waren in der Tat die New Boys, die 68er, die die Pornos der Old Boys aus der Schmuddelecke geholt und salonfähig gemacht hatten. Und es war ausgerechnet der Vater von Bettina Röhl, der in seiner Polit-Porno-Postille konkret als Erster in Deutschland den Kindersex auf Hochglanz propagierte und in seinem noch unverhüllter pornografischen Nachfolgeblatt das da Cohn-Bendits Kapitel 9 vorabdruckte.
Bereits im Februar 1968 hatte die – übrigens heimlich von der DDR finanzierte – konkret erstmals mit einer nackten Minderjährigen getitelt und der „Liebe in der Schule“. In den darauf folgenden, politisch so bewegten Monaten wurden die Cover-Girls immer nackter und jünger. Im Jahre 1970 eskaliert der von konkret propagierte Sex mit Kindern zu Schlagzeilen wie „Vorsicht: Minderjährig!“, „Frühe Liebe mit 14“ oder „Wie Schulmädchen lieben“. Auf dem Titel werden auf Lolita gestylte 12- bis 14-Jährige gezeigt. Zu der Zeit sind die Zwillingstöchter des konkret-Herausgebers Klaus-Rainer Röhl acht Jahre alt.
Auch die Frauen in den anderen Apo-nahen Magazinen wurden zunehmend nackter, dümmer und jünger (ich weiß, wovon ich rede: Ich war 1969 Reporterin bei Pardon). Die linke Presse wurde zum Vorreiter einer offenen Pornografisierung der Medien. Und die Aktivisten der 70er Jahre setzten diese Sexualpolitik fort.
Allerdings: Bei aller frühen Kritik der Feministinnen – das Tabu Kindesmissbrauch war damals in der Tat noch kein Thema. Zumindest in der ersten Hälfte der 70er Jahre nicht. Dann aber kam es knüppeldicke. Die ersten Zuflucht-Häuser für geschlagene Frauen schlugen Alarm: Die Gewalt gegen Frauen ging auffallend oft Hand in Hand mit dem Missbrauch der Kinder. Im April 1978 veröffentlichte EMMA ein Dossier über das „Tabu Inzest“, die erste deutsche Veröffentlichung zu dem Unsagbaren. Und bald darauf gründeten sich Selbsthilfegruppen missbrauchter (Ex)Kinder.
Hat er sich je wirklich gefragt, wie es so weit kommen konnte?
Leader Cohn-Bendit aber hat bis heute nicht hörbar öffentlicht all denjenigen widersprochen, die noch immer im Namen der „sexuellen Freiheit“ die neuen Unfreiheiten predigen. Den ZynikerInnen, die ausgerechnet die Frauen, die sich seit Jahrzehnten für die Opfer einsetzen, auch noch des „Missbrauchs des Missbrauchs“ bezichtigen (wie zum Beispiel die Ex-GenossInnen Prof. Reinhard Wolff oder Katharina Rutschky).
Auch scheint der erfahrene Polit-Profi sich nie wirklich gefragt zu haben, wie es denn damals eigentlich so weit kommen konnte. Dabei hatte es zeitweise durchaus Ansätze zur Einsicht bei den Genossen gegeben. So bekannte zum Beispiel Danys WG-Genosse Joschka Fischer bereits 1977 in der Szene-Zeitschrift Autonomie: Jeder Genosse werde wohl selber wissen, „wie kaputt Mann wirklich ist, wie kaputt seine Sexualität, seine Phantasie, seine Fähigkeit, gewaltfreie Beziehungen einzugehen“. Denn die Frauen hätten „eine ziemlich radikale Konsequenz aus ihrer Kritik an uns gezogen (und ziehen sie noch): Sie lösen sich von uns, trennen sich von uns, wollen mit uns nichts mehr zu tun haben“. Darum bliebe nun auch den Männern jetzt „nur ein Weg: Die Trennung von uns selbst" (so wörtlich der heutige Außenminister, zitiert nach Gerd Koenen in „Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution“).
In der Tat, Mitte der 70er Jahre waren die Feministinnen in aller Munde und die Revolutionshelden out. Prompt retirierten die verunsicherten Machos auf die klassisch männlichen Terrains: auf Sex und Gewalt.
Ein Vierteljahrhundert später wissen wir, wie es weiterging. Zu viele dieser einst halb einsichtigen Männer haben sich letztendlich keineswegs von „sich selbst“, vom Männlichkeitswahn getrennt, sondern von uns, den kritischen Frauen. Warum? Weil der als so schmerzlich empfundene Druck der Frauen nachgelassen hatte; weil den Frauen die Luft ausgegangen war; weil sie Kinder bekamen und dadurch wieder abhängiger wurden. Die Mehrzahl der kritisierten Männer wich auf bequemere Frauen aus und versöhnte sich mit der Machowelt. Denn die machte den angeknackten Helden verlockende Angebote – einzige Bedingung: Die Fast-Softies mussten abschwören, mussten wieder Männer werden, echte Männer. So kam es, dass die Protestler von früher heute selber an der – von ihnen einst so bekämpften – Macht sind.
Cohn-Bendit gehört zu der Minderheit, die es sich nie ganz so einfach gemacht hat – aber eben dennoch zu einfach. In seinem Interview mit Libération betont er heute, von Anfang an sensibilisiert gewesen zu sein für das Selbstbestimmungsrecht der Kinder. So habe er, Seite an Seite mit den Feministinnen, schon 1971 gegen die Legalisierung der homosexuellen Pädophilie protestiert. Was ihn allerdings nicht hindern konnte, sich noch Jahre später selbst so schockierend zu verhalten.
Ich erwarte gerade von Daniel Cohn-Bendit endlich ein klares Wort!
Zu guter Letzt will ich nicht verschweigen, dass mich eine lange und (einseitig) sentimentale Geschichte mit Dany le Rouge verbindet. Beide sind wir als politisch Handelnde geprägt von Frankreich wie Deutschland. Und dem Geist der Pariser Barrikaden. Zum ersten Mal bin ich ihm schon vor 33 Jahren, nämlich Ostern 1968, begegnet. Damals gehörte ich zu den 200, 300 Menschen, die dem Aufruf zum Protest vor der deutschen Botschaft in Paris gegen das Attentat auf Rudi Dutschke gefolgt waren. Wortführer war ein kleiner, stämmiger Rothaariger, der uns, wie ein Schäferhund die Herde, von der Botschaft zum Place Saint Michel bugsierte. 1969 sah ich ihn wieder: Zu der Zeit war ich Reporterin bei Pardon und erlebte, wie Dany wie ein Matador in den Frankfurter Republikanischen Club einzog, gefolgt von einem kichernden Schwarm Groupies.
1971 begegneten wir uns wieder, diesmal unter gegenseitiger Wahrnehmung, bei Sartre in Paris: Ich hatte kurz zuvor ein viel diskutiertes Interview mit Sartre über die Frage der „revolutionären Gewalt“ veröffentlicht. 1974 begegneten wir uns erneut Seite an Seite mit Sartre, diesmal in Stuttgart: Beide getrieben von der Sorge, der zu einem Besuch bei dem RAF-Führer Andreas Baader überredete kranke alte Mann könnte funktionalisiert werden von den Kräften, die den „bewaffneten Kampf“ propagierten.
Dann irgendwann stand die Frauenfrage zwischen uns. Ich war eine – auch von der Linken – unabhängige Feministin; er ein linker Leader, der nun zunehmend für vieles stand, was ich bekämpfte. Der von ihm jahrelang herausgegebene Pflasterstrand dürfte, viel mehr noch als sein Buch, eine Fundgrube sein für die von Feministinnen zu Recht beklagte linke Sexualpolitik.
Auch darum erwarte ich gerade von Daniel Cohn-Bendit endlich ein klares Wort. Ich erwarte, dass er sich nicht wieder rausredet, sondern dass er die Verantwortung übernimmt für das, was er gedacht, getan und gepredigt hat.