Dann müsste ich ja was tun…

Susanne Matthiessen (re) mit Clique in den 70ern in Westerland.
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Es war kalt, es war stürmisch, es waren Weihnachtsferien, ich kam auf die Insel und wollte wie immer Pfuschi besuchen. Tante Lorenzen stand in der Tür der alten Scheune, umarmte mich gleich, zog mich in die Küche, wo wie immer auch Pfuschis Vater auf der Eckbank saß. Der alte Kapitän Herbert Lo, bekannt für sein mildes Dauerlächeln und die weißen, welligen Haare. Er sieht immer vergnügt aus und wirkt meistens tiefenentspannt. Ganz anders als die Sylter, die ich sonst so kenne, die immer heftig unter Stress stehen, weil die Geschäfte laufen und laufen müssen.

Ich will mich gerade zum alten Kapitän hinunterbeugen, um ihn zu begrüßen, da kommt Pfuschi um die Ecke und zischt: „Fass ihn nicht an!“ Herbert Lo lächelt weiter, als wenn nichts wäre, ihre Mutter fragt: „Tee?“, und Pfuschi zieht mich aus der Küche. Der Schreck sitzt mir im Nacken. „Spinnst du?“, herrsche ich Pfuschi an, deren Punk-Outft heute mal Pause macht. Sie trägt einen Norwegerpulli, darunter allerdings drei Nietengürtel, die schräg über der Hüfte hängen. Und die vielen Ohrringe ziehen an den Seiten ihr Gesicht nach unten. Jedenfalls denkt man das.

„Fass ihn einfach nicht an“, sagt Pfuschi noch mal, „nicht mal die Hand geben! Nicht mit ihm sprechen!“ Sie drängt mich raus ins Wohnzimmer, vorbei an ihrem jüngeren Bruder Arendt, der wie eine Mumie eingewickelt auf dem Sofa liegt, ohne sich zu rühren, raus in den Innenhof.

Ich bin nicht vorbereitet auf die Offenbarung, die nun folgt. Nicht auf die Krämpfe, nicht auf die Schreie, nicht auf die Wut. Ich stehe da in meinen Gummistiefeln und friere. Als sie sagt: „Ich ekel mich vor ihm. Er hat schlimme Sachen mit mir gemacht“, kommt vom Inhalt bei mir überhaupt nichts an. Ich verstehe nicht, was sie sagt. Was antwortet man da? „Das tut mir leid“?

„Fuck you!“, sagt Pfuschi und heult. „Du hast dich nie wirklich für mich interessiert.“ Ihr ganzer Körper schüttelt sich, sodass ich nicht weiß, ob sie jetzt wieder pfuschilacht oder ob das Ganze wirklich ernst ist. Es könnte auch eine ihrer Pfuschilaunen sein. Dass sie so extrem ist, fand ich ja immer schon toll. Aufsässig und rotzig vor allem in der Schule. Und dann war sie auch immer Künstlerin, hat gemalt und kleine Möbel gebaut. Von ihr habe ich tapezieren gelernt – mit Alufolie. Ihr Zimmer: ganz in Silber. Nachts war sie lange wach, morgens immer verschlafen. Wir haben uns viel rumgetrieben. Mal war sie dünn wie ein Streichholz, dann wieder „eine starke 46“, wie mein Vater in unserem Geschäft elegant Übergrößen beschreibt. „Woran merkst du, dass du zu dick geworden bist?“, hat sie mich mal gefragt. „Wenn du am Strand liegst und Leute angerannt kommen, um dich ins Meer zurückzurollen.“

Zwischendrin war Pfuschi sogar mal nach Berlin abgehauen, lange vor dem Abitur, und hat in besetzten Häusern gelebt. Aus der Zeit habe ich noch eine Postkarte von ihr. „Alles Schweine. Außer Mutti.“ „Versprich mir, dass du nie wieder ein einziges Wort mit ihm redest“, quetscht Pfuschi aus ihrem zitternden Körper raus.

„Okay“, sage ich und lege meine Hand auf ihre Schulter. Ich denke daran, wie es wohl sein würde, nie wieder mit Herbert Lo zu plaudern. Einfach so. Ihm nie wieder die Hand zu geben. Wie das funktionieren soll. Man trifft sich ja überall. Eigentlich nimmt er mich sogar immer in den Arm zur Begrüßung.

„Ich muss da jetzt total konsequent sein, verstehst du?“, schnauft Pfuschi ohne Taschentuch und wischt sich den Rotz mit dem Ärmel ab. „Ich bin da jetzt ganz konsequent.“ „Und deine Mutter?“ Was anderes fällt mir gerade nicht ein. „Meine Mutter? Die hat es gewusst. Muss sie ja.“ -  „Okay“, sage ich.

„Okay? Okay? Was ist daran okay?“ Die letzten Worte kreischt Pfuschi eher, als dass sie schreit. Sie schubst mich, dass ich stolpernd rückwärts drei Schritte machen muss, um nicht hinzufallen. Sie rastet vollkommen aus. „Was sagst du dazu?“, kreischt sie. „Was sagst du dazu?“, heult sie. Was ich dazu sage? Irgendwie nichts. Dieser Druck. Mir tun die Ohren weh. Pfuschi ist auf einmal eine fremde Person. Nicht die, die ich kannte.  Alles fliegt gerade auseinander.

Ich sehe mich bei den Lorenzens am Küchentisch sitzen. Ganz gemütlich nach der Schule. Tante Lorenzen schiebt mir Bratkartoffeln rüber. Dazu gibt es Sauerfleisch und dicke Gewürzgurken. Herbert Lo erzählt, wie er früher Kaninchen im Stall hatte, einmal die Tür nicht richtig zugemacht hat und wie eine Möwe dann eins mitgenommen hat. „Nicht wahr!“, sagt Pfuschis Bruder Uwe. Und Herbert Lo lacht sich ins Fäustchen. „War ein sehr kleines Kaninchen“, sagt er.  

Die Lorenzens sind wie meine Familie. Es heißt ja: Wenn man sich ohne zu fragen etwas aus dem Kühlschrank nehmen darf, dann ist das Familie. Ich weiß, in welcher Schublade die Schokolade liegt, wo der Sekt im Keller steht, mit welchem Messer das Brot geschnitten wird. Wie kann es sein, dass ich niemals bemerkt habe, dass Pfuschi und ihr Vater Sex hatten? Es sprengt meine Vorstellungskraft. Ich kenne die Begriffe. Vergewaltigung. Missbrauch. Übergriff. Gewalttat. Es gelingt mir nicht, Herbert Lo und Pfuschi damit in Zusammenhang zu bringen. 

Pfuschi ist jetzt ganz ruhig geworden. „Ja. So war das“, sagt sie, „jetzt bist du platt, oder? Ein paar Jahre habe ich nicht mehr dran gedacht.“ – „Und jetzt?“ – „Jetzt versuche ich klarzukommen.“ Ich denke an das Archsumer Dorffest, ich war vielleicht 14 oder 15, als Herbert Lo ganz schön einen getankt hatte und im allgemeinen Gewühl die ganze Zeit versucht hat, mich zu umarmen. Die Musik spielte laut, Alkohol war tabu, jedenfalls wenn unsere Eltern dabei waren. Und mir war dieses plumpe Angerempel absolut unangenehm. So wie er sich an mich gepresst hat. Ich habe mich immer wieder weggedreht, rausgewunden, bin abgetaucht, in die Knie gegangen und habe dabei auch gelacht.

Irgendwann ist dann Herbert Lo zu meinem Vater rübergewankt und hat sich bei ihm beschwert. „Peida, deine Tochter lässt sich von mir nicht umarmen. Da musst du mal ein Machtwort sprechen.“ Und dann kam mein Vater und sagte, ich soll jetzt mal nicht so ruppig und abweisend sein. Ich soll mal nett sein. 

Wie Kinder sich verhalten müssen, haben die Eltern einfach vorgeschrieben. Da gab es keine Diskussionen. „Sag Guten Tag!“, „Stell dich nicht so an!“. Funktioniere bitte. „Das ist doch Herbert. Den kennen wir doch. Der braucht ein bisschen Pflege.“ Und dann sagte er noch, wenn ich das Gefühl hätte, Herbert müsste nach Hause gebracht werden, solle ich ihm Bescheid sagen. Pfuschi hat sich damals kaputtgelacht. In ihrer traurigen Hilflosigkeit. Aber so war das eben. Ein typisches Dorffest.

Und da fallen mir mit Herbert Lo noch einige andere Situationen ein, die man alle so oder so sehen kann. Alles eine Frage der Perspektive. Auf meine kam es ja nicht an. Wem hätte ich mich anvertrauen sollen? Tante Lorenzen hat immer Späße darüber gemacht, hat „So isser eben“ gesagt. Es waren ja viele so. „Na, mien Deern, heute schon die Sonne geputzt?“ Und dann wird einem in die Haare gegriffen oder auf den Hintern gehauen. Ganz normal eben. Das hat man so geschehen lassen. Notgedrungen. Es hatte etwas von einem Naturgesetz. Ich wäre gar nicht auf die Idee gekommen, so ein Verhalten infrage zu stellen. „Was ist mit deinen Brüdern?“, frage ich Pfuschi. – „Keine Ahnung.“ – „Hast du mit denen nicht gesprochen?“ – „Ich geh doch nicht zu Uwe und sage: Hör mal, ich muss dir was erzählen. Ich geh auch nicht zu Arendt und wickle den aus der Decke.“

„Und deine Mutter?“ – „Schaff ich nicht.“ – Würde ich auch nicht schaffen. „Ich kann sie nicht zur Rede stellen“, Pfuschis Augen schwimmen im Meer, „dann zwinge ich ihr was auf. Dann müsste sie was machen.“ Mit dem Haus, mit der Familie, mit der Gästevermietung, mit der ganzen Insel. Mit der Kirchengemeinde, mit Pastor Giesen, mit dem Häkelclub, mit der Gymnastikgruppe und mit Rudi Wieda von der Raiffeisenbank in Morsum wegen der Kredite. Was Pfuschi sagt, höre ich gedämpft. Wie aus der Ferne. „Dann müsste sie was machen.“ Als ob Pfuschi etwas durch den Seenebel ruft. Dann würde sich alles verändern. Unsere ganze Welt. Dann müsste ja nicht nur Pfuschis Mutter was machen. Dann müsste ich was machen. Dann müssten meine Eltern was machen. Die ganze Clique. Dann müsste die Polizei was machen.

Ich möchte nichts mehr hören.

Meine rastlos zuckenden Beine bereiten schon mal die Flucht vor. Aber ich stecke schon viel zu tief im Schlick des Wattenmeers. Wenn man erst einmal eingesunken ist, kommt man nicht mehr raus. Es entsteht ein Unterdruck, der den Körper buchstäblich immer tiefer saugt. Man kann die Leute nicht zählen, die im Wattenmeer auf diese grausame Art ums Leben gekommen sind. Man steckt fest, und dann läuft die Flut auf. Das geht überraschend schnell. Das Wasser steigt schneller, als man laufen kann. Wenn man laufen könnte. Aber man ist gefangen. Man kann einfach nur zusehen und nichts tun.

Dann hilft nur noch eine Luftdrucklanze, von der Feuerwehr hier oben an der Küste selbst entwickelt und gebaut. Dabei wird ein langes Stahlrohr in den Schlamm gesteckt und Luft hineingepumpt. So wird der Unterdruck aufgehoben, und die Feuerwehr kann einen rausziehen. Eine solche Rettungsaktion wäre jetzt sehr hilfreich. Man steht im Schlick und sinkt ganz langsam immer tiefer. Aber die Feuerwehr kommt nicht.

Pfuschi habe ich nach diesem Abend zunächst nicht wiedergesehen. Ich bin Sylt ferngeblieben, habe mich mit meinem anderen Leben fern der Insel beschäftigt und durch andere Sachen abgelenkt. Und ich war auch stinkig auf sie, weil sie mir diese Geschichte erzählt hat. Das hat alles so eingesaut und schwierig gemacht. Ich wusste nicht, wie ich ihr helfen sollte. Es war ja nun passiert. Man konnte es nicht rückgängig machen. Ich war erschüttert, sie tat mir leid, aber ich tat einfach – nichts.

Auszug aus: Diese eine Liebe wird nie zu Ende gehen. Roman einer Sylter Jugend (Ullstein, 22 €)

 

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