Das andere Achtundsechzig

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Die „68er“, das sind junge Männer auf Barrikaden: Studentenführer am Mikrofon, Demonstranten-Ketten vor Polizeiwasserwerfern, Kommunarden mit wippender Lockenmähne. Denn so sieht Aufbruch aus: wortgewaltig wie Dutschke, lächelnd wie Langhans und mit schräger Kappe und Gewehr mutig wie Che Guevara. Und in der Tat fegte in jenen Jahren ein frischer Wind durch die brave Nachkriegsrepublik.

Aber die Sache begann natürlich früher und sie war auch nichts spezifisch Deutsches, ab 1967 revoltierten Menschen weltweit. Ihr Zorn richtete sich gegen den Krieg in Vietnam (USA), gegen elitäre Bildungssysteme (Frankreich), gegen die Monarchie im eigenen Land (Äthiopien). Hierzulande, genauer: in Westdeutschland, brüllte man gegen eine konservative Bundesregierung, gegen die Springerpresse und gegen das bürgerliche Establishment. Später bezeichneten dann nicht zuletzt die Wortführer von damals sich selbst als „die 68er-Generation“.

Achtundsechzig liegt heute fünfzig Jahre zurück. Die Helden feiern sich, Selbstkritiker geben sich bedenklich, Besserwisser giften: Alles sei ja dann ganz anders gekommen, die „68er“ hätten nichts erreicht. Soweit die Erinnerungsroutinen. Ähnlich klang das schon beim letzten Jubiläum 2008. Dass das zu kurz gegriffen ist und mal wieder auch die Rolle der Frauen verschweigt, war ausführlich in der letzten EMMA-Ausgabe zu lesen.

Auch Christina von Hodenberg sieht das anders. Die in London lebende und lehrende Historikerin hat eine Studie über „Das andere Achtundsechzig“ veröffentlicht. Kein nostalgisches ‚Ich-war-dabei‘. Auch keine reißerische Abrechnung mit irgendwem. Vielmehr ein gründlich recherchiertes, zahlen- und detailfreudiges Werk, das unaufgeregt ein völlig anderes Szenario liefert. Sie kommt zu dem Schluss, dass 68 nicht auch, sondern vor allem das Aufbegehren der Frauen war.

Der Aufbruch der Frauen war zwar ein stilles, aber breites, generationenübergreifendes, und vor allem: ein wirksames und nachhaltiges Aufbegehren. Denn anders als der demonstrative Protest der männ­lichen Aktivisten, der bald in sektiererischen Zirkeln endete, wurde nicht zuletzt die Revolte von 68 für die Frauen drei Jahre später zum realen Aufbruch. Sie ­änderten keine Regierungen, aber ihr ­Leben und ihre Träume. Die weiblichen Lebensentwürfe griffen das Beste von 68 auf: Bildung für alle! Haus­arbeit für alle! Auflösung der patriarchalen Rollen in Familie und Öffentlichkeit! ­Abwendung von Autoritäten – hier: auch den linken Vordenkern im eigenen Lager – sowie die Lektüre und Weiterentwicklung „eigener“ Theorie.

Die Solidarisierung gerade nicht nur „unter Revolutionären“, sondern von Frauen mit Frauen aller Klassen und Generationen war die Folge. Den feministischen Aufbruch, der mit der Abtreibungsdebatte begann und auch die Machtfrage in Bezug auf den weiblichen Körper, die Sexualität, die Arbeit und den Besitz stellte, nahmen die Frauen 68 zwar nicht vorweg. Aber der Weg führte in die Frauenbewegung der 1970er-Jahre geradewegs hinein.

Die einzig wirklich berühmte „Achtundsechzigerin“, bilanziert Christina von Hodenberg trocken, sei ausgerechnet die in Illustrierten als barbusige Sexbombe vermarktete Kommunardin Uschi Obermaier gewesen. Was aber sei mit den Vorreiterinnen der Frauenbewegung von 1968, wie Helke Sander, Sigrid Damm-Rüger und nicht wenigen anderen? Die Stimmen dieser Frauen hätten die Medien mutwillig überhört.

Das Buch „Das andere Achtundsechzig“ stellt nun freilich nicht einfach ‚vergessene‘ Heldinnen gegen die bekannten männlichen Helden. Christina von Hodenberg geht einen methodisch überraschenden Weg. Sie sichtet einen fast vergessenen – riesigen – Datenbestand, das Tonbandarchiv des Forschungsprojektes „Bonner Längsschnittstudie des Alters“ (kurz: BOLSA) komplett neu. Zwischen Mai 1967 und August 1968 hatten im Rahmen dieser Studie sozialwissenschaftliche Altersforscher insgesamt 180 ältere Männer und Frauen (repräsentativ ausgewählt für unterschiedliche Bevölkerungs- und Bildungsgruppen) über jeweils viele Stunden hinweg zu ihrem Lebenslauf, ihren Einstellungen und auch zu politischen Themen interviewt. Das Material spiegelt also, ohne zu diesem Zweck gesammelt worden zu sein, die Sichtweisen der älteren deutschen Normalbevölkerung – unter anderem über „die Jugend“ wider.

Überraschenderweise stößt Christina von Hodenberg hier nun erstens auf eine ältere Generation, die sich bemerkenswert liberal äußert. Man stimmt den Studentenprotesten sogar zu (solange es sich nicht um verlotterte „Hippies“ handelt). Zusätzliche Zeitzeugengespräche bestätigen diese offene Haltung der damals viel geschmähten Älteren. Am selbstgestrickten Mythos der männlichen 68er, man habe sich gegen autoritäre oder gar nationalsozialistisch belastete Eltern auflehnen müssen, ist auch beim Blick auf die konkreten Familienverhältnisse der protestierenden Studentenführer an der Uni Bonn so gut wie durchgehend nichts dran.

Zweitens zeigt sich: Achtundsechzig war weiblich, Frauen waren dabei und haben ihre eigenen Probleme artikuliert. So löst sich in Bonn bereits 1967 ein rein weiblicher „Arbeitskreis Emanzipation (AKE)“ von den Aktivisten-Kreisen der protestbereiten Bonner Studentenschaft ab. Als die (konservative) Bonner Studentenzeitung zwei der Studentinnen vom AKE interviewt, illustriert die (männliche) Redaktion den Text unabgesprochen mit Nacktbildern und titelt reißerisch: „Oben ohne macht frei – Emanzipation heute“. Räume kritischen Nachdenkens bieten sich erst, wo sich Frauengruppen bilden. Zu spüren, dass auch in den linken Kollektiven etwas sehr grundlegend nicht stimmt, bringt die Frauen auf neue Weise zusammen. Nun traf man sich in Privatwohnungen und las gemeinsam ­Simone de Beauvoirs „Das andere Geschlecht“. Das Buch war ‚ein Aha-Erlebnis‘ für viele.

Auch die Mütter-Generation – belegt die BORSA-Studie – trägt die Emanzipationsideale mit, nicht alle mehr „Trümmerfrauen“, aber doch den Grenzen des Hausfrauendaseins bewusst. Auch Sex vor der Ehe war für diese Frauen kein Tabu, viele von ihnen lebten bereits „in einer Grauzone zwischen traditionellen und neuen Lebensstilen“. Sie klagten, schon ihre eigene Jugend sei leider unfrei und fremdbestimmt gewesen. Nun finden sie, Frauen sollten sich und die eigene Lage ernst nehmen. Und Rechte und Anerkennung fordern!

„Ich wollte meinen Ohren stärker trauen als meinen Augen und meinen Tonbändern mehr als den visuellen Ikonen der Revolte“, kommentiert von Hodenberg ihr Projekt. Der lange Marsch, den die SDS-Männer ausriefen, sei im Ergebnis einer der Frauen gewesen. Handfest und dauerhaft vollzog er sich „in den Einbauküchen der Republik“. Denn neben den einigen tausend Aktivisten des SDS begann für eine um ein Vielfaches größere Zahl von entschlossenen Frauen ein viel tiefergreifender Aufbruch. Und ihr Achtundsechzig hat – mit dem, was ab 1971 folgte – auch in Deutschland Geschichte gemacht!

Weiterlesen:
Christina von Hodenberg: Das andere Achtundsechzig. Gesellschaftsgeschichte einer Revolte (C.H. Beck, 24.95 €)

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