„Das ist eine Provokation!“
Es ist eine, gelinde gesagt, erstaunliche Entscheidung, die die Cinématèque Française da gefällt hat. Während die ganze Welt über Harvey Weinstein debattiert und Hunderttausende Frauen über #Meetoo das epidemische Ausmaß sexueller Übergriffe offenbaren, kündigt das Filminstitut an, Roman Polanski eine Retrospektive zu widmen: einem mutmaßlich notorischen Vergewaltiger.
„Wir stellen seine cineas-
tische Karriere nicht in Frage.“
Frankreichs Frauenorganisationen protestieren. „Wir stellen Polanskis cineastische Karriere nicht in Frage“, erklärt das „Collectif Sexisme sur écrans“ (Sexismus auf den Bildschirmen). „Aber es handelt sich trotzdem um eine zweifelhafte Person. Ihn mitten in der Affäre Weinstein zu beweihräuchern, ist eine Provokation!“
Das findet auch die Initiative „Politiqu’elles“. „Die Cinématèque stellt Polanski auf ein Podest. Man kann aber ein brillanter Künstler sein und trotzdem eine unmenschliche Person“, erklärt Fatima El Ouasdi, Gründerin der Initiative, die für mehr weibliche Präsenz streitet: im Parlament, in Unternehmen und auf den Bildschirmen.
Gerade drei Wochen ist es her, dass Renate Langner Polanski bei der Schweizer Polizei angezeigt hatte. Der Vorwurf: Im Februar 1972 habe der damals 39-jährige Regisseur die 15-jährige Schülerin in Gstaad vergewaltigt. Langner hatte damals in München als Model gejobbt und Polanski dort kennengelernt. Er habe angedeutet, sie in einem Film besetzen zu wollen. Daraufhin sei sie mit Erlaubnis ihrer Eltern allein zu ihm in die Schweiz gereist, wo er noch heute ein Chalet besitzt. Dort habe er sie in seinem Schlafzimmer vergewaltigt.
Die heute 61-jährige Renate Langer ist bereits die vierte Frau, die der heute 84-jährige Regisseur als Jugendliche vergewaltigt haben soll. Samantha Geimer war 13, als Polanski sie mit Drogen und Alkohol gefügig machte und das Mädchen vaginal und anal missbrauchte. Der Regisseur entzog sich der Gefängnisstrafe durch Flucht aus den USA, wo er bis heute nicht einreisen darf. Zwei weitere Frauen beschuldigen den Regisseur, sie als 16-Jährige vergewaltigt zu haben.
Das ficht jedoch die Cinématèque nicht an. Von einer Provokation könne gar keine Rede sein, erklärt Frédéric Bonnaud lapidar. „Die großen Regisseure haben nun mal alle zwölf Jahre das Recht auf eine Retrospektive“, sagt der Leiter des Filminstituts, das von staatlichen Subventionen lebt und dem seit seiner Gründung im Jahr 1935 noch keine einzige Präsidentin vorstand.
Die Französinnen aber haben die Nase voll. Gerade zwei Wochen ist es her, dass ein anderer Gewalttäter von den französischen Medien gehypt wurde als sei nichts gewesen: Bertrand Cantat. Der Rocksänger hatte 2003 seine Lebensgefährtin, die Schauspielerin Marie Trintignant, in einem Hotelzimmer in Vilnius aus Eifersucht erschlagen. Weil Cantat stundenlang keinen Krankenwagen rief, starb Trintignant schließlich an ihren schweren Verletzungen.
„Aber es handelt sich um eine zweifelhafte Person."
Macht nichts. Das Musikmagazin Les Inrockuptibles hob den Totschläger, der nach nur zweieinhalb Jahren wegen „guter Führung“ entlassen worden war, mit seiner neuen Solo-LP auf die Titelseite. „Viele Künstler, die Täter oder mutmaßliche Täter sind, werden von der Gesellschaft rehabilitiert und einfach weiterhin geehrt“, klagt Fatima El Ouasdi.
Vielleicht ist ja im Fall Polanski das letzte Wort noch nicht gesprochen. Als der Regisseur im Februar dieses Jahres Ehrenvorsitzender der César-Verleihung werden sollte, protestierten nicht nur Feministinnen mit einer Petition, die von 60.000 Menschen unterzeichnet wurde, sondern sogar die damalige französische Frauenministerin Laurence Rossignol von der Sozialistischen Partei. „Ich finde es schockierend, dass eine Vergewaltigung im Leben eines Mannes keine Rolle spielen soll“, hatte Rossignol erklärt . Das sei „eine Verhöhnung der Opfer“. Vielleicht kommt die Cinématèque Francaise ja auch noch zu diesem Schluss.
Chantal Louis