Das Netzwerk des Helmut Kentler

Der pädokriminelle Reformpädagoge Helmut Kentler war besonders gut in der evangelischen Kirche vernetzt. FOTO: ullstein bild/Ingo Barth
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Er hatte in den 1980ern sechsmal im Gefängnis gesessen, weil er Jungen missbraucht hatte, einmal hatte er versucht, einen Achtjährigen anal zu vergewaltigen. Dass Dieter Fritz Ullmann ein Pädokrimineller war, war bestens bekannt. Nicht nur wegen seiner Knastaufenthalte, sondern auch, weil Ullmann 1979 ganz offiziell die „Deutsche Studien- und Arbeitsgemeinschaft Pädophilie“ (DSAP) gegründet hatte. Die Lobbyorganisation unterwanderte Grüne und FDP ebenso wie den Kinderschutzbund und setzte sich ganz offen dafür ein, sexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen und Kindern zu legalisieren.

Als Dieter F. Ullmann mal wieder einen Prozess wegen Kindesmissbrauchs am Hals hatte, brauchte er Geld für einen Anwalt. Er bekam es, und zwar von einer Initiative, die sich Nächstenliebe und Mitmenschlichkeit auf die Fahnen geschrieben hatte: die Gruppe „Homosexuelle und Kirche“ (HuK). Die HuK hatte sich 1977 auf dem Evangelischen Kirchentag gegründet, um gegen die Diskriminierung lesbischer und schwuler Kirchenbediensteter zu kämpfen. 

Doch bald klopfte eine weitere Gruppe an die Tür der HuK: Pädosexuelle. Die hießen damals noch nicht so, sondern galten in diesen „fortschrittlichen“ Kreisen als Befreier der unterdrückten kindlichen Sexualität. Und so machte die HuK die Tür weit auf und rief in ihrer Vereinszeitschrift zu Spenden für Päderasten auf, unter anderem für den verurteilten Sexualstraftäter Dieter F. Ullmann. 

Es dauerte vier Jahrzehnte, bis die HuK das Ungeheuerliche in einer Studie aufarbeiten ließ, die im Februar 2024 veröffentlicht wurde. Titel: „Pädofrage – unentschieden? Die Ökumenische Arbeitsgruppe Homosexuelle und Kirche (HuK), Helmut Kentler und der lange Weg zur Abgrenzung von sexualisierter Gewalt gegenüber Kindern“. Da ist er wieder, dieser Name: Helmut Kentler.  

Kurz vor der HuK-Studie hatte die sogenannte ForuM-Studie (ForuM = Forschung zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland) im Auftrag der EKD das erschütternde Ausmaß sexuellen Missbrauchs in der evangelischen Kirche offenbart. Und auch diese Studie hatte darauf aufmerksam gemacht, wie groß der Einfluss des renommierten Sexualpädagogen und Pädokriminellen Helmut Kentler gerade in evangelischen Kirchenkreisen gewesen war. 

Der Star der Reformpädagogik hatte sexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen und Kindern propagiert und damit eine glänzende Karriere gemacht. 1973 hatte Kentler unter Mitwirkung des Berliner Jugendamtes sein „Experiment“ gestartet: Er sorgte dafür, dass vernachlässigte Jugendliche bei Päderasten untergebracht wurden und verkaufte dies als Win-Win-Situation. Was heute ungeheuerlich erscheint, galt damals in „fortschrittlichen“ Kreisen als Kampf gegen die spießige Sexualmoral der 50er Jahre. Auch in der evangelischen Kirche. 

„Dass sich viele HuK-Mitglieder nicht schon früher zu einer eindeutigen Verurteilung durchringen konnten, mag unter anderem darauf zurückzuführen sein, dass sie sich über viele Jahre an der vermeintlichen Expertise des Hannoverschen Sexualpädagogen Helmut Kentler orientierten“, erklärt Prof. Klaus Große Kracht von der Hamburger Forschungsstelle für Zeitgeschichte und Verfasser der Studie. „Über viele Jahre war er Mitglied der HuK mit großem Einfluss.“ Kentlers „bagatellisierende Ansichten im Hinblick auf sexuelle Kontakte zwischen Kindern und Erwachsenen wurden auch in der Vereinszeitschrift der Huk publiziert“. 

Erst 1997 verabschiedete die HuK eine sogenannte „Unvereinbarkeitserklärung“, dies aber nur auf Druck des Dachverbandes „International Lesbian and Gay Association“ (ILGA) sowie von „Feministinnen und lesbischen Aktivistinnen“, so der Forscher Große Kracht. „Sie machten den schwulen Männern sehr deutlich, dass es einvernehmlichen Sex zwischen Männern und Kindern nicht geben kann. Alice Schwarzer wäre hier zu nennen.“

In der Tat: EMMA hatte bereits 1993 zum ersten Mal über das ungeheuerliche Berliner „Experiment“ berichtet. Zunächst ohne Resonanz in den feinen linken, grünen und reformpädago­gischen Kreisen. Noch im Mai 1997 schlug Helmut Kentlers Hannoveraner HuK-Gruppe den aktiven Pädosexuellen für den Magnus-Hirschfeld-Preis vor. EMMA schickte ihre Artikel über Kentlers Machenschaften per Fax an die Jury. Am Vorabend der Preisverleihung wurde die Sache abgeblasen. 

27 Jahre später bedauert der HuK-Vorstand heute: „Viele Mitglieder zeigten eher Solidarität mit Pädosexuellen als Sensibilität für die Situation von Kindern und Jugendlichen. Für unsere Haltung bitten wir Opfer und die Öffentlichkeit um Entschuldigung.“ Und: „Wir danken ausdrücklich den Frauen und Männern, die in unserer Gruppe Mitte der 90er Jahre das Bewusstsein für Pädosexualität als Gewalt gegen Kinder geweckt haben.“ 

Wie weit verzweigt und wie mächtig das Netzwerk war, das Helmut Kentler geknüpft hatte, zeigt eine weitere Studie: „Helmut Kentlers Wirken in der Berliner Kinder- und Jugendhilfe“. Schon 2020 hatte ein Forschungsteam der Universität Hildesheim recherchiert, dass Kentler keineswegs nur in Berlin sein Unwesen trieb, sondern in ganz Deutschland Mittäter hatte. 2024 stellt das Team gemeinsam mit der Berliner Senatorin für Bildung, Jugend und Familie, Katharina Günther-Wünsch, seinen Abschlussbericht vor. Der zeigt: Das Netzwerk der Pädokriminellen und ihrer UnterstützerInnen reicht vom Pädagogischen Zentrum Berlin bis zur Odenwaldschule, vom Pädagogischen Seminar Göttingen und dem dort ansässigen Jugendprojekt „Haus auf der Hufe“ bis zum Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, von der Pädagogischen Hochschule Lüneburg bis zu den Sozialtherapeutischen Wohngruppen in Tübingen. Überall finden sich die gleichen Professoren und Pädagogen, die Pädosexualität verharmlosen, sich teilweise selbst zur „Pflegestelle“ erklären und ihre Zöglinge missbrauchen. 

„Dieses institutionalisierte Rahmenwerk hat ermöglicht, dass Kinder und Jugendliche – ausgehend vom Landesjugendamt Abteilung III A – in dem Netzwerk verteilt bzw. sich gegenseitig untereinander ‚zugeführt‘ wurden“, schreiben die ForscherInnen. Dabei seien „sukzessive die formellen Verfahren des Landesjugendamtes und der Jugendämter aufgelöst und Parallelverfahren institutionalisiert“ worden. So seien „formelle Verfahren manipuliert“ oder „Eltern der jungen Menschen unter Druck gesetzt“ worden. Dies sei möglich gewesen, weil „die primär männlichen Akteure des Netzwerks einerseits machtvolle Positionen innehatten und sich andererseits selbst als Organ der Kinder und Jugendhilfe institutionalisiert haben“, zum Beispiel als Pflegestellen, Gutachter, Supervisoren oder freie Träger. 

Fazit: „Wie spätestens mit diesem Bericht deutlich geworden sein sollte, sind auch andere Landesjugendämter in den Strukturen des Netzwerks verwoben gewesen. Daher besteht auch bei diesen Institutionen ein dringender Aufarbeitungsbedarf.“ Eins ist klar: Der Fall Kentler ist immer noch nicht zu Ende.

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