Das Schlimmste war der Stern
Irmgard Konrad, geborene Adam, 79, ist eine der 180 Häftlinge, die in diesen Tagen an den Ort des Unvorstellbaren zurückgekehrt sind. Für sie ist es nicht das erste Mal. Irmgard gehört zur "Lagergemeinschaft Ravensbrück", deren Aktive sich regelmäßig treffen, um wider das Vergessen der anderen und den eigenen Schmerz anzugehen. Und um für den Erhalt von Ravensbrück zu kämpfen: als Ort der Besinnung und der Mahnung.
Aus der Nähe sieht sie schon anders aus. "Wenn ich darüber spreche", sagt Irmgard, und ihr Mund zuckt leicht, "dann bin ich sofort wieder der Häftling von einst. Ich habe das gleiche Gefühl, innerlich". Und während sie das sagt, schaut sie rüber zum Lager. Es kostet Häftling Nr. 23196 auch 50 Jahre danach immer wieder Überwindung, den blutigen Boden zu betreten. Heute begleiten sie Sohn und Tochter. "Ich", sagt Irmgard Konrad stolz, "habe meine Kinder kaum damit belästigt. Sie sollten in mir nicht das Opfer sehen."
Irmgard ist in Breslau geboren. Der Vater war Mechaniker und die Mutter ein Dienstmädchen, das aus Liebe zu ihrem Mann zum jüdischen Glauben übertrat. In der Rassenterminologie der Nazis waren Irmgard und ihre drei Brüder also "Halbjuden".
In Auschwitz aber wurde Irmgard als "Politische" geführt. Denn das Herz der fünf Adam-Kinder und frühen Halbwaisen schlug links. Und das Engagement bei den "Genossen" war selbstverständlich für das junge Mädchen. Bei denen hat sie dann auch ihren Fritz kennengelernt: "Ohne meinen Fritz hätte ich die
Stern-Zeit nicht überlebt."
Die "Stern-Zeit", das war die Zeit, in der Irmgard der gelbe Stern angeheftet wurde. "Auschwitz und Ravensbrück haben mich nicht soviel gekostet wie der Stern", sagt sie. Der wird der fassungslosen Irmgard 1941 verpasst. Die Arbeit wird ihr gekündigt, und "Fritz konnte nur noch nachts zu mir kommen". Als es mal gar nicht weitergeht und selbst die tapfere Irmgard "bitterlich weinen" muss, da sagt der Fritz zu ihr: "Mädel, ich trag' den Stern mit." Das half. Zumindest eine Zeit lang.
Fritz taucht unter, wird geschnappt, kommt ins Zuchthaus und wird in das Strafbataillon 999 abgeschoben, quasi ein Todesurteil. Irmgard kommt nach Auschwitz und wird Häftling Nr. 31514. Später, viel später, schreibt sie über ihr Leben als Nummer: "Ich war nicht mehr ich. Ich habe alles mit wachen Sinnen erlebt, aber mein früheres Leben war weg. Fritz vergessen, die Familie vergessen. Es zählte nur noch der Tag, der nächste Moment..." 1943 kommt Irmgard im "Mischlingstransport" nach Ravensbrück, zur Zwangsarbeit bei Siemens.
"Es war die Hölle", sagt sie. "Und am schlimmsten war es für die Frauen, wenn keine Politische dabei war - sie konnten sich dann kaum wehren." Dass Irmgard so eine "Politische" war und sich nie aufs "Jüdischsein" reduzieren ließ, das hat ihr die Kraft gegeben, zu überleben. Zwei Konzentrationslager, Demütigung, Hunger, Typhus, Folter und zuguterletzt noch der "Todesmarsch" - das alles hat sie überstanden, weil sie wusste, dass die anderen unrecht haben. Und dass es zuende sein wird, eines Tages. - Heute, 50 Jahre nach der Befreiung des Lagers Ravensbrück, steht sie da, die Überlebende: als diejenige, die Recht behalten und über ihre Henker triumphiert hat.
Im ersten Stock der ehemaligen Lagerkommandatur ist das Gedränge groß: Da ist das einstige Lagerleben dokumentiert, mit Fotos, Briefen und Gegenständen aus dem Lageralltag. Irmgard beugt sich tief über den Ausstellungskasten. Aufgeregt winkt sie ihre, längst erwachsenen, Kinder und Bruder mit Schwägerin heran: "Seht mal, da..."
Da liegt tatsächlich das winzige Heft, in das ihr die Frauen französische Lieder gekritzelt hatten. Und gleich daneben ein kleiner Krug, den die "Genossinnen" Irmgard zum Geburtstag geschenkt hatten. Am 14. November 1944.
Im nächsten Gang ist eine ganze Ausstellungswand dem Leben von Irmgard Konrad, geborene Adam, gewidmet. Einer von 27 exemplarischen Lebensläufen ehemaliger "Ravensbrückerinnen" in der Dauerausstellung, mit liebevoll ausgewählten Fotos und präzisen Texten (die Lebensläufe sind auch als Buch erschienen).
Fritz hat übrigens überlebt. Irmgards Geschichte hatte also ein Happy End. Wenn auch ein Happy End voller Wehmut und Trauer.
A.S.
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Die "Ravensbrückerinnen", hrsg. von Sigrid Jacobeit und Elisabeth Rrümann-Giidter. Schriftenreihe d. Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, Nr. 4. Edition Henrich. Zu beziehen über die Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, Straße der Nationen, 18798 Fürstenberg.