EU-Parlament: Freier bestrafen!

EU-Abgeordnete Maria Noichl (Mi) und Aussteigerin Amelia Tiganus (neben ihr). Foto: Dennis Lomme/ European Union 2023
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Die acht Frauen, die an diesem 12. September in Brüssel vor einer leuchtend blauen Wand mit den zwölf gelben EU-Sternen stehen und eine Pressekonferenz geben, könnten unterschiedlicher nicht sein. Allein die Politikerinnen gehören fünf sehr unterschiedlichen Parteien an: der konservativen EVP und der Linken, der sozialdemokratischen S&D, der liberalen Renew Europe und den Grünen. Sie stehen Seite an Seite mit drei Frauen, die sich „Survivors“ nennen, Überlebende der Prostitution. Und natürlich kommen alle acht Anwesenden aus verschiedenen Ländern: Schweden, Spanien, Deutschland, Frankreich, Irak. Aber sie wollen alle dasselbe: Dass in der Europäischen Union Prostitution nicht mehr als „Beruf wie jeder andere“ gilt, sondern als Gewalt gegen Frauen. Und dass endlich in allen EU-Ländern diejenigen zur Verantwortung gezogen werden, die die Nachfrage nach Frauen überhaupt erst schaffen: die Freier.

Es scheint, als wäre die EU diesem Ziel jetzt einen entscheidenden Schritt näher gekommen. An diesem 12. September wissen die acht Frauen noch nicht, dass das EU-Parlament zwei Tage später ihren sogenannten Initiativ-Bericht tatsächlich verabschieden wird, der den Titel trägt: „Bericht über die Regulierung der Prostitution in der EU: ihre grenzübergreifenden Auswirkungen und die Konsequenzen für die Gleichstellung und die Frauenrechte“. Dieser Bericht ist, trotz seines etwas sperrigen Titels, eine Bombe.

Jetzt aber läuft noch die Pressekonferenz. Eröffnet wird sie von Maria Noichl. Die Sozialdemokratin aus Rosenheim, die seit 2014 im EUParlament sitzt, hat den Stein ins Rollen gebracht. Sie hat sich die Bekämpfung des Systems Prostitution auf die Fahnen geschrieben und dafür gesorgt, dass dieser „Initiativbericht“ zwei Jahre lang recherchiert, geschrieben und schließlich im Parlament eingereicht wurde. So ein INI-Bericht ist zwar nicht bindend, hat aber durchaus eine Wirkung: „Mit einem Initiativbericht fordert das Europäische Parlament die Europäische Kommission auf, einen Legislativvorschlag zu einem bestimmten Thema zu unterbreiten“, erklärt die EU. Er wird als „wichtige Vorstufe zur Einleitung von Gesetzgebungsverfahren angesehen“.

„Prostitution hat Auswirkungen auf alle Frauen und die gesamte Gesellschaft“, sagt Maria Noichl, und erklärt, auf welche drei Punkte es ihr ankommt: 1. Prostitution ist „keine normale Arbeit“. 2. Menschen in der Prostitution dürfen nicht kriminalisiert werden. 3. „Wir wollen den Blick endlich auf die Nachfrage richten.“ Das sieht Kollegin Christine Schneider von der EVP genauso: „Deshalb unterstütze ich das Nordische Modell, denn es entkriminalisiert die Prostituierten und zieht diejenigen zur Verantwortung, die durch ihr Handeln Prostitution erst möglich machen. Durch ihr Handeln unterstützen die Freier die sexuelle Ausbeutung, den Menschenhandel und die organisierte Kriminalität.“ Die beiden größten Parteien im EU-Parlament sind sich also schon mal einig.

Und dann sprechen die, die bedrückend genau wissen, wovon sie reden: Frauen, die sich selbst prostituiert und genau deshalb an diesem Bericht mitgearbeitet haben. Weil sie wollen, dass es endlich aufhört! „Frauen und Mädchen werden durch Prostitution ein Gegenstand, eine Ware für Männer, in die man masturbieren kann. Die Zahl der sexuell aggressiven jungen Männer steigt, weil sie nicht mehr in der Lage sind, Empathie mit ihren Partnerinnen zu empfinden“, sagt Amelia Tiganus, rumänisch-spanische Aktivistin beim „Movimiento Abolicionista del País Vasco“ und Autorin des Buches „La Revuelta de las Putas“. Und Marie Merklinger, eine deutsche „Überlebende“, berichtet: „Aus eigener Erfahrung weiß ich, was es heißt, scheinbar freiwillig in die Prostitution einzusteigen. So freiwillig das sein kann, wenn die Situation verzweifelt ist und man kurz davor steht, das Obdach für sich und seine Kinder zu verlieren. Ich habe mich Sexarbeiterin genannt, weil es leichter ist, die täglichen Erniedrigungen zu ertragen, wenn ich mir einredete, dass sie ‚freiwillig‘ passieren.“

„Die meisten von uns haben schon sehr früh sexuelle Übergriffe erlebt. Wir sind mit Missbrauch und Gewalt aufgewachsen, wir haben Trauma nach Trauma erlitten. Mir in die Augen zu schauen und mir zu erzählen, Prostitution sei ‚Arbeit‘, ist geradezu eine Beleidigung“, sagt Saga Brodersen. Die Sprecherin des größten schwedischen Survivors Network „Inte din Hora“ (Nicht deine Hure) fordert: „Es ist jetzt an der Zeit, die Kräfte zu bündeln für einen Politikwechsel!“

Zwei Tage später ist es soweit: Das EU-Parlament stimmt mit 234 zu 175 Stimmen für den Bericht! Und der hat es in sich.

Das fängt an mit der Ablehnung des Begriffs „Sexarbeit“, da „die Realität der Prostitution nicht idealisiert werden soll und die Gewalt, der Missbrauch und die Ausbeutung, denen Menschen und insbesondere Frauen und Mädchen bei der Prostitution mehrheitlich ausgesetzt sind, nicht verschleiert werden sollen“. Zahlreiche Studien belegten, „dass in der Prostitution tätige Frauen in höherem Grade ungeheuerlichen Menschenrechtsverletzungen, Gewalt und Ausbeutung (…) ausgesetzt sind als Frauen im Durchschnitt und von Traumata berichten, die mit denen von Opfern der Folter vergleichbar sind“. Fazit: Das EU-Parlament „stellt fest, dass es sich bei der Prostitution nicht um eine individuelle Handlung einer Person handelt, die ihren Körper gegen Geld vermietet, sondern um ein System, das auf Profit ausgerichtet, das von Natur aus gewalttätig, diskriminierend und zutiefst unmenschlich ist und das als Geschäft funktioniert und einen Markt schafft, in dem Zuhälter planen und handeln, um ihre Märkte zu sichern und zu vergrößern, und in dem die Käufer von Sex eine Schlüsselrolle dabei spielen, diese Märkte zu vergrößern.“

Auch dem Argument, dass eine Legalisierung der Prostitution das Leben der Prostituierten sicherer mache, erteilt der Bericht eine glasklare Absage: Es sei eine „Tatsache, dass es für Menschenhändler in Ländern, in denen die Prostitution legal ist, viel leichter ist, den rechtlichen Rahmen zur Ausbeutung ihrer Opfer zu nutzen, und dass es häufig vorkommt, dass Menschenhändler ihre ausbeuterischen Aktivitäten hinter legalen Geschäften verstecken.“ Fazit: „Der Prostitutionsmarkt und damit die Zahl der Ausgebeuteten kann nur schrumpfen, wenn die Nachfrage reduziert wird.

Mit genau diesen Argumenten kämpft EMMA seit Ende der 1970er Jahre gegen Prostitution. Das waren die Jahre, in denen vorgebliche Prostituierte – die real meist Studentinnen waren, die sich maximal gelegentlich prostituierten – begannen zu behaupten, es sei ein „feministischer Akt“, sich zu prostituieren. Und in denen die Prostitutionslobby begann, mit diesen Frauen gemeinsam Propaganda für die später sogenannte „Sexarbeit“ zu machen und auf „Hurenbällen“ gemeinsam mit den Freiern feierte: „Wir sind so frei“.

2001 warnte EMMA, noch vor der Verabschiedung der rot-grünen Reform des Prostitutionsgesetzes: Diese Reform, die die Sittenwidrigkeit der Prostitution aufhob und Bordellbetreiber so zu ganz normalen Unternehmern machte, würde die Frauen in der Prostitution noch mehr ausliefern und nur den Zuhältern und Menschenhändlern nutzen. Die Reform wurde dennoch verabschiedet. Und es kam wie befürchtet.

Seither verschiebt die deutsche Politik die Korrektur dieses tragischen Fehlers, der Deutschland zur europäischen Drehscheibe des Menschenhandels und Einreiseland für Sextouristen machte.

Währenddessen wartet die Politik nun schon auf die zweite „Evaluation“ über einen Tatbestand, der international bereits längst Konsens ist: Prostitution ist keine „Sexarbeit“, sondern weiße Sklaverei. Doch die Grünen feiern bis heute Prostitution als emanzipatorischen Akt, die SozialdemokratInnen stolperten bisher hinterher und die ChristdemokratInnen schwiegen zu lange.

Doch seit einigen Jahren scheint ein Sinneswandel einzutreten. Bereits 2014 hatte das EUParlament einem ähnlichen Bericht zugestimmt, dem sogenannten Honeyball-Report, verfasst von der britischen Abgeordneten Mary Honeyball. Die Zeichen stehen in Brüssel also schon länger Richtung „Nordisches Modell“, sprich: Freierbestrafung plus Entkriminaliserung der Prostituierten und Hilfe beim Ausstieg. Doch diesmal, neun Jahre später, stimmten auch die SozialdemokratInnen, fast vollständig für den Bericht der Sozialdemokratin Noichl, sowie die meisten Abgeordneten der Linken und sogar einige Liberale.

„Das bedeutet: Wir haben in allen demokratischen Parteien Kämpferinnen und Kämpfer, die sich für einen Wechsel einsetzen. Und auch die Europäische Frauenlobby, die größte Frauenorganisation Europas, steht klar und eindeutig zu diesem Bericht und zum Nordischen Modell“, sagt Maria Noichl hocherfreut darüber, „dass wir auf ganzer Linie gewonnen haben“.

Da stellt sich die Frage: Wird das Signal aus Brüssel auch von den Genossinnen und Genossen in Berlin gehört?

Das wäre der SPD dringlich zu raten, denn auch in Deutschland kippt gerade die Stimmung. „Das von der rot-grünen Koalition geschaffene Prostitutionsgesetz von 2002 ist gänzlich gescheitert“, konstatiert plötzlich sogar der Spiegel. „Im Bundestag gibt es wachsende Zustimmung für ein Sexkauf-Verbot“, weiß nun auch Bild und zitiert Dorothee Bär: „Es kann keine echte Gleichberechtigung geben, solange wir hinnehmen, dass Hunderttausende Frauen wie Sklaven behandelt werden. Das ist ein Verstoß gegen die Menschenwürde, den wir dringend beenden müssen.“ Und die Zeit begleitete die stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion kürzlich bei einem Besuch auf der Berliner Kurfürstenstraße, wo die Stadt eine sogenannte „Verrichtungsbox“ aufgestellt hat: Eine Toilette, in der nicht nur Passanten ihre Notdurft verrichten, sondern auch Prostituierte die Freier bedienen können. Bär berichtet der Zeit, dass sie einmal gesehen hat, wie ein Freier dort eine Prostituierte aus seinem fahrenden Auto auf die Straße schmiss. Sie erzählt von ihrem Besuch in der Berliner Gewaltschutzambulanz, den Prostituierten, die dort mit „Würgemalen am Hals, ausgerenkten Gelenken und Brandwunden am ganzen Körper“ ankamen, und die „nach Jahren des täglichen Geschlechtsverkehrs mit fünf oder zehn oder fünfzehn Freiern Kot und Urin nicht mehr halten können“.

Das Leid, das Frauen tagtäglich in der Prostitution zugefügt wird, hält jedoch Renate Künast nicht davon ab, immer noch zu unterscheiden zwischen der guten „Sexarbeit“ und dem bösen Menschenhandel. Die grüne Ministerin a.D. und Ex-Fraktionschefin der Grünen war eine der Hauptbetreiberinnen der Prostitutionsreform von 2002. Im SpiegelStreitgespräch mit Dorothee Bär kommt Künast das Eingeständis, dass die „Reform“ brutal gescheitert ist, auf Kosten der Frauen, nicht über die Lippen. Entgegen den längst erwiesenen Fakten, die auch das EU-Parlament auf 25 Seiten und in 79 Fußnoten referiert, behauptet Künast über das Modell der Freierbestrafung: „Ich weiß, dass es nichts nützt.“ Renate Künast ist übrigens verheiratet mit dem Berliner Rechtsanwalt Rüdiger Portius, der regelmäßig arabische Clans wie den Abou-Chaker-Clan vertritt, zu deren Hauptgeschäft die Prostitution gehört.

Diese Informationen sind nicht neu. EMMA verbreitet sie seit sage und schreibe über 40 Jahren. 2013 veröffentlichten wir das Buch „Prostitution – ein deutscher Skandal“, in dem auch Betroffene ausführlich zu Wort kamen. Im selben Jahr starteten wir den Appell „Prostitution abschaffen!“, der innerhalb weniger Wochen von über 10.000 Menschen unterzeichnet wurde, darunter auch viele Personen des öffentlichen Lebens, vom Juristen bis zur Schauspielerin. Versteht sich, dass keineR der JournalistInnen, die all das wissen, EMMA in ihrer Berichterstattung auch nur erwähnen – obwohl sie sie immerhin genau gelesen haben.

Aktuelle Informationen, darunter Schilderungen wie die von Dorothee Bär über den besorgniserregenden Gesundheitszustand, haben auch Elke Mack und Ulrich Rommelfanger für ihre Studie „Sexkauf – eine rechtliche und rechtsethische Untersuchung der Prostitution“ zusammengetragen. Die Professorin für Christliche Sozialwissenschaft und Sozialethik und der ehemalige Verfassungsrichter kamen zu einem klaren Ergebnis: „Die geltende Prostitutionsgesetzgebung ist nicht verfassungskonform!“ Der deutsche Staat nehme wissend die „medizinischen und psychischen Schäden und Menschenrechtsverletzungen“ billigend in Kauf, die den mindestens 250.000 Frauen, die sich in Deutschland prostitutieren, tagtäglich zugefügt werden.

Auch Mack und Rommelfanger empfehlen die Bestrafung der Freier, denn „die Nachfrage nach Prostitution reduziert sich damit unweigerlich auf ein Minimum. Die Einschätzung, dass sich dadurch Prostitution in ein unkontrollierbares Dunkelfeld verschiebt, ist ein Narrativ der Sexkauflobby.“

Die Untersuchung ist eine Steilvorlage für eine sogenannte Normenkontrollklage vor dem Bundesverfassungsgericht. Damit Karlsruhe das deutsche Prostitutionsgesetz auf den Prüfstand stellt, muss ein Viertel der Bundestagsabgeordneten zustimmen. Die Stimmen der Unionsfraktion würden dafür ausreichen. Die CDU-Frauenunion hatte bereits im Sommer 2020 gefordert: „Perspektivwechsel jetzt! Für ein Sexkaufverbot und besseren Schutz von Frauen“. Ob die CDU-Männer mitziehen? Und vielleicht tut sich auch endlich etwas bei den SozialdemokratInnen. Die Grünen allerdings, die auch in Brüssel dem Noichl-Bericht bis auf wenige Ausnahmen nicht zustimmten, feiern unverdrossen Prostitution als „Sexarbeit“. Auf Kosten Hunderttausender Frauen und eines gesellschaftlichen Klimas, in dem Prostitution bisher als „Kavaliersdelikt“ galt. Das aber ist nun vorbei.

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