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Rabinovici: Die Geschichte Israels

Quo vadis Israel? - FOTO: H. Tschanz-Hofmann/IMAGO
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Wir haben noch keine Worte dafür. Manche vergleichen das, was in jenem ­Morgengrauen des 7. Oktober losbrach, mit einem Pogrom aus früheren Zeiten, doch die Verbrechen der Hamas waren nicht die ungezügelte Ausschreitung eines aufgebrachten Mobs. Das war kein Exzess, bei dem durchbricht, was gerne als Volkszorn bezeichnet wird. Genauso verfehlt ist es, von „Terroranschlägen“ zu reden, denn all diese Worte verschleiern den militä­rischen Charakter der Massaker. 

Die Untat war von langer Hand vorbereitet worden. Die Hamas regiert über ein Gebiet und unterhält eine Armee mit Waffen und Uniformen. Ihre Mordbanden hatten eigens dafür trainiert, das israelische Kernland zugleich aus der Luft, vom Wasser aus und am Boden zu überfallen. Während Hunderte Raketen auf die Städte im Zentrum des Staates abgefeuert wurden, gingen die Täter an mehreren strategischen Orten gleichzeitig ans Werk.

Sie sprengten die Türen der Bunker, hinter denen sich Kinder, Eltern, Alte verschanzt hatten. Sie rotteten ganze Familien aus. Sie vergewaltigten Frauen. Sie nahmen Geiseln. Sie schändeten die Leichen, luden sie auf Pickup-Trucks, um mit ihren Waffen auf den halbnackten Toten thronend in Gaza einzufahren. Sie riefen dabei unentwegt: „Allahu Akbar“. Sie filmten ihre Gräuel. Sie schickten die Clips den Angehörigen der Opfer. Sie stellten die Videos ins Netz. Die Bluttat folgte einem ideologischen Programm.

Was da zum Ausdruck kommt, ist eine neue und globalisierte Bedrohung jüdischen Daseins, ein Furor, dem es nicht etwa um ein Ende der Besatzung geht und schon gar nicht um bessere Bedingungen für die palästinensische Bevölkerung. Die Hamas, der Islamische Dschihad, die Hisbollah, die Huthis in Jemen und die iranischen Mullahs unterscheiden nicht zwischen den Siedlern in den besetzten Gebieten und den Kibbuzniks, die für Frieden und Menschenrechte eintreten. Sie wollen die Vernichtung Israels als Symbol des Westens schlechthin. Was hier erklärt wurde, war mehr als ein Krieg: Die Auslöschung Israels ist das Ziel. Zu Recht schrieb Dan Diner: „Eine solche Gewalt ist genozidal.“

Diese Message wurde weltweit verstanden – zunächst von den Juden und Jüdinnen, die sich unweigerlich an die Traumata der Shoah erinnert fühlten. Zurecht kann eingewendet werden, das, was da Israelis widerfuhr, gleiche nicht der staatlich verwalteten Ausmerzung von Millionen und der Tötungsmaschinerie des Nazismus. Aber verständlich ist, wenn viele Juden angesichts dessen, was am 7. Oktober geschah, gleichwohl an die Erzählungen früherer Generationen denken müssen und an all das, was mit dem Wort Holocaust bedacht wird, denn sie erkennen in den Massakern den Wunsch wieder, ihre bloße Existenz auszulöschen.

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Aber die Juden waren nicht der einzige Adressat der genozidalen Botschaft vom 7. Oktober, denn die andere Gruppe, die sogleich verstand, worum es gehen sollte, waren jene, die die Nachricht von den Massenmorden voller Begeisterung aufnahmen. Noch wütete die Hamas in den israelischen Kibbuzim, da feierten ihre Anhänger bereits die Massenmorde, in denen sie einen Auftakt zur vollkommenen Vernichtung Israels sehen. Schon am 7. Oktober kreisten manche in Limousinen durch die Straßen europäischer Städte, grölten „Allahu Akbar“ und verteilten Süßigkeiten.

In Wien fuhren sie mit ihren Schlachtrufen und mit palästinensischen Fahnen just durch jenes Wiener Viertel, das zuweilen Mazzesinsel geheißen wird, denn hier lebte – vor der Shoah – die Mehrheit der einst großen jüdischen Gemeinde der Donaumetropole und nun wohnt da wieder eine kleine Anzahl an Juden und Jüdinnen. In jener Woche hörte ich auch von fremden Männern, die hier von einem Haus zum nächsten gegangen seien, um jene Wohnungs­türen zu fotografieren, an deren Rahmen eine Mesusa, das Zeichen eines jüdischen Haushalts, angebracht ist. 

Die Untaten in Israel befeuerten auf der ganzen Welt den Hass vieler gegen alles Jüdische schlechthin. Die Wehrlosigkeit der Opfer beflügelte jene Bewegungen, die seit jeher nichts sehnlicher wünschen als die Ausrottung allen jüdischen Lebens. Auf der ganzen Welt stieg die Zahl antisemitischer Vorfälle – in Großbritannien und in Österreich ums Vierfache, in Brasilien gar um das Zehnfache. Fernab des Nahen Osten wurden koschere Lokale, jüdische Geschäfte und Kulturzentren beschmiert, deren Scheiben eingeschlagen, Molotowcocktails auf Synagogen geworfen. 

In Wien zündeten Unbekannte die Zeremonienhalle des jüdischen Friedhofs an und strichen Hakenkreuze auf die Außenmauer. In Lyon wurde eine Jüdin erstochen. In Dagestan stürmte ein Mob ein Flugzeug aus Tel Aviv, um nach Juden zu suchen. Nach den Massakern am 7. Oktober rief die Hamas immer wieder zu Attacken gegen jüdische Gemeinden in anderen Erdteilen auf.

Antisemitismus ist nicht der Ursprung und nicht der Kern des nationalen Konflikts zwischen Israel und Palästina. Das ist der Kampf zweier Völker um ein Land. Das Leid der Palästinenser seit 1948 und bis in die Gegenwart – insbesondere in den besetzten Gebieten, doch vor allem im Gaza des schrecklichen Kriegswinters 2023 – ist offenkundig. 

Der Hamas geht es jedoch nicht um einen freien Staat Palästina, sondern sie nutzt die Misere, um die islamistische Herrschaft über die ganze Region auszubreiten. Das eigene Volk ist ihre Geisel. Die Apokalypse ist ihre Verheißung. Sie unterdrückt und mordet politische Gegner, emanzipierte Frauen und alle Menschen, die selbstbestimmt leben und lieben wollen. Doch vor allem geht es der Hamas um den Hass auf alles Jüdische. So ist es auch in ihrer Gründungscharta von 1988 festgelegt. Im Artikel 7 steht geschrieben: „Die Stunde des Gerichtes wird nicht kommen, bevor Muslime nicht die Juden bekämpfen und töten, so dass sich die Juden hinter Bäumen und Steinen verstecken, und jeder Baum und Stein wird sagen: ‚Oh Muslim, oh Diener Allahs, ein Jude ist hinter mir, komm und töte ihn!‘“

Der Jugoslawienkrieg zum Beispiel wurde nicht gegen kroatische, serbische oder bosnische Gemeinden außerhalb des Balkanstaates geführt. Auch Putins Überfall weitet sich nicht auf die russischen oder ukrainischen Minderheiten in den USA oder in Europa aus. Sie sind nicht Ziel von Attentaten. Das heißt, andere Kriege sind territorial definiert. Aber der Kampf gegen den zionistischen Staat ist immer auch gegen die jüdische Diaspora gerichtet. Wenn im Nahen Osten geschossen wird, darf jeder Jude und jede Jüdin weltweit damit rechnen, tödlich getroffen zu werden. Jüdische Kinder in Deutschland, Frankreich oder Österreich wissen das. Ihre Kindergärten, ihre Schulen, ihre Jugendbewegungen müssen immer bewacht werden. Sie wachsen im Beisein von Sicherheitskräften und deren Waffen auf.

Als die amerikanische Schauspielerin und Aktivistin Susan Sarandon vor wenigen Wochen bei einer Kundgebung gegen Israel gebeten wurde, einige Worte zu sagen, sprach sie frei und meinte, die Juden könnten nun einen Eindruck davon gewinnen, wie es sich anfühle, „in diesem Land ein Muslim zu sein“. Dieser Satz rief Entsetzen hervor, denn in Sarandons Worten klang – ob willentlich oder nicht – eine unverhohlene Freude durch, dass es den Juden schlecht ergehe. Sarandon selbst bat bald um Entschuldigung für diese Entgleisung, doch es lohnt, ihren Gedanken eingehender zu untersuchen. Wie kann irgendwer auf die Idee kommen, erst jetzt würden Juden erfahren, wie es sei, Hass und Hetze ausgesetzt zu sein? Die lange Geschichte der Verfolgung ist ­allgemein bekannt. Dennoch hängen viele dem Klischee an, jüdische Menschen seien besonders privilegiert.

Könnte es sein, dass Sarandon einem innerhalb der Linken weit verbreiteten Irrtum unterliegt? Sind nicht viele selbsternannte Antirassisten davon überzeugt, sie könnten ohnehin nicht antisemitisch sein, weil sie zwischen Rassismus und Antisemitismus gar nicht zu unterscheiden wissen? Rassismus ist die Biologisierung des Sozialen. Dem Rassisten geht es um die Rechtfertigung von gesellschaftlichem Unrecht durch vermeintliche Naturgesetze. Der Antisemitismus aber ist vor allem eine Weltanschauung, die vom Mythos einer dunklen Weltverschwörung aller Juden ausgeht. Der Rassist verachtet den Untermenschen und will zuvorderst seine Unterwerfung. Der Antisemit hasst den Juden als Gegenmenschen und zielt letztlich auf dessen Auslöschung.

Israels Existenz – die Existenz des Staates Israel, doch auch jene des Volkes Israel – ist davon bestimmt und darin begründet, von Anfang an umstritten zu sein. In vielen – wenn auch keineswegs in allen – postkolonialen Studien der Gegenwart wird der Zionismus alleinig zum Sinnbild kolonialistischer Unterdrückung gestempelt, aber wer – wie etwa die berühmte amerikanische Philosophin Judith Butler – so tut, als wären die Ideen des Theodor Herzl nichts als Herrscherträume eines Kolonialimperiums gewesen, blendet aus, dass es die damals noch unbestimmte Angst vor einer vollkommenen Vernichtung war, die den Gedanken an ein „Nachtasyl“ entfachte. Zweifellos waren Herzls Vorstellungen auch vom imperialen Weltbild des europäischen Abendlandes jener Ära geprägt. Aber das, was Herzl letztlich bewegte, war das, was er mit dem Wort „Judennot“ zusammenfasste.

Jene antisemitisch Verfolgten, die damals auf eine jüdische Besiedlung Zions hofften, sahen in dieser politischen Strömung eine Befreiungs­bewegung, denn sie wurden in den Staaten Europas unterdrückt. Sie wurden als vorgeblicher Fremdkörper vertrieben oder ausgelöscht.

Sie strömten ab dem Ende des 19. und im Anbruch des 20. Jahrhunderts nach Palästina, um hier jüdische Städte und Dörfer zu gründen. Sie waren nicht aufgebrochen, um die arabische Bevölkerung auszubeuten oder zu vertreiben. Sie hofften nicht auf billige Sklavenarbeit oder riesige Plantagen. Sie wollten beweisen, dass auch Juden ein Feld pflügen, die Saat ausstreuen und die Ernte einfahren konnten, Kühe und Schafe hüten. Niemand ging in den Kibbutz, um Reichtum anzuhäufen. 

Bereits in den Dreißigern waren viele eingewandert, um den Pogromen und dem nazistischen Terror zu entkommen. Damals machte die ironische Frage im Land die Runde: „Kommen Sie aus Überzeugung oder aus Deutschland?“ Für die Einsicht in die Notwendigkeit eines souveränen jüdischen Heims in Zion brauchte es keine ideologische Theorie, sondern alleinig den Willen als Individuum, nicht ermordet und nicht als Volk ausgelöscht zu werden.

Es ist zur Mode geworden, diesen besonderen Hintergrund der jüdischen Schicksalsgemeinschaft auszublenden. Es wird so getan, als wäre der Zionismus nicht unter dem Eindruck dieser mörderischen Ideologien entstanden, die zur Massenvernichtung führten.

Auch die Massaker der Hamas werden von vielen, die gegen Israel Stellung nehmen, negiert oder zumindest kleingeredet. Das Abstreiten von Massenmorden an Juden erinnert einen unweigerlich an die Auschwitzleugnung. Denn was geschah, ist mehrfach verbürgt und zweifelsfrei bestätigt, aber den Juden – ihren Überlebenden und allen ihren Organisationen – wird unterstellt, sie hätten das alles nur erfunden, um Lügen zu verbreiten. Ausgegangen wird von einer jüdischen Weltverschwörung, die alle Medien und die gesamte westliche Politik unter Kontrolle hält. 

Mitte Dezember 2023 fand etwa im Foyer der Wiener Universität für angewandte Kunst, an der ich unterrichte, eine Demonstration statt, auf der eine Rednerin behauptete, es habe am 7. Oktober gar keine Aggression gegen Israel stattgefunden, denn die Menschen in den Kibbuzim seien nicht unschuldig. Die Aktivistin erklärte, es sei falsch, die Kibbuzniks zu „humanisieren“.

Solche Äußerungen sind zwar Randerscheinungen, doch sie sind zugleich Teil einer Tendenz, das antisemitische Wesen der Hamas und ihrer Massaker zu beschönigen oder nicht wahrzunehmen. Wir erleben einen Prozess der Irrealisierung. Was den Opfern widerfuhr, wird nicht anerkannt. Das ist die zweite Auslöschung ihrer Existenz. 

Wie sollte sonst erklärt werden, dass interna­tionale Frauenorganisationen und darauf spezialisierte UN-Organisationen wochenlang zu den Vergewaltigungen und den Verstümmelungen von Geschlechtsteilen schwiegen, obgleich ihnen Berichte von Überlebenden und Beweise für diese Verbrechen vorgelegt wurden? Israelische Feministinnen prägten daraufhin den ironischen Slogan: „Me Too Unless You’re a Jew“.

Judith Butler, selbst Jüdin, die bereits 2006 Hamas und Hisbollah als soziale Bewegungen und als Teil der globalen progressiven Linken ­verharmlost hatte, verurteilte zwar nach dem 7. Oktober die Massaker, doch nur um den israelischen Staat als Ergebnis kolonialer Gewalt zu verdammen und als alleinigen Schuldigen für den Konflikt auszumachen. Masha Gessen wiederum blieb es vorbehalten, die Verhältnisse im Gaza der letzten 17 Jahre mit den Bedingungen im Warschauer Ghetto unter den Nazis gleichzusetzen. Wer Gessen zustimmt, muss wohl meinen, die Shoah sei ein nationaler Kampf zwischen Juden und Deutschen gewesen und den Warschauer Juden sei es um die Auslöschung der deutschen Nation gegangen. 

Wurden etwa aus den Ghettos jahrelang Raketen auf deutsche Städte abgefeuert? Was soll so eine abstruse Geschichtsklitterung? Schlachteten denn die Juden aus den Ghettos damals deutsche Kinder, Frauen, Alte, Kranke ab? Ist das nicht bekanntlich umgekehrt gewesen? Meint irgendwer wirklich, die Israelis zogen sich 2005 aus dem Gazastreifen zurück, weil sie in Wahrheit nichts als genozidale Absichten hatten? Was steckt hinter solch absurden Gedanken? Unbändig scheint die Begierde, die Juden Israels zu den Nazis von heute zu machen. Slavoj Žižek ging in seiner Eröffnungsrede auf der Frankfurter Buchmesse so weit, Reinhard Heydrich als einen ­verkappten Zionisten präsentieren zu wollen.

Von Anfang an wurde von vielen eine „Kontextualisierung“ der Massenmorde eingefordert, der nicht selten der Geruch von Relativierung anhaftete. So wichtig die Kritik an Siedlungspolitik oder an den Rechtsextremen in der Jerusalemer Regierung auch sein mag, sie reicht nicht aus als Erklärung für die Gräueltaten, etwa für das Zerstückeln und Verbrennen von Menschen – ob von Säuglingen, von Alten oder von Schwangeren – bei lebendigem Leib.

Wer Kontext will, dem kann mehr davon geliefert werden, als so manchem lieb ist. Den Terror der Hamas gibt es nicht, wie viele uns glauben machen wollen, wegen der Blockade rund um Gaza, sondern die Absperrung wurde gebaut, um die ständigen Selbstmordattentate einzudämmen. Der islamistische Judenhass tobt auch in vielen arabischen Staaten fernab des Zionismus und es gab ihn schon vor der Staatsgründung Israels.

Es ließen sich viele Massaker an Juden in Palästina aufzählen – etwa 1921 Jaffa, 1929 Hebron und Safed, 1936 Jaffa, 1938 Tiberia, 1947 Jerusalem. Wohlbekannt ist auch der Mufti von Jerusalem, der eine muslimische SS gründete, sich mit Adolf Hitler traf und von der Vernichtung der Juden träumte. Und wenn Palästinenser von der Nakba, der Flucht und Vertreibung von 1948, berichten, wartet die israelische Seite mit dem Bagdader Pogrom von 1941 und mit den Vertreibungen von Juden aus den arabischen Staaten auf. Bringen uns aber diese wechselseitigen Aufrechnungen überhaupt weiter?

Das Konzept von Benjamin Netanjahu, den „Status quo zu managen“ und mit der Hamas einen Modus Vivendi zu finden, ist gescheitert. Netanjahu glaubt nicht an einen Kompromiss mit der palästinensischen Administration und nicht an die Zweistaatenlösung. Welch Ironie, dass sich die israelischen Rechten und viele nichtjüdische Linke außerhalb Israels in dem Irrglauben einig waren, mit der Hamas sei ein Auskommen zu finden.

Am 7. Oktober fielen vor allem Israelis, die in linken Kibbuzim lebten oder auf dem Nova-Festival tanzten, den Massakern zum Opfer. Die meisten von diesen Menschen standen für einen Ausgleich mit der palästinensischen Nation, für ein Ende der Siedlungspolitik und der Besatzung. Viele von ihnen hatten jahrelang Projekte der Verständigung mit den palästinensischen Gemäßigten vorangetrieben.

Viele der Ermordeten waren unter jenen Hunderttausenden aus der Zivil­gesellschaft, die bis zu den Massenverbrechen der Hamas gegen Angriffe der Regierung Netanjahu auf den Rechtsstaat und die Demokratie pro­testierten. Sie fürchteten, dass der Staat – der gegründet wurde, damit Juden nicht mehr Ausgestoßene sind, sondern in Freiheit und in Würde leben – zu einem werden könnte, in dem Juden, die in Freiheit und in Würde leben wollen, zu Ausgestoßenen werden.

Während ich diesen Text schreibe, sitze ich in meiner Geburtsstadt Tel Aviv. Im Dezember 2023 reisten meine Frau und ich gemeinsam nach Israel, um hier zu sein in dieser Zeit. Wir suchen die Orte der Massaker auf, treffen uns mit Angehörigen der Ermordeten und der Geiseln, hören Überlebenden zu und auch Menschen, die vor wenigen Wochen erst aus der Gefangenschaft in Gaza befreit wurden. 

Der 7. Oktober ist in Israel allgegenwärtig. Andernorts, außerhalb des Landes, scheint es zuweilen, als habe jener Tag gar nicht stattgefunden, doch hier ist er nicht vergangen. In Israel dauert an, was damals geschah. Die meisten der Überlebenden aus den Kibbuzim Nir Oz oder Chulith, aber auch jene, die auf dem Nova-Festival feierten, kämpfen an gegen das Vergessen und gegen die Auslöschung. Sie erinnern an die Opfer und an diejenigen, die von der Hamas entführt wurden. Ihr vorrangiges Ziel ist die Rettung der Geiseln, denn – so sagen die Familien – je länger sie in Gaza bleiben, umso unwahrscheinlicher ist ihre Rückkehr.

Aber es geht ihnen auch darum, dass sich das Grauen dieser Massaker nie mehr wiederhole – wofür, daran zweifelt wohl kaum irgendwer unter ihnen, militärischer Schutz und strategische Stärke notwendig sind. Doch zugleich kann das nie genügen, denn selbst eine mächtige Armee kann Staatspolitik zwar ermöglichen, doch nicht ersetzen. Für eine existentielle Sicherheit und ein Mindestmaß an Normalität wird es auf lange Sicht auch Verhandlungen brauchen, eine Per­spektive für Gaza und fürs Westjordanland, doch letztlich wohl einen territorialen Kompromiss. Diese Vision allein könnte die Chance bergen, gegen die Hamas nicht nur zu siegen, sondern gegen sie auch zu gewinnen – denn es ist der Frieden, den sie vor allem hasst. Vielleicht werden wir dann erst gemeinsame Worte finden können für das, was am 7. Oktober 2023 geschah.   

Der Text ist in dem Buch „Nach dem 7. Oktober“ erschienen, Hrsg. Klaus Bittermann und Tania Martini (Edition Tiamat, 24 €)

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