Der Aufbruch der Frauen in den 1920ern

die 1920er Jahre: "Neue Frauen" im Aufbruch. - Foto: Timeline Images
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Wir schreiben das Jahr 1926. Auf den Bühnen der Berliner Varietés schmettert Claire Waldoff ihrem Publikum um die Ohren, was Sache ist: Die Neue Frau ist da! Und wie sie aussieht, die Neue Frau, sehen die Varieté-BesucherInnen leibhaftig vor sich: Waldoff trägt Anzug und Krawatte zu feuerrotem Bubikopf. Sie singt nicht lieblich, sondern vor allem laut, und was sie da so von der Bühne brüllt, ist eine Kampfansage an die Männer: „Ich sag es ganz frei, die Zeit ist vorbei: Wir spielen nicht mehr Heimchen am Herd!“

So ist die Lage anno 1926. Nie zuvor waren so viele Frauen berufstätig wie die Töchter der Historischen Frauenbewegung, die um 1900 auf ihrem Zenit gewesen war. Sicher, man hatte die Frauen nach Kriegsende wieder rauskatapultiert aus den Jobs, die sie von den Männern übernommen hatten, als die an der Front waren. Aber sie hatten als Straßenbahnfahrerinnen, Schweißerinnen oder Schornsteinfegerinnen den Laden am Laufen gehalten und wissen nun: Wir können das! Zwei Millionen Männer kommen nicht zurück, und diejenigen, die aus den Schützengräben heimkehren, sind oft körperliche wie seelische Wracks und als Familienvorstand und -ernährer nicht mehr zu gebrauchen. Und so geht Mitte der Zwanziger Jahre jede dritte deutsche Ehefrau einer Erwerbsarbeit nach (100 Jahre später werden es drei von vier sein, davon allerdings jede zweite in Teilzeit).

Die Neue Frau hat neue Berufe: Sie wird Telefonistin oder Stenotypistin, oder auch Verkäuferin in einem der prächtigen neuen Warenhäuser, die jetzt allerorten eröffnen. 1,5 Millionen weibliche Angestellte verdienen in der Weimarer Republik zwar wenig, aber doch eigenes Geld.

Kinofilme mit Titeln wie „Das Fräulein von Kasse 12“ oder „Die Privatsekretärin“ machen die Frauen zu Alltagsheldinnen, Schriftstellerinnen wie Irmgard Keun („Das kunstseidene Mädchen“) oder Christa Anita Brück („Schicksale hinter Schreibmaschinen“) setzen den kleinen Angestellten literarische Denkmäler – wobei sie die spärlichen Gehälter und den immer noch harten Überlebenskampf vieler junger Frauen keineswegs
verhehlen.

Es ist die Zeit der „Neuen Sachlichkeit“. Weg mit dem Pathos – her mit der Realität! Weg mit Rüschen, Schnörkeln und Troddeln – her mit den klaren Linien! Die Neue Frau fühlt sich nicht länger zuständig für das Warme, Heimelige und Kuschelige – sie zeigt klare Kante. In ihren Büchern, in denen sie illusionslos über Frauenleben schreibt; in ihrer Mode, die (auch) praktisch sein muss; in ihren Bildern, die sie malt; in ihrer
Architektur, die sie bauen lässt.

Denn die Neue Frau strömt natürlich auch in die kreativen Berufe – und wird darin manchmal durchaus berühmt. Wie Vicki Baum, die als Redakteurin beim Ullstein-Verlag einen Bestseller nach dem anderen produziert und mit ihren Romanen („Menschen im Hotel“) Hunderttausender-Auflagen erreicht. Vicki Baum, eine der erfolgreichsten Vertreterinnen der „Neuen Sachlichkeit“, ist nicht die einzige Schriftstellerin, die ihre eigenen Werke auch zum Drehbuch umschreibt. Jeder zehnte Drehbuchautor zwischen 1919 und 1933 ist weiblich.

Die Neue Frau wird Regisseurin wie Leontine Sagan, Fotografin wie Ilse Bing, Bildhauerin wie Renée Sintenis; sie wird Architektin wie Margarete Schütte-Lihotzky, Kabarettistin wie Claire Waldoff, Tänzerin wie Valeska Gert. Sie fährt Autorennen wie Erika Mann oder gleich einmal um die Welt wie Clärenore Stinnes.

Und auch diejenigen, die so lange um den Zugang zu Bildung und zu den Universitäten gekämpft hatten, sind jetzt da: Ärztinnen und Rechtsanwältinnen eröffnen Praxen und Kanzleien, 1926 gründet sich der Deutsche Akademikerinnenbund. Frauen dürfen jetzt sogar Richterinnen und Staatsanwältinnen werden. Das haben die 41 weiblichen Abgeordneten durchgesetzt, die 1919 erstmals in den Reichstag einziehen und dem Berufsverbot für weibliche Juristen im Staatsdienst gleich 1922 ein Ende setzen.

„Raus mit’n Männern aus’m Reichstag/Und raus mit’n Männern aus’m Landtag/Und raus mit’n Männern aus’m Herrenhaus/ Wir machen draus ein Frauenhaus“ – auch das schmettert Claire Waldoff. Mit dem „Frauenhaus“ wird es zwar nichts, denn der Frauenanteil im Parlament bleibt während der gesamten Zwanziger chronisch bei knapp zehn Prozent, aber die wenigen Parlamentarierinnen setzen so manches Frauenrecht durch – sofern sie sich über die Parteigrenzen einig sind.

Die Neue Frau geht ins Büro und nach Dienstschluss in die Bar. Sie treibt Sport. Um die Jahrhundertwende hatten Frauen sich schon das bequeme „Reformkleid“ erkämpft, jetzt aber trägt die berufstätige Frau tagsüber ein Kostüm, das sich am Herrenanzug orientiert, und abends Kleider mit geraden Schnitten, die den idealerweise knabenhaften Körper umspielen. Die ganz Verwegenen tragen sogar Hosen – wie Marlene Dietrich. Wie sie in „Marokko“ in Frack und Zylinder und der heute nach ihr benannten Hose gelassenen Schrittes einen Nachtclub betritt und einem weiblichen Gast die Rose vom Dekolleté lupft …

Verschärfend hinzu kommt, dass sie die Frau am Tisch auch noch küsst. Denn die Neue Frau interessiert sich durchaus (auch) erotisch für Frauen. „Wenn die beste Freundin mit der besten Freundin …“ singt Marlene anzüglich im Duett mit Margo Lion und ist auch im wahren Leben der einen oder anderen Dame zugetan. So munkelt Berlin über eine Affäre der Dietrich mit, jawohl, Claire Waldoff! Die singt, oder besser: grölt frank und frei über „Hannelore vom Halle’schen Tore“, die „n Bräutjam und ne Braut“ hat oder gleich: „Ach, wie ich die Lena liebe!“

Jahre nach den homosexuellen Männern, die schon im Kaiserreich gegen den § 175 kämpften, kommen nun auch die homosexuellen Frauen aus der Heimlichkeit ans Tageslicht. Vor allem natürlich in Berlin. In der Metropole vergnügt sich die frauenliebende Frau in über 50 „Damenclubs“, allein der Damenclub „Violetta“ hat 400 Mitglieder. Dort wird keineswegs nur getanzt, sondern Emanzipation betrieben. „Vor allen Dingen hat es sich dieser Club zum anerkennenswerten Ziel gesetzt, geschlossen gegen die noch herrschende Ächtung der andersgearteten Frau anzukämpfen“, heißt es im Szeneführer „Berlins lesbische Frauen“, der 1928 erscheint. Doch Männer wie Zweig sind eine Minderheit.

Die Neue Frau trifft vor allem auf den gekränkten, verunsicherten Mann. Der hat die Demütigung des verlorenen Krieges nicht verwunden, kämpft mit seelischen wie körperlichen Verwundungen und seit dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise 1929 mit Arbeitslosigkeit. Während die Neue Frau zu neuen Ufern aufbricht, steckt der alte Mann in der Krise. Und ist offen für einen Mann, der ihm nicht nur Arbeit und Autobahnen verspricht, sondern auch, dass er wieder Herr im Haus ist.

Schon bald werden sie ins Exil gehen müssen, die Schriftstellerinnen und Ärztinnen, nicht nur die jüdischen. Juristinnen, Politikerinnen und Architektinnen bekommen von den Nazis Berufsverbot. Die Neue Frau wird statt Bubikopf wieder alte Zöpfe tragen. Ihre Kinder und Kindeskinder haben sich von diesem Rückschlag bis heute nicht ganz erholt.

CHANTAL LOUIS

Weiterlesen
Birgit Haustedt: Die wilden Jahre in Berlin (edition ebersbach, 16.80 €) ◆ Brigitte Ebersbach (Hrsg.): Aufbruch der Frauen – Die wilden Zwanzigerjahre (ebersbach & simon, 18 €) ◆ Kristine von Soden + Maruta Schmidt (Hrsg.): Neue Frauen (antiquarisch + im FrauenMediaTurm) ◆ Thomas Bleitner: Frauen der 1920er Jahre (Elisabeth Sandmann 38 €) ◆ Ingrid Pfeiffer + Max Hollein (Hrsg.): Sturm-Frauen – Künstlerinnen der Avantgarde in Berlin 1910 – 1932 (Wienand, 45 €)

Ausstellung
Lila Wunder – Queeres Leben in den 1920er Jahren, von Hannah Höch bin Renée Sintenis, bis 15. 11. im Queeres Kulturhaus E2H, www.queereskulturhaus.de

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