Der Aufschrei: Nicht das erste Mal
Für viele von ihnen war es ihr erstes Mal. Es war nicht schön. Aber es war trotzdem befreiend. „Die Typen, die dir in den Ausschnitt glotzen, während du dich mit ihnen unterhältst.“ – „Graue Masse an Typen, die dafür gesorgt haben, dass ich nachts nie ohne Pfefferspray in der Hand durch dunkle Straßen laufe.“ – „All die dummen Sprüche und ekligen Blicke, an die frau sich gar nicht mehr erinnert, weil sie die einfach immer verdrängt hat.“
Die Frauen, die in der Nacht zum 25. Januar unter dem Hashtag #aufschrei ihre Erfahrungen mit sexistischen Übergriffen twitterten, haben einen Rekord aufgestellt. Noch nie in der Geschichte von Twitter haben sich in Deutschland zu einem Thema so viele Menschen zu Wort gemeldet. Als #aufschrei-Initiatorin Anne Wizorek am nächsten Morgen aufwachte, waren es 20000 Tweets, drei Tage später 60000. Warum waren die Kurzberichte über Erlebnisse, die so offensichtlich zum Alltag von Frauen gehören, derartig durch die Decke geknallt?
Sie habe „zum ersten Mal so offen über ihre Erfahrungen mit Sexismus gesprochen“, sagt Anne Wizorek im EMMA-Gespräch. „Und ich hatte den Eindruck, dass sehr viele andere auch das allererste Mal darüber gesprochen haben.“ Die Erkenntnis, nicht die einzige zu sein, es mit einem Phänomen mit System zu tun zu haben, war erleichternd – und ermutigend. Keine Talkshow, die das Thema nicht aufgriff. Deutschland hat eine neue Sexismus-Debatte. Erfreulich, dass wir dabei nicht bei Null anfangen müssen, sondern auf schon geführte Kämpfe und erlassene Gesetze aufbauen können.
Es ist knapp 40 Jahre her, dass eine Gruppe junger Studentinnen an der renommierten Cornell-Universität in Ithaka, New York, das gleiche Erweckungserlebnis hatte wie die #aufschrei-Frauen anno 2013. Nicht im Netz, sondern in einer der so genannten „Consciousness Raising“-Gruppen, die sich in diesen frauenbewegten Zeiten massenhaft gegründet hatten. Eine fing an zu reden über die demütigenden Sprüche, die ungewollten Berührungen, die sexuellen Erpressungen. Der Damm war gebrochen. Nun legten alle los.
Und auch damals gab es einen Fall sexueller Belästigung, der in den Medien Furore machte. Carmita Wood, die als Assistentin eines Mediziners an der Uni gearbeitet hatte, hatte nach Monaten der sexuellen Übergriffe durch ihren Chef schließlich gekündigt. Das Fass zum Überlaufen brachte die Tatsache, dass man ihr nun das Arbeitslosengeld verweigerte. Sie habe ihren Job schließlich „aus persönlichen Gründen“ aufgegeben.
Es reichte! Die Studentinnen forderten Frauen im ganzen Land auf, ihre Erfahrungen mit dem Problem zu schildern, für das sie nun zum ersten Mal ein Wort hatten: „Sexual Harassment“. Sie traten eine Lawine los. Es startete, zuerst in den USA, dann in Europa, der Aufschrei 1.0.
Noch gibt es keine gesetzliche Handhabe gegen die sexuellen Übergriffe, die oft unterschwellig, verbal oder auch durch direkte Berührungen erfolgen. Selbst in den USA, wo dank Bürgerrechts- und Frauenbewegung die Diskriminierung aufgrund von Rasse oder Geschlecht explizit auch am Arbeitsplatz verboten ist, verlieren Frauen die Prozesse, die sie gegen die Bedränger führen. Denn noch wird der Griff an den Po von den Richtern als persönlicher „Einzelfall“ abgetan, der nichts mit patriarchalen Strukturen und gar Machtverhältnissen zu tun habe. Doch das wird sich, dank feministischer Überzeugungsarbeit, bald ändern.
Ab 1980 wird „Sexual Harassment“ in den USA als Verstoß gegen den „Civil Rights Act“ von 1964 gewertet, also als Diskriminierung aufgrund des Geschlechts. Jetzt ist der Arbeitgeber dafür verantwortlich, Arbeitnehmerinnen vor sexuellen Übergriffen zu schützen. Bis es auch in Deutschland so weit ist, werden noch 14 Jahre vergehen.
Mitte der 1990er Jahre verabschieden Deutschland, Österreich und die Schweiz Gesetze, die sexuelle Belästigung zum ersten Mal überhaupt definieren und Arbeitgeber verpflichten, sie zu unterbinden. Natürlich waren diese Gesetze nicht vom Himmel gefallen. Alle hatten Druck gemacht: Gewerkschafterinnen, Feministinnen, Frauenbeauftragte, Politikerinnen. Sie alle hatten ihre Erfahrungen mit sexistischen Übergriffen öffentlich gemacht, Proteste ermutigt und organisiert, Broschüren und Bücher publiziert. Und endlich gibt es nun auch erste Zahlen zum Ausmaß der sexuellen Belästigung.Die Studien kommen alle zum gleichen Ergebnis: Sie hat ein epidemisches Ausmaß, sie ist kein individueller Ausrutscher, sondern hat System.
Schließlich tritt in Deutschland 1994 das „Gesetz zum Schutz der Beschäftigten vor sexueller Belästigung“ in Kraft. Ein Meilenstein. Von nun an wird es still um das Thema. Das Problem scheint gelöst. Vor allem für eine junge Frauengeneration, die mit der Vorstellung aufwächst, dass in der Geschlechterwelt inzwischen Frieden herrscht. Was leider ein Irrtum war.
Es erschallt Aufschrei 2.0. In den USA mit der Internet-Aktion „Stop Street Harassment“; in Belgien, wo die entnervte Studentin Sofie Peeters mit ihrem Film „Femme de la Rue“ die zweideutigen Sprüche und eindeutigen Angebote dokumentierte, die ihr Tag für Tag unterbreitet werden; in Großbritannien, wo die Website „Everyday Sexism“ und ihre Aktion #shoutingback das Vorbild für den #aufschrei war. Und in Deutschland, wo nicht nur die Zahl der Sexismus-Tweets Rekorde bricht, sondern auch die Tatsache, dass der Protest der Frauen nicht nur im schnelllebigen Medium Twitter andauert.
Es war für viele das erste Mal, dass sie aufgeschrieen haben. Aber offensichtlich nicht das letzte Mal.