Der Fall Polanski - 36 Jahre danach

Samantha Geimer - damals als "Girl" und heute.
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Als die Staatsanwaltschaft von Los Angeles die Schweiz um Auslieferung des Filmregisseurs ersucht, führen die „Free Polanski“-Unterstützer (darunter Woody Allen) gern dieses Argument ins Feld: Samantha Geimer, die Frau, die Polanski im Alter von 13 Jahren vaginal und anal vergewaltigt hat, wolle schließlich selbst nicht, dass das Verfahren noch einmal aufgerollt wird. Und auch jetzt werden die Interviews, die die heute 50-Jährige anlässlich ihrer Buchveröffentlichung gibt, häufig verkürzt auf zwei Aussagen: Die Justiz hat Polanski damals übel mitgespielt. Und: Das Opfer hat ihm vergeben. Na also.

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Dabei ist die Sache erheblich komplizierter. Deshalb lohnt es sich, Samantha Geimers Buch zu lesen. Sie hat es „The Girl“ genannt. Das Mädchen. Unter dem Blick auf „das Mädchen“ hat Geimer ihr Leben lang gelitten. „Klar, ein unschuldiges Opfer. Oder halt: eine berechnende Lolita. Meistens dachten die Leute jedoch, das Mädchen sei zwar zögerlich, aber letztlich doch einverstanden gewesen, den verrückten Ehrgeiz seiner bühnensüchtigen Mutter zu erfüllen, die aus ihrer kleinen Tochter unbedingt einen Star machen wollte.“ Jetzt erzählt Geimer selbst, was dem Mädchen passiert ist und was das für die Frau bedeutete, die aus dem Mädchen wurde.

Im Sommer 1977 ist die 13-jährige Samantha ein entwurzelter, verunsicherter Teenager. Die Mutter, Schauspielerin, war zwei Jahre zuvor mit ihrem neuen Lebensgefährten von New York nach Los Angeles gezogen. Tochter Samantha wäre eigentlich lieber beim vergötterten Vater im beschaulichen York geblieben, aber der mag sich mit der pubertierenden Tochter nicht belasten. Als sie in Kalifornien ankommt, fühlt sich das Mädchen aus der Provinz wie ein „asozialer Freak“.

Es liegt nahe, dass Roman Polanski ein Gespür für Mädchen hat, denen das Neinsagen schwer fällt. Ein gemeinsamer Bekannter der Mutter erzählt, Polanski suche junge Mädchen für eine Fotoserie für die Pariser Vogue. Die Vogue-Redaktion wird später verneinen, dass es diesen Auftrag gab. Die Mutter will zur Fotosession mitkommen – Polanski lehnt ab. Zur zweiten Aufnahme soll eine Freundin mitkommen – Polanski lehnt ab. Samantha Geimer erzählt präzise, was sich an dem Abend in Jack Nicholsons Villa zugetragen hat. Das war bereits in den Polizeiprotokollen nachzulesen (EMMA 6/2009): Der Pool, der Sekt, der Tranquilizer. Die Angst, Nein zu sagen. Trotzdem sagt sie Nein. Es nützt nichts.

Es ist Samanthas Schwester, die es der Mutter sagt. Samantha Geimer beschreibt eindrücklich die Hölle, die nun losbricht. Sie berichtet, wie sie und ihre Familie in die Mühlen eines Polizeiapparates geraten, dem wenig an den Rechten des Opfers liegt. Sie erzählt von der hemmungslosen, verleumderischen Medienhatz, die bis heute nicht zu Ende ist. Und sie beschreibt ihren Absturz in Alkohol und Drogen, der kommt, nachdem Polanski nach Frankreich geflüchtet ist und sein Opfer „das Mädchen“ wird.

Das letzte, was Samantha Geimer, die heute mit ihrem Mann und ihren drei Söhnen als Maklerin auf Hawaii lebt, 2009 wollte, war, dass alles wieder von vorne losgeht.

Wer es immer noch nicht begriffen haben sollte, dem wird bei der Lektüre dieses Buches glasklar: Was 1977 in der Villa von Jack Nicholson geschah, geschah gegen Samanthas Willen. Polanski hat nie Reue gezeigt. Als Samantha Geimers Rechtsanwalt Larry Silver 1990 nach Paris reiste, nachdem sie Zivilklage gegen Polanski eingereicht hatte, winkt der Beklagte den Anwalt seines Opfers an seinen Tisch und sagt: „Larry, wenn Sie sie nackt gesehen hätten, hätten Sie sie auch ficken wollen.“

Samantha Geimers letzter Satz lautet: „Ich habe ihm nicht seinetwegen vergeben, sondern meinetwegen.“

Weiterlesen
Samantha Geimer: The Girl. Mein Leben im Schatten von Roman Polanksi (Orell Füssli)

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