Der gerechte Krieg
Von der Gegenwart gar nicht zu reden. Zerbombte Brücken und Züge, Häuser und Fabriken, Wasser- und Heizölspeicher. Und Tote. In den ersten drei Kriegswochen 500 (laut Nato) bis 1.000 Tote (laut Belgrad) und mindestens 4.000 Verletzte allein unter den "unschuldigen Zivilisten". Die toten Soldaten und Polizisten nicht mitgezählt - als seien das keine armen Schweine.
"Versehentliche" Bombardierungen von Wohnblocks oder auch mal einem albanischen Flüchtlingstreck. Sorry. Für Clinton "bedauerliche Kollateralschäden", die "leider unvermeidlich" sind. Und das ist erst der Anfang. Denn, so US-Generäle sportlich, dieser "top fight" muss "unbedingt gewonnen werden". Höchste Zeit für den Einmarsch von Bodentruppen. Das finden wohl auch "Bill" und "Tony", die täglich in brüderlicher Einigkeit miteinander telefonieren. "This is a buddy movie", schwärmt ein altgedienter Beamter im Weißen Haus laut "Herald Tribune".
Doch für die Opfer ist dieser Kumpel-Film blutige Realität. Auch für die Flüchtlinge aus dem Kosovo, die doch geschützt werden sollten. Das Elend dieser Frauen, Kinder und Alten wächst mit jedem Kriegstag. Sie berichten vom Terror einer wütenden serbischen Soldateska, von zerstörten Häusern und Vergewaltigungen - auch in den Flüchtlingslagern.
19. APRIL 1999. Der Spiegel enthüllt, dass Joschka Fischer bereits vor Antritt seines Amtes von dem bevorstehenden Krieg wusste. Eingeweiht wurde der zukünftige Außenminister von Clinton bei dem hastigen Washington-Trip des Duos Schröder/Fischer gleich nach der Wahl. Ein buddy movie. Und zwei kleine Brüder, die sehr sehr stolz sind, endlich mitspielen zu dürfen. Lafontaine ging - im Wissen um den bevorstehenden Krieg. Fischer hat sich trotz dieses Wissens zum Außenminister ernennen lassen. Warum? O-Ton Fischer: "Wir standen vor der Frage, ob Rotgrün an der internationalen Konstellation scheitern soll." Will heißen: Lieber Hinnahme eines Angriffskrieges statt Machtverlust.
Angeblich ging es in dieser "humanitären Intervention" (Scharping) um Hilfe für die Albaner im Kosovo. Nur: Warum bestärkte dann niemand vorher die innerjugoslawischen demokratischen Kräfte, damit das Land selber mit seinen Problemen fertig werden kann? Und warum dachte niemand vorher an die Folgen für die Kosovoalbaner? Und warum eigentlich wurde ausgerechnet der wichtigste Vermittler, der große geschwächte Bruder Russland nicht vor Bombardierung des kleinen Bruders konsultiert - und danach auch noch schwer brüskiert, notabene vom deutschen Kanzler?
Und was ist mit den unzähligen Krisenherden auf der Welt, in denen die Menschenrechte tagtäglich mit Füßen getreten werden? Woher eigentlich nehmen die Amerikaner das Recht, sich als Weltpolizei aufzuspielen? Nach Vietnam. Und nach Afghanistan, wo dank amerikanischer Unterstützung wg. Öl die Talibane an die Macht kamen - die Talibane, die nicht nur über alle Frauen, sondern über das ganze Land ein Leichentuch breiteten.
In beklemmendem Kontrast zu den Warnungen erfahrener Krisenmanager wie Alt-Bundeskanzler Schmidt, Nato-General a. D. Schmückle oder Ex-US-Außenminister Kissinger - steht die Zustimmung von Medien und Parlament in den ersten Kriegswochen. Die Mediendemokratie schaltete, von wenigen Ausnahmen, so stramm auf Regierungskurs, dass sogar der FAZ angst und bange wurde. Ohne den Beitrag von Gregor Gysi wäre die Parlamentsdebatte wohl "geradezu gespenstig" gewesen, klagte die FAZ, weil "alle Fraktionen des Parlaments in einer Frage, die vielleicht sogar schicksalshaft ist (...) konsensbedürftig und einig" waren.
19. APRIL 1999. Neben der PDS, die kurzerhand als "Kriegsgewinnler" abgestempelt wurde, protestierten in den ersten Kriegswochen nur eine Handvoll Sozialdemokraten und, nach langem langem Zögern, erst sieben, dann heute 900 Grüne - erst am Tag danach wird Minister Trittin aus der Deckung treten. In Bonn macht das böse Wort vom "Karriereknick" bei Widerspruch die Runde. Und der Kanzler droht unverhüllt: Wer in dieser Frage "Verunsicherung" nach außen trage, gehöre nicht an den "Kabinettstisch". Wird, muss die rotgrüne Koalition zerbrechen?
"In Vorkriegszeiten müssen sich jene rechtfertigen, die Krieg nicht für Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln halten. In der Nachkriegszeit ist das umgekehrt." Diese wahren Worte notierte die taz-Korrespondentin Bettina Gaus am Tag nach Kriegsbeginn. Dabei liegen die Argumente gegen diesen Krieg auf der Hand.
Argument 1: Tod, Vertreibung und Zerstörung. An allen Fronten. In Jugoslawien, wo nicht nur "militärische Ziele" stehen, sondern auch Menschen leben. Und im Kosovo, wo die Hoffnung auf ein Zusammenleben jetzt endgültig zerstört ist.
Argument 2: Die Zerschlagung des Völkerrechts. Die Nato ist ein Verteidigungsbündnis, aber führt einen Angriffskrieg ohne Auftrag der UNO. Warum sollten so etwas in Zukunft nicht auch die anderen tun?
Argument 3: Die Zertrümmerung Europas. Unter den Bomben liegt auch die Einheit Europas, liegt das Zusammenwachsen von Ost und West begraben.
Argument 4: Die drohende Ausweitung des Konfliktes. Gar nicht auszuschließen, dass auch die Nachbarländer in den Krieg hineingezogen werden. Wird der Kosovo Teil eines großalbanischen Reiches - unter islamistischer Führung und mit der Scharia als (Gottes)Gesetz, ganz wie das "befreite" Tschetschenien?
Argument 5: Die deutsche Schuld. Es hätte gerade Deutschland gut angestanden, sich zurückzuhalten, 58 Jahre nach unserem Bombenangriff auf Belgrad und 100.000 tote Serben, die zusammen mit Russland gegen Hitler gekämpft hatten. Das ist das Entwaffnendste bei den Versuchen der Rechtfertigung dieses Krieges: der Vergleich der serbischen Greueltaten mit den deutschen Naziverbrechen. Denn Grauen und Grauen ist eben nicht immer gleichzusetzen. Es ist durchaus steigerbar, wie wir spätestens seit dem Iran oder Afghanistan wissen. Forsch reden Außenminister Fischer (immerhin der Chef der deutschen Diplomatie) und Verteidigungsminister Scharping in selbstgerechtem Ton von "Völkermord", "Selektion", "Deportation", "SS", "KZs", ja einem "zweiten Hitler" auf dem Balkan. Und der Ex-Sponti Fischer bemühte noch in der vierten Kriegswoche dreist die linke Folklore, indem er den Vergleich mit den Francofaschisten beschwor und die Grünen auf ein "no pasaran" in - ja wo eigentlich? einschwören möchte. Soll damit auch die eigene zunehmende Verunsicherung übertönt werden? Aber wo bleibt das Geschichtsbewusstsein dieser neudeutschen Minister? Denn ein solcher Vergleich ist eine sträfliche Verharmlosung deutscher Verbrechen und des Holocaust. Und er ist tiefenpsychologisch aufschlussreicher, als es den Akteuren lieb sein kann. Diese Söhne wollen es besser machen, wollen endlich auf der "gerechten" Seite fighten - doch verfallen die humanistischen Kreuzritter dabei in eine ganz ähnliche Attitüde der Ausblendung und Degradierung der Opfer, wie ihre Väter. Sie sind eben immer noch die Kinder ihrer Eltern.
Argument 6: Die vergewaltigten Frauen. Die werden von einer marodierenden, verrohten Soldateska aller Fronten jetzt noch mehr geschändet als zuvor. Und auch die Freundinnen und Ehefrauen dieser "Helden" werden ihr blaues Wunder erleben, wenn die Jungs vom buddy movie in das Alltagsleben von Belgrad oder Tirana, Düsseldorf oder Denver zurückkehren. Das werden nicht mehr dieselben Männer sein.
Das sind die Folgen - sind es auch die Ziele? Eines ist sicher: Wenn dieser Krieg - der allein Deutschland täglich 5 Millionen DM kostet - vorbei ist, zieht sich unser amerikanischer Freund auf seinen fernen, sicheren Kontinent zurück. Und dann - netter Nebeneffekt oder angestrebtes Ziel? - steht Amerika da als Nr. 1, in der "neuen Weltordnung" während der Konkurrent Europa vor seinen Scherben steht. "So beginnen Weltkriege. Vielleicht werden die Historiker eines Tages den Ereignissen dieser Tage in Stunden und Minuten nachforschen, um zu verstehen, wie die Welt in den Wahnsinn gestürzt wurde." Mit diesen Worten zitierte die FAZ am 16. April die Moskauer "Neue Iswestija". Wir können nur aus tiefstem Herzen hoffen, dass sie unrecht behält.
19. APRIL 1999. Bonn zieht nach Berlin, das Parlament in den neuen Reichstag. Als deutsche Parlamentarier dort nach dem Zweiten Weltkrieg 1949 zum ersten Mal wieder tagten, da lautete ihr ehener Vorsatz: "Nie wieder Krieg."