Ahmad Mansour: Wir müssen reden!

Ahmad Mansour: "Wir zeigen euch neue Weg auf. Aber den Weg müsst ihr alleine gehen." © Campus Muengersdorf Internal College
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Es ist 8 Uhr morgens, auch wenn die Stunde schon angefangen hat, kommen nach und nach noch SchülerInnen, halb verschlafen, aber sie helfen mit, einen Halbkreis mit ihren Stühlen zu bauen. Schnell werden sie neugierig: „Woher kommst Du?“, fragen sie mich. Andere wollen mehr über meine Kolleginnen und Kollegen wissen. Die Lehrerin zieht sich hinter den Halbkreis zurück.

Wir stellen uns den SchülerInnen vor: „Ich bin Ahmad. Können wir uns duzen?“ Alle in der Runde nicken. Dann stellen sich die TeilnehmerInnen der Reihe nach vor. Ein Jüngerer mit kurzen, gegelten Haaren, der die ganze Zeit unruhig mit den Beinen wippt und schnell spricht, sagt zum Beispiel: „Ich heiße Ali, bin aus Afghanistan. Ich bin 16.“ Er sieht eher aus wie Mitte 20, denke ich. Eine andere ist Aysha, sie ist 17, trägt ein Kopftuch und sieht aufgeweckt aus. Asil kommt aus dem Iran mit engen Jeans und ärmellosem T-Shirt. Mouhamad ist aus dem Irak: „Ich bin Kurde, bin seit 2016 in Deutschland.“

„Wir versprechen euch nur eines“, sage ich der Gruppe, „euch neue Wege aufzuzeigen. Aber der Weg ist eurer. Den müsst ihr alleine gehen. Wir werden ein paar Rollenspiele mit euch machen und euch dabei keine Regeln vorgeben, außer der, dass wir alle respektvoll miteinander umgehen. Schaffen wir das?“ Die jungen Menschen nicken wieder. Das mit dem Respekt sage ich immer, denn Respekt ist selbst in der Schule nicht immer eine Selbstverständlichkeit. Trotzdem klappt es immer, dass der Ton zwar manchmal laut, aber nicht verletzend oder grenzüberschreitend ist.

In Asylheimen, Willkommensklassen in Schulen, Ausbildungsstätten, aber auch in Gefängnissen bietet meine Initiative für Demokratieförderung und Extremismus-Prävention Workshops zur Wertevermittlung an. Es sind Dialogplattformen, geleitet von professionellen Fachkräften mit Migrationshintergrund. Durch die Nähe zu den Welten der Teilnehmer schaffen wir Vertrauen, ermöglichen Austausch auf Augenhöhe. Wir nehmen die Menschen und ihre Themen ernst, beschönigen dabei nicht und vermeiden auch nicht die heiklen Themen, sondern sprechen sie in aller Deutlichkeit an. Das schafft Widerstand, aber auch das Gefühl, ernstgenommen zu werden.

Mitgebracht haben wir Rollenspiele, überspitzte Situationen aus dem Alltag, über Erziehung, Vaterfiguren, Emanzipationswünsche von Frauen, Partnerschaft, Eifersucht, Liebe zwischen unterschiedlichen Kulturen oder Sexualität. Rollenspiele, so unsere Erfahrung, sind eine tolle Möglichkeit Themen zu platzieren, Menschen emotional zu erreichen, sie zum Nachdenken zu bewegen, ihre Meinung zu formulieren. Unsere Aufgabe ist es, die Diskussion zu begleiten, durch Nachfragen, Hinterfragen; beinahe alles in Frage zu stellen, die Teilnehmer zu ermutigen, Alternativen zu schaffen, Denkanstöße zu geben, die mitgebrachten Werte in Frage zu stellen, Ängste abzubauen und sie durch Vorbilder, Biographiearbeit und Offenheit zum Nachdenken zu bringen. Freiwillig, ohne Druck, ohne belehrend zu wirken.

Dabei ist es wichtig zu betonen, dass diese Rollenspiele keinesfalls geschlossene Geschichten mit Moral sind, sondern Situationen aus dem Alltag der Menschen aufgreifen. Die Workshop-LeiterInnen sind nicht dazu da, um den Teilnehmern Lehren zu erteilen, das müssen sie schon selbst tun. Sie werden begleitet auf ihrer Reise, aber fahren müssen sie selber. Wir verstehen uns als Gedankenpflanzer im Garten der Mündigkeit und Aufklärung.

Das erste Rollenspiel beginnt: Ein Vater kommt nach Hause, sieht seinen Sohn vor dem Computer sitzen und spielen. Der Vater wird wütend, gibt dem Sohn einen Schlag auf den Hinterkopf.
„Was machst du hier? Spielen, spielen, spielen! Den ganzen Tag spielst du. Gehst nicht in die Schule, sitzt nur zu Hause rum und machst nichts, außer zu spielen.“ – „Ja, aber Baba …“ – „Deine Mutter weint jeden Tag wegen dir. Und warum warst du heute nicht in der Moschee? Alle fragen mich ständig nach dir. Und ich? Ich weiß nie, was ich sagen soll. Ich schäme mich.“ – „Ich weiß auch nicht …“ – „Ich weiß auch nicht, ich weiß auch nicht! Was weißt du denn, Sohn? Sagʼs mir!“ – „Ich …“ – „Was?“ – „Mir gehtʼs nicht so gut …“ – „Kein Wunder. Du hängst ja auch nur zu Hause rum und spielst. Zur Schule gehen sollst du, arbeiten, beten sollst du, auf deine Schwestern aufpassen. Nichts davon machst du. Was soll nur aus dir werden? Eine Schande bist du!“ – „Baba, ich …“ – „Sei ruhig. Ich will nichts mehr hören. Geh mir aus den Augen. Sofort.“

Ende. Applaus.

Nach einem kurzen Moment frage ich: „Was fällt euch dazu ein?“ Manche Antworten kommen unmittelbar, manche sehr zögerlich. Und sie sind sehr unterschiedlich.
„Ha, genauso ist mein Vater! Als ob ihr in meiner Familie zu Besuch gewesen wärt.“
„Ich wünschte, ich hätte so einen Vater gehabt. Meiner hat mich eigentlich immer nur ignoriert. Da konnte ich machen, was ich wollte.“
„Ich verstehe den Vater. Er will dem Sohn etwas vermitteln. Da muss man auch streng sein. Die Eltern meinen es ja nicht böse.“
„Also ich sehe nur Dominanz. Da wird nicht nachgefragt, warum spielst Du? Nur Vorwürfe, ein Gewitter an Ansagen. Es wird ihm ein schlechtes Gewissen gemacht, mehr nicht. Da ist null Interesse für den Sohn.“

Ich bin überrascht, wie sich diese jungen Menschen nicht nur ihren MitschülerInnen und uns gegenüber allmählich öffnen, über Fehler nicht nur nachdenken, sondern auch sprechen, sie zugeben, sie reflektieren. Und das, obwohl wir uns erst eine halbe Stunde kennen.

Beim zweiten Rollenspiel geht es um einen Streit zwischen Mutter und Tochter. Die Tochter, 19 Jahre, will ausziehen. Im Zuhause der Eltern lebt sie weit weg von der Klinik, an der sie zur Krankenschwester ausgebildet wird, und die vielen Geschwister stören sie beim Lernen. Sie könnte jetzt mit einer Kollegin in eine Wohnung nah der Klinik ziehen. „Aber nein!“, entrüstet sich die Mutter. Die Tochter solle daheimbleiben, „das ist unsere Tradition!“ Sie appelliert ans Gewissen: „Wer soll mir hier helfen, wenn du nicht da bist?“ Sie warnt: „Als Frau alleine zu wohnen, das ist gefährlich!“. Sie schimpft: „Was werden Vater, Brüder, Nachbarn sagen, wenn du unverheiratet ohne uns lebst?“

Hier bricht das Rollenspiel ab, es hat nur Fragen formuliert. Antworten auf das Dilemma soll die Gruppe finden. Erst gibt es begeisterten Applaus: Sie kennen das! Im Stuhlkreis lachen sie, blicken einander an, melden sich dann nach und nach zu Wort. Wie jedes Mal nach dieser Szene wird kontrovers diskutiert, und dabei scheint die Atmosphäre intimer und vertrauter zu werden. Ein paar der Mädchen tasten sich vor. Ja, sie sympathisieren mit der Tochter. Widerspruch kommt auf. „Frauen haben kein Gehirn“, sagt Abed auf die Frage, warum seine Schwester nicht alleine wohnen darf. Bashar pflichtet ihm bei: „Die Ehre eines Mannes steckt zwischen den Beinen einer Frau.“ Damit zitiert er ein bekanntes türkisches Sprichwort. „Meine Schwester muss Jungfrau bleiben. Sie darf keinen Freund haben.“ Andere schlagen schnelle Lösungen vor: Eine größere Wohnung für die Familie – dann müsste sich gar nichts ändern! Rege wird diskutiert, gestritten. Wir kommentieren kaum.

Nach mehreren Szenen und Debatten entsteht meist Freude daran, mit dem Team zusammen nachzudenken. Es geht ja um wahre, reale Lebensthemen, die an den Schulen nie oder nur selten und oberflächlich zur Sprache kommen, und dann oft nur zu einer Ihr-Wir-Blockade führen, also „Muslime“ versus „westliche Welt“. Unsere Workshops wollen diese Blockade transzendieren. Immer, wenn das gelingt, atmen wir auf.

Im zweiten Schritt sollen Rollenspiele nicht nur diskutiert, sondern unter Einbindung der TeilnehmerInnen neu gespielt werden, wobei ihre Fragen oder Einstellungen in den Szenen miteinfließen sollen oder sogar die Szenen wunschgemäß umgestellt werden. Hierbei spielen die Teilnehmer im Workshop erarbeitete und vorgeschlagene Lösungsansätze zum Teil selbst durch. Es ist ja das erklärte Ziel, zu ermutigen selber zu denken und selber zu handeln – denn schließlich beginnt Freiheit im Kopf.

Das Thema ist emotional, das merkt man an den Gesichtern der gesamten Gruppe. Sie wirken teilweise nachdenklich, teilweise überfordert, manche persönlich betroffen; man sieht ihre Ängste beinahe förmlich, ihre inneren Konflikte. Man sieht auch die Wünsche, die Träume in den Augen der Schülerinnen und Schüler.

Mit dem einen Workshop ist die Arbeit nicht getan, es ist ein langer Weg zur Emanzipation von den Eltern, den Männer- und Frauenrollen der patriarchalischen Kulturen. Ein Weg, den nicht jede und jeder gehen wird. Das zeigt uns auch die Migrationsgeschichte in Deutschland, ein Weg, der leider auch Menschenleben kosten wird, ein Weg, der von manchen nicht einmal als solcher gesehen wird. Aber damit die Reise beginnt, brauchen diese Menschen Unterstützung, langfristige Begleitung, sie brauchen Aufklärung und Dialogmöglichkeiten. Und auf der anderen Seite einen starken Rechtsstaat, der nicht nur fördert, sondern fordert; einer, der diejenigen unterstützt, die mit Deutschland Freiheit und Emanzipation verbinden und denjenigen, die auch in Deutschland weiterhin ihre patriarchalischen Strukturen und die Tabuisierung der Sexualität, besonders der Frauen, weiterleben wollen, klar macht: Dass sie dann hierzulande mit Gegenmaßnahmen und gegebenenfalls sogar mit Repression rechnen müssen.

Das Attentat in Würzburg, bei dem drei Frauen starben, ist auch Thema in dem Workshop. Viele äußern sich sehr klar: Abschieben! Lebenslang solle der Täter im Gefängnis bleiben. Besonders aus der Gruppe der Geflüchteten ist häufig zu hören, dass er allen Flüchtlingen geschadet habe, denn jetzt denken wieder alle, jeder von ihnen sei Islamist. Die Frage, warum der Täter bewusst Frauen als Opfer gewählt hat, können die meisten nicht klar beantworten. Vielleicht hasse er Frauen, vielleicht habe ihn seine Freundin verlassen, vermuten manche. Aysha traut sich schließlich zu sagen: „In unserer Heimat werden täglich Frauen von Männern umgebracht, aber da berichten die Medien nicht darüber.“

Ein selbstbewusster und normaler Umgang mit dem anderen Geschlecht ist eine Grundvoraussetzung für das emotionale Ankommen in unserer Gesellschaft. Wer von klein auf Sexualität als Sünde sieht, selbstbewusste Frauen als Gefahr betrachtet und die Macht der Männer über das Leben, die Freiheit und Sexualität der Frauen behalten will, kann nicht Teil unserer Gesellschaft werden. Denn die dadurch entstehenden körperlichen und seelischen Belastungen führen häufig dazu, dass Jugendliche sich ständig unterschwellig obsessiv mit Sexualität beschäftigen. Solange, bis der nicht zu unterdrückende Drang nach sexuellem Erleben sich, besonders bei den männlichen Jugendlichen und vor allem, wenn diese nach Europa migrieren – nur noch auf das Stillen des eigenen sexuellen Hungers beschränkt, zur Not mit Gewalt.

Diese Dynamik gilt als Ursprung für die in den betreffenden Milieus weit verbreitete Wahrnehmung der Frauen als pures Sexualobjekt. Wie sollte sie anders gesehen werden können? Frauen und Sexualität sind so sehr Tabu, dass alles um diesen „Schmutz“ kreist, den es zu vermeiden gilt. Junge Männer setzen Frauen herab, behandeln Mädchen kontrollierend oder verächtlich, Männer wiederum scheinen das Recht zu haben, sich ihrer zu bedienen.

Dieser grundlegend unterschiedliche Umgang mit Sexualität, die daraus entstehenden Differenzen und vor allem die bisherige Verdrängung des Problems sind ein großes Hindernis bei der Integration. Auch Gewalt an westlichen Frauen, an Homosexuellen ist ein Produkt dieser unterdrückten Sexualität, die in Extremfällen nicht nur zu Verachtung führt, sondern auch zu Hass und Gewalt, wie wir es nicht nur in Wien und Würzburg gesehen haben, sondern auch in Dresden und vielen anderen Orten. Dass das aufhört, dazu möchten wir mit unseren Rollenspielen beitragen, in denen es um eine Realität geht, die sich ändern lässt.

Ahmad Mansour

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