Der Osten: Das Labor Europas?

Landflucht in Mecklenburg-Vorpommern. Foto: Imago Images
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Die Mischung aus Frauenmangel, Überalterung und Abwanderung in Ostdeutschland, vor allem in ländlichen Gebieten, ist international ungewöhnlich, sagt die Forscherin Katja Salomo. Das sei noch viel zu wenig in der politischen Debatte angekommen. Im Herbst wählen Sachsen und Thüringen am 1. September, Brandenburg drei Wochen später. Wie schon bei der EU-Wahl liegt die in Teilen rechtsextreme AfD in allen drei Bundesländern vorn. Und die einzige Frage, die in den vergangenen Monaten zu interessieren schien, lautet: Kippt „der Osten“ nach rechts?

Salomo hat 2019 in einer Studie für das Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) erstmals den Zusammenhang zwischen Abwanderung und Überalterung sowie dem Aufkommen fremdenfeindlicher Einstellungen nachgewiesen. Je mehr Menschen wegzogen und je mehr Frauen darunter waren, desto mehr glaubten die zurückbleibenden Bewohner, nicht mehr Teil der Gesellschaft zu sein. Leere Häuser, leere Läden, fehlende Kultur und stillgelegte Bahnhöfe erinnern die Zurückgebliebenen Tag für Tag daran, dass viele ehemalige Einheimische lieber woanders lebten. – Ein Gespräch über die politischen Folgen der Abwanderung, die Radikalisierung von jungen Männern und die Passivität der Frauen.

Frau Salomo, Sie haben in den vergangenen Monaten an der Universität Oxford dazu geforscht, warum extrem rechte Parteien in manchen Ländern Europas Erfolg haben und in anderen nicht. Was haben Sie herausgefunden?
Die regionalen Unterschiede, was Einkommen, Versorgung, Lebensqualität angeht, sind zwischen Stadt und Land sowie einzelnen Regionen in den vergangenen Jahren stärker geworden. Das war früher umgekehrt. In den 1980er Jahren näherte sich die Lebensqualität zwischen Stadt und Land an. Mir ist in Oxford vor allem aufgefallen, wie groß im Ausland das Interesse an Ostdeutschland ist. Ich habe mich in der Zeit dort über wenig Anderes unterhalten als über Ostdeutschland. Für viele Briten undpolitische BeobachterInnen aus anderen europäischen Ländern ist Ostdeutschland eine Art Projektionsfläche: Viele Entwicklungen, die sich anderswo auch vollziehen, sind im Osten wie unter einem Brennglas zu betrachten. Im Osten Deutschlands zeigt sich die Zukunft Europas, hörte ich oft. Das betraf die Europawahl, ging aber auch darüber hinaus. In Deutschland wird das viel weniger so gesehen, die Wahlen in den drei ostdeutschen Ländern Brandenburg, Sachsen und Thüringen gelten eher als Regionalereignis.

Was meinen Sie damit, wenn Sie sagen, im Osten könnte sich die Zukunft Europas entscheiden?
Ich meine die Konflikte zwischen Stadt und Land, zwischen Zentrum und Peripherie, die in allen europäischen Ländern eine Rolle spielen. In vielen ländlichen Gebieten fühlen sich die Menschen unzufrieden, sich mit ihren Anliegen nicht repräsentiert. In Thüringen und anderen ostdeutschen Ländern geht es seit 2000 wirtschaftlich besser, die ökonomische Situation ist nicht mehr so relevant wie früher. Doch während sich die Wirtschaft erholt hat, ist die demografische Lage prekärer geworden. Es wird viel zu selten erwähnt, dass die demografische Lage in Ostdeutschland extrem ist.

Weil so viele Frauen weggegangen sind und sich dadurch das Männer-Frauen-Verhältnis verändert hat?
Das auch, aber nicht nur. Es ist eine Mischung verschiedener Faktoren. Nach 2000 wanderten mehr Frauen ab, sie sind oft formal besser gebildet, studieren häufiger, sie suchen Jobs im Dienstleistungsbereich, davon gibt es weniger im ländlichen Ostdeutschland. Und es kamen weniger Frauen zurück. In Ostdeutschland – und vor allem in den ländlichen Gemeinden und kleineren Städten – gibt es eine international ungewöhnliche Konzentration von Problemen: Es leben dort sehr wenige junge Menschen und darunter noch weniger Frauen. Es gibt in Japan noch stärker überalterte Gebiete, in Südkorea ist die Geburtenrate noch niedriger, doch so gebündelt liegen diese ungünstigen Bedingungen nur in Ostdeutschland vor. Man merkt das in vielfältiger Form: Es stehen Läden leer, die Spielplätze sind leer, weniger Dorffeste oder kulturelle Veranstaltungen finden statt, das wirkt sich auf die Lebensqualität aus.

Männer könnten doch auch Dorffeste organisieren, oder?
Natürlich, aber wo es an Frauen fehlt, fehlt es letztlich an Familien und Kindern. Und wir wissen aus der Forschung, dass Frauen mehr in soziale Beziehungen und Netzwerke investieren. Außerdem hat der Frauenmangel weitreichende Folgen: Wegen des Geburtenrückgangs schrumpft die Bevölkerung langfristig. Der Mangel an gut qualifiziertem Personal ist dann auch in der Verwaltung zu spüren.

Ist es nicht gesetzlich vorgeschrieben, dass der Staat überall die gleichen Leistungen erbringt?
Eigentlich schon. Aber es hat sich herausgestellt, dass Städte und finanzstarke Kommunen mehr öffentliche Gelder abrufen. Ein Beispiel aus Thüringen: Jena, eine Universitätsstadt, hat im Jahr 2021 das 86-fache im Vergleich zum eher strukturschwachen Landkreis Altenburger Land an langfristiger Projektförderung abgerufen. Das Altenburger Land bekam etwa 74 Euro pro EinwohnerIn, Jena dagegen bekam 6.365 Euro pro EinwohnerIn. Darunter fallen Förderprogramme von verschiedensten Ministerien, Gelder für die Hochschulförderung zählen jedoch nicht dazu. Das Verhältnis von, beispielsweise, München zu kleineren ländlichen Kommunen in Bayern ist ähnlich. Konkret bedeutet das, dass die Kommunen, die das Geld am meisten bräuchten, nicht an die Mittel kommen. Es mangelt nicht an Fördergeldern, sondern an der Kompetenz oder am Wissen, wie man sie abruft. Das wird in den nächsten Jahren noch dramatischer werden, wenn die Babyboomer in Rente gehen. Ein weiteres Hindernis ist der bei den meisten Projektförderungen notwendige „Eigenanteil“, den Kommunen übernehmen müssen. Dies ist für Kommunen mit geringem Steueraufkommen, die stark von Abwanderung und Alterung betroffen sind, besonders schwierig.

Sie haben in einer Studie 2019 festgestellt, dass es im Osten einen Zusammenhang zwischen Überalterung, Abwanderung, Frauenmangel und der Verbreitung fremdenfeindlicher Einstellungen gibt. Das hat sich seitdem verschärft, oder?
Ja, die politischen Auswirkungen haben sich verschärft. Im Westen ist eher Arbeitslosigkeit und wirtschaftliche Stagnation eine Motivation, AfD zu wählen, im Osten ist der durchschlagende Faktor die Demografie. Ein Problem dabei ist, dass rechtsradikale Kräfte diese Prozesse seit Jahren genau beobachtet haben und strukturschwache, ländliche Räume gezielt besetzen, um die Zivilgesellschaft zu kapern. Ein prominentes Beispiel ist der rechtsextreme Aktivist Götz Kubitschek aus Ravensburg, der als Vordenker der AfD gilt. Er kaufte sich ein Rittergut in Schnellroda in Sachsen-Anhalt und baute es als „Denkfabrik“ aus. Es gibt noch andere, weniger prominente Beispiele. Sie lassen sich in kleinen Orten nieder, weil sie wissen, dass sie dort keine Gegenwehr zu erwarten haben. Ich weiß das von meinem eigenen Heimatort, einem Dorf im Erzgebirge. Dort wurde ein Heimatverein gegründet und dieser Heimatverein kümmert sich nun gezielt um die Kriegergräber aus dem Ersten Weltkrieg. Es wird geputzt und gepflegt und die gefallenen Soldaten werden als „unsere Helden“ verehrt. Es ist gut, an die Toten des Ersten Weltkrieges zu erinnern, aber wir verklären diese in Deutschland eigentlich nicht zu Helden, denn sie waren Soldaten in einem Angriffskrieg auf unsere Nachbarländer.

In vielen Orten in Thüringen und Sachsen fühlen sich vor allem junge Männer von der AfD angezogen. Haben Sie eine Erklärung dafür?
Die rechtsextreme Ideologie als eine Ideologie der Ungleichwertigkeit zwischen sozialen Gruppen hebt weiße, heterosexuelle, körperlich fitte sogenannte Cis-Männer auf ein Podest. Auch werden junge Männer gezielt von rechtsextremen Parteien und Gruppen angesprochen, offline und online. In Ostdeutschland, das stark von Abwanderung betroffen war, sind die jungen Männer in eher ländlichen Orten meist diejenigen, die sich gegen eine Abwanderung entschieden haben, und besonders unter der Strukturschwäche dieser Regionen leiden. Sie fühlen sich „zurückgelassen“. Über eine weitere mögliche Erklärung denke ich häufig nach: Die jüngeren Generationen leiden stärker unter den Auswirkungen der seit den 1980er Jahren zunehmenden regionalen Ungleichheit in Europa, unter den Folgen der Finanzkrise, den wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie, den steigenden Mieten und stagnierenden Reallöhnen sowie den Folgen des Klimawandels. Dies betrifft junge Männer und Frauen, aber Männer mögen sich stärker „betrogen“ sehen um eine Zukunft, die einmal möglich schien. Frauen verstehen vielleicht besser, dass sie für ihren Anteil kämpfen müssen und reagieren weniger radikal. Dies ist momentan allerdings mehr eine Hypothese, die mehr Forschung bedarf. Bei den Landtagswahlen in Thüringen 2019 haben zehn Prozent mehr Männer als Frauen die AfD gewählt. Nach neueren Zahlen nähert sich das Wahlverhalten aber an. Trotzdem: Könnten die Frauen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen den Siegeszug der AfD aufhalten?
Ich sehe da keine gezielte Mobilisierung von Frauen. Ich würde aber sagen, dass bei Frauen wie Männern das Problembewusstsein viel größer ist als vor fünf Jahren. Nach dem Bekanntwerden der Correctiv-Recherchen Anfang dieses Jahres hat es auch eine Welle von Demonstrationen in kleineren und mittelgroßen ostdeutschen Städten gegeben.

Die AfD vertritt ein äußerst reaktionäres Frauenbild, ist für die Beibehaltung des Paragrafen 218 und idealisiert die traditionelle Kleinfamilie. Warum wählen ausgerechnet ostdeutsche Frauen sie?
Vielleicht wissen sie gar nicht davon? Es ist aus der Forschung bekannt, dass Menschen, die rechtsextreme Parteien wählen, oft weniger gut informiert sind. Sie entnehmen ihre Informationen vorrangig aus den sozialen Medien. Die AfD wirbt nicht offensiv mit ihrer Frauenpolitik. Es ist eher etwas, wonach man gezielt suchen muss. Außerdem ist es auch nicht so, dass Frauenförderung bei den anderen Parteien so eine große Rolle spielt. Die jüngst aufgeflammte Debatte um Paragraf 218 ist sofort verebbt. Nach der Vereinigung 1990 wurden ostdeutsche Frauen massiv abgewertet, sie waren diejenigen, die mehrheitlich ihre Arbeit verloren. Es wurde über die „unselige Erwerbsneigung der ostdeutschen Frauen“ gehetzt. Wenn über Strukturwandel im Osten geredet wird, geht es meist darum, wie Industriearbeitsplätze für Männer behalten oder neu angesiedelt werden: durch Wasserstoffkraftwerke oder Chip- oder Autofabriken. Frauen brauchen gut bezahlte Dienstleistungsjobs, sie brauchen eine gute Verkehrs- und Betreuungsinfrastruktur. Da wird zu wenig getan.

In Thüringen und Sachsen tritt erstmals bei einer Landtagswahl auch das „Bündnis Sahra Wagenknecht“ an. Welche Chancen hat die Partei der ehemaligen Spitzenpolitikerin der Linken?
Das BSW könnte der AfD durchaus zu schaffen machen.

Was macht Ihnen Hoffnung?
Für Ostdeutschland? Die großen Abwanderungswellen sind gestoppt, allerdings gehen nun die Baby-Boomer in Rente. Mehr Ostdeutsche kommen aus anderen Landesteilen zurück und wollen anpacken, aber die Probleme sind zu groß für individuelles Engagement. Es gibt ländliche, strukturschwache Kommunen im Osten, in denen die BürgermeisterInnen viel auf die Beine stellen, aber die Bevölkerung vor Ort wählt trotzdem in großen Anteilen AfD zu Bundestagswahlen.

Das Gespräch führte Sabine Rennefanz.

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