Spiegel, EMMA & die Mammografie

Demo vor dem Brandenburger Tor in Berlin. - © Katharina Mouratidi
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Der Spiegel hat eine Obsession, und die heißt: Alice & EMMA. Eine Art Hassliebe. Oder ist es nur Hass? In den vergangenen Wochen und Monaten gab es kaum eine Ausgabe, in der nicht die eine oder andere vorkam, bzw. beide gleichzeitig, denn sie gehören ja zusammen.

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Das heißt, in manchen Fällen weiß er EMMA auch fein zu verschweigen. Berichtet der Spiegel etwa über Missbrauch, erwähnt er nicht, dass EMMA, und nur EMMA!, bereits in den 1970er Jahren das Tabu brach und seit den 1980er Jahren über die pseudofortschrittlichen "Kinderfreunde" informierte, die in den Mainstream-Medien erst seit jüngster Zeit Thema sind (Stichwort Odenwaldschule). Oder schreibt der Spiegel über Prostitution, und das neuerdings sogar manchmal kritisch, erwähnt er nicht etwa, dass er reichlich Informationen und Analysen bei EMMA abgeschrieben hat. Uns stört das wenig. Hauptsache, die Sache kommt voran.

Dann wieder gibt es Fälle, da kann er EMMA gar nicht genug benennen. Wie beim Brustkrebs, eine aktuelle Geschichte über die Gefahren des Mammografie-Screenings. Es scheint international so zu sein, dass der Zeitpunkt für eine umfassende Neubewertung des flächendeckenden Brustkrebs-Checks gekommen ist. Und es mehren sich die Stimmen von ExpertInnen, die sich vom Massenscreening verabschieden und nur noch Frauen, die zu Risikogruppen gehören, präventiv untersuchen wollen.

EMMA hat Brustkrebs in Deutschland zum Thema gemacht

Mag sein, dass das richtig ist. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund neuer Erkenntnisse und Methoden. Wer würde schon eine solche kritische Bilanz verhindern wollen? EMMA natürlich. Klar. "Bis heute wehrt sich nicht nur die EMMA gegen jede Kritik am Brustkrebs-Früherkennungsprogramm", behauptet der Spiegel. Ah ja? Ist damit unsere Berichterstattung von 2010 gemeint, in der wir durchaus auch kritische Stimmen zum Mammografie-Screening zu Wort kommen ließen?

EMMA hat allerdings in einer Zeit, in der Brustkrebs überhaupt kein Thema war, in der Tat die Prävention und Behandlung von Brustkrebs in Deutschland zum Thema gemacht. Das war in Zeiten, in denen auch die wenigen engagierten MedizinerInnen erklärten, Brustkrebs sei die "Frauenseuche Nr. 1" und es sei ein Politikum, dass die Medizin sich kaum darum kümmere. Der Kieler Toxikologe Prof. Otmar Wassermann bezeichnet diese Ignoranz damals gar als einen "Genozid an Frauen".

Es war dann die Aufklärungskampagne von EMMA 1996, die letztendlich die Medizin und die Politik in unserem Lande aufrüttelte. Als eines der letzten westlichen Länder führte Deutschland dann 2005, fast ein Vierteljahrhundert nach den USA, unter der Ägide von Gesundheitsministerin Ulla Schmidt das flächendeckende Screening ein. Brustkrebs wurde nun endlich ernst genommen! Und das in der Tat dank EMMA und der auf die Berichterstattung folgenden zahlreichen Brustkrebs-Initiativen, das heißt: Dank der betroffenen Frauen selbst.

Wenn nun, nach Jahren und Jahrzehnten Kampf gegen den Brustkrebs, die Methoden zur Früherkennung sowie Therapien zur Behandlung einer kritischen Bilanz unterzogen werden, dann begrüßt das nicht nur der Spiegel, sondern auch die EMMA. Und vor allem: Es nutzt den Frauen!

Also, liebe KollegInnen vom Spiegel, wie wäre es mit etwas weniger Feindbild-Fixierung und mehr Sachorientiertheit?

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Mammographie: Ich will leben!

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Zuerst war es für Ingrid Müsch (Foto links) „schon ein komisches Gefühl“, dass sie jetzt am Bahnhof von Münster hängt. Überlebensgroß und mit bloßen Schultern schaut sie den PassantInnen von ihrem drei mal zwei Meter-Plakat aus tief in die Augen; der Blick ernst, ein Lächeln angedeutet. Die 66-jährige Buchhalterin aus dem rheinischen Städtchen Pulheim ist ein eher stilles Gemüt und solche im wahrsten Sinne des Wortes großen Auftritte nun wirklich nicht gewohnt. Dennoch hat sie Ja gesagt, als Fotografin Bettina Flitner sie fragte, ob sie mitmachen würde bei dieser Fotoaktion.

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Ingrid Müsch weiß, wie das ist, wenn man eines Tages plötzlich einen Knoten tastet.

Denn Ingrid Müsch weiß, wie das ist, wenn man eines Tages plötzlich einen Knoten tastet. Ein Knoten, den man selbst in der Brust fühlen kann, ist meist schon ziemlich groß. Gleich zweimal ist Ingrid das passiert. Gott sei Dank stellten sich die potenziellen Krebstumore beide Male als harmlos heraus. Aber sie kennt die furchtbare Angst und ist deshalb froh, dass es jetzt das gibt, was als Schriftzug weiß auf pink unter ihrem Porträt steht: „Mammografie-Screening. Das Programm zur Früherkennung von Brustkrebs.“

Seit 2005 werden in Deutschland Frauen zwischen 50 und 69 alle zwei Jahre zu einer Röntgenuntersuchung der Brust eingeladen. Die Aufnahmen werden von zwei spezia­lisierten ÄrztInnen begutachtet. Das Konzept: Je früher ein Knoten gefunden wird, desto besser die Heilungschancen.

Auch EMMA hatte sich nach den guten Erfahrungen in den USA und ande­ren Ländern früh für ein Mammografie-Screening eingesetzt, zum ersten Mal mit einem Dossier im Oktober 1996. Jahre später haben endlich auch die Frauen in Deutschland die Chance auf eine bessere Brustkrebs-Früherkennung.

Doch das Problem ist: Etwa die Hälfte der Frauen der Altersgruppe – die, bei denen Brustkrebs besonders häufig ausbricht – geht nicht zu der Untersuchung.

Von den 9,2 Millionen Frauen, die seit dem Start des deutschen Screening-Programms ein Einladungschreiben in ihrem Briefkasten fanden, nahmen nur 4,9 Millionen die Möglichkeit wahr, ihre Brüste kostenlos auf Brustkrebs untersuchen zu lassen. Die anderen 4,3 Millionen blieben zu Hause.

Die Skepsis der Frauen vor dem Mammographie-Screening ist groß.

Dabei ist Brustkrebs die tödlichste aller Frauenkrankheiten. Jede zehnte Frau erkrankt im Laufe ihres Lebens daran. Pro Jahr sind das 57000 Neuerkrankungen, 18000 Frauen sterben daran – 50 am Tag. Dennoch scheint die Skepsis der Frauen vor dem Mammografie-Screening groß. Deshalb hat die „Kooperationsgemeinschaft Mammografie“, eine Art ­Dach­verband aller Screening-Zentren, die ­Plakataktion initiiert. Titel: „Mitten im Leben“.

Neben Ingrid Müsch halten elf weitere Frauen im Zielgruppen-Alter ihr Gesicht für die Botschaft hin, es sich bei der nächsten Einladung doch noch einmal zu überlegen – und das Mammografie-Angebot nicht länger auszuschlagen.

Eine der sogenannten Screening-Einheiten liegt an der vielbefahrenen Turiner Straße in Köln. 72000 Mammografien haben Dr. Vesna Slade und ihre KollegInnen seit Beginn des Kölner Programms vor vier Jahren inzwischen begutachtet – und dabei rund 850 Karzinome entdeckt. Für viele der Frauen, die im ersten Durchgang dabei waren, war es die erste Mammografie ihres Lebens. „Da haben wir Tumore in sehr fortgeschrittenem Stadium gefunden. Die waren zum Teil fünf Zentimeter groß, das ist gar nicht zu fassen“, sagt Radiologin Dr. Slade und schüttelt den Kopf. „Viele Tumore tastet man eben nicht. Und wenn man sie tastet, ist es meist zu spät.“

Im zweiten Durchlauf waren es schon sehr viel häufiger kleinere Karzinome und sogenannte Vorstufen, in der Fachsprache „in situ“ genannt. In situ heißt soviel wie „am Ort“. Der Tumor ist also noch auf eine Stelle begrenzt, hat nicht gestreut, weder Lymphdrüsen befallen noch Metastasen gebildet. Den Krebs, oder vielmehr seine Vorstufe, in diesem Stadium zu entdecken, „das ist der Sinn der Sache“, sagt Dr. Slade. „Denn wenn wir Vorstufen finden, ist die Frau gerettet!“

Die Beobachtungen in Köln decken sich mit den Erkenntnissen in Berlin: „Mehr als drei Viertel der Frauen, bei denen Brustkrebs im Rahmen des Mammografie-Screenings entdeckt wird, haben keine ­befallenen Lymphknoten und keine ­Metastasen“, lautet die Bilanz der Koopera­tionsgemeinschaft Mammografie nach fünf Jahren Screening-Programm.

Für die Kölnerin mit dem grauen Kurzhaarschnitt und der braunen Hornbrille, die sich noch kurz ins Wartezimmer setzt, während eine zweite „Klientin“ schon die Kabine betritt, war es selbstverständlich, dass sie der Einladung zur Mammografie folgt. „Eine gute Freundin von mir hat Brustkrebs“, erzählt sie. „Und die ist zehn Jahre jünger als ich. Da hat man eine ­Motivation.“

Sie selbst ist 54, nimmt jetzt also zum zweiten Mal am Screening teil. An der Einladung hat sie nichts auszusetzen, und auch die Strahlenbelastung sei für sie kein Thema: „Da finde ich den Verkehr in der Großstadt gefährlicher.“ Auch Dr. Slade winkt bei dieser Frage ab. „Die Strahlenbelastung entspricht einem Flug nach New York oder der Strahlung, die Sie in einem Skigebiet haben.“

90% der 3000 Erstuntersuchten würden wieder Teilnehmen.

Eine erste Studie zeigt, dass 90 Prozent der 3000 befragten Erstuntersuchten wieder teilnehmen und die Teilnahme auch im Freundinnenkreis weiterempfehlen würden. Auch bei einer Befragung der Brustkrebs-Initiative „mamazone“ gaben die 1170 Teilnehmerinnen den Screening-Einheiten Noten im Einser-Bereich für: Hygiene, Atmosphäre, Erreichbarkeit sowie den Informationsgehalt und den Ton der Einladung.

Für die Einladungen sind im deutschen Mammografie-Programm 14 so ­genannte „Zentrale Stellen“ zuständig. Sie ermitteln die Teilnehmerinnen bei den Einwohnermeldeämtern und verschicken das Schreiben, in dem auch gleich ein Terminvorschlag für die Mammografie gemacht wird, der natürlich auch verlegt werden kann.

Die Termine für die Kölner Screening-Einheit in der Turiner Straße zum Beispiel kommen von der Zentralen Stelle in Düsseldorf. Sie erscheinen auf dem Bildschirm von Gabriele Scholl-Dumstorff, die dann hofft, dass die Eingeladene auch auftaucht. Definitiv weiß die Medizinisch-Technische Assistentin das erst, wenn die Klientin („Patientin sagen wir ja nicht.“) vor ihrem Schreibtisch steht. Zwischen 50 und 55 Prozent liegt in Köln die Teilnahmequote, die übrigens „auch stark vom Stadtteil ­abhängt“, erklärt Scholl-Dumstorff.

Viertel mit höherem Bildungsstandard haben also eine höhere Teilnahmequote? Im Gegenteil. „Das ist das Klischee“, sagt die Expertin. „Es ist aber interessanterweise genau anders herum. Ein sogenannter bildungsferner Stadtteil mit hohem Ausländeranteil wie Chorweiler ist hier sehr gut vertreten.“ Die Südstadt oder Marienburg hingegen sind unterrepräsentiert.

Ein Grund für das soziale Teilnahme-Gefälle, schätzt Scholl-Dumstorff, könne sein, dass sich gebildete Frauen auch schon vor Beginn des Screening-Programms mit dem Thema Brustkrebs­risiko befasst und in ­Abspra­che mit ihrer Gynäkologin ohnehin regel­mäßig Mammografien machen ließen. Möglicherweise bevorzugt die Frau dieses Procedere auch weiterhin – wenngleich die Untersuchung außerhalb des Screening-Programms nicht mehr von den Krankenkassen finanziert wird, die Frau die Mammografie also selbst zahlen muss.

Vielleicht hat so manche der Zöger­lichen aber auch die vielen kritischen ­Artikel gelesen, die im Frühjahr 2010 durch die Medien gingen: „Das verflixte Screening“ sei am „Scheideweg“, hieß es. „Nutzen der Mammografie fraglich“ ­lautete die Diagnose. Gestellt hatten sie zwei Forscher aus Dänemark, die den ­Effekt des Mammografie-Screenings stark anzweifelten. Sie hatten die Brustkrebs-Sterblichkeit dänischer Frauen in Gebieten mit und ohne Mammografie-Screening untersucht. Ihr Fazit: In den beiden Regionen mit Screening-Programm – ­Kopenhagen und Fünen – starben keineswegs signifikant weniger Frauen an Brustkrebs als in Regionen ohne Screening.

„Diese Studie hat ein geringes Gütelevel“, hält Barbara Marnach-Kopp von der Kooperationsgemeinschaft Mammografie gegen. Will heißen: Die Forscher hatten die Sterblichkeitsrate in Gebieten ohne Screening lediglich betrachtet, ohne weitere Faktoren einzubeziehen: Wieviele Frauen ließen sich dort ebenfalls mammografieren? Wie oft und mit welchen Geräten? Welche Qualität hat die Brustkrebs-Therapie in der jeweiligen Region?

„Eine methodisch sehr schlechte Studie“ lautet auch das Urteil von Dr. Angela Spelsberg, Epidemiologin am Aachener Tumorzentrum und in der „Stiftung ­Koalition Brustkrebs“ eine der früh engagierten Aktivistinnen für ein Mammo­grafie-Screening in Deutschland. „Dass das Screening eine der wenigen Maßnahmen ist, mit denen man Brustkrebs wirksam bekämpfen kann, darüber besteht wissenschaftlich nach wie vor kein Dissens.“

Lange Jahre war Deutschland europäisches Schlusslicht, wenn es um die Früherkennung von Brustkrebs ging.

Deutsche Frauen haben sich das Recht auf eine bessere und systematische Brustkrebs-Früherkennung, deren Kernstück das Mammografie-Screening und deren Kooperation mit hochqualifizierten Brustzentren ist, hart erkämpft. Lange Jahre war Deutschland europäisches Schlusslicht, wenn es um die Früherkennung und ­Behandlung von Brustkrebs ging.

Während andere Länder wie Norwegen oder Holland längst ein Mammografie-Screening eingeführt hatten – das mit modernsten Geräten, topqualifizierten Radiolo­gInnen und vorbildlicher interdisziplinärer Zusammenarbeit zwischen Früherkennung, Therapie und Nachsorge Frauen­leben rettete – starben deutsche Frauen weiter an Tumoren, die, wären sie früher entdeckt worden, sehr wahrscheinlich ­behandelbar gewesen wären.

Aber die Bildqualität der antiquierten Geräte war oft ebenso miserabel wie die Qualifikation vieler sie begutachtenden ­RadiologInnen, die die komplizierte Brustkrebs-Diagnostik quasi nebenbei betrieben. Auch die Strahlenbelastung der Geräte war eine Zumutung.

Die Kollegen aus den Nachbarländern, die mit ihren systema­tischen Reihenuntersuchungen die Brustkrebs-Sterblichkeit ihrer Patientinnen um bis zu 30 Prozent reduziert hatten, schüttelten die Köpfe über die deutschen Verhältnisse. Einige ExpertInnen gingen so weit, die Vernachlässigung der Brustkrebs-Früherkennung in Deutschland als „Genozid an Frauen“ zu bezeichnen.

Die Frauen gingen auf die Barrikaden. „Ihr müsst uns jetzt Gesetze geben, damit wir Brustkrebs überleben!“ forderten sie Ende der 90er auf vielen Protest-Demos im ganzen Land. Sie trugen Plakate, auf denen Frauen mit amputierten Brüsten zu sehen waren, durchs Brandenburger Tor; sie gründeten Initiativen namens „mamazone“ oder „Wir alle“ und vereinten sich schließlich zur „Koalition Brustkrebs“; und sie kippten der damaligen Bundes­gesundheitsministerin Andrea Fischer (Die Grünen) Waschkörbe mit Protest-Postkarten auf den Schreibtisch.

„Brustkrebs ist mehr als eine Krankheit – er ist ein Politikum!“

EMMA hatte 1996 mit einer ersten Titelgeschichte, die auf dem Cover die amerikanische brustkrebs-amputierte Künst­lerin Matuschka zeigte, den internationalen Standard der Brustkrebs-Bekämpfung nach Deutschland gebracht und eine Kampagne gestartet. Denn, so die bittere Erkenntnis angesichts der ignoranten ­Mediziner und Politiker: „Brustkrebs ist mehr als eine Krankheit – er ist ein Politikum!“

Der Widerstand der Gesundheits-Lobby war gewaltig – von den Krankenkassen, die ein teures Screening nicht ­bezahlen wollten bis zu den Radiologen, die um ihre Pfründe fürchteten. Aber auch so manche Frauen-Gesundheits-Initiative, die der Schulmedizin kritisch gegenüberstand, begegnete dem Mammografie-Programm zunächst mit Skepsis.

Erst unter der Ägide von Gesundheits­ministerin Ulla Schmidt, die sich die Brustkrebs-Bekämpfung bereits seit Jahren auf die Fahnen geschrieben hatte, war es soweit: Mit den Stimmen aller Bundestagsfraktionen erging im Sommer 2002 eine letzte Warnung an das sich selbst ­verwaltende Gesundheitssystem, das die Möglichkeit eines systematischen ­Früh­erkennungsprogramms seit nunmehr sechs Jahren „prüfte“. Das wirkte. Drei Jahre später gingen die ersten Screening-Zentren an den Start. Mitte 2009 nahmen die letzten von insgesamt 94 Stationen – plus Mammobile für ländliche Gegenden – ihre Arbeit auf.

Für statistisch aussagekräftige Ergebnisse des Screenings ist es nach dieser kurzen Laufzeit noch zu früh. Zur Zeit sind ­zunächst nur Prognosen möglich. Die Zahlen, die die Kooperationsgemeinschaft Mammografie gemeinsam mit der Deutschen Krebshilfe und dem Krebsinforma­tionsdienst nach Zusammenfassung mehrerer Studien veröffentlichte, lauten: Eine von 200 Frauen, die 20 Jahren lang regelmäßig am Screening teilnehmen, wird durch die systematische Früherkennung gerettet. Das macht bei zehn Millionen Frauen, die derzeit zum Programm gehören, 50000 weniger Brustkrebs-Tode.

„Wir entdecken im Schnitt täglich ein Karzinom bei einer Frau, die das nicht ­geahnt hat“

„Wir entdecken im Schnitt täglich ein Karzinom bei einer Frau, die das nicht ­geahnt hat“, erklärt Gabriele Scholl-Dumstorff im Kölner Screening-Zentrum. Ist eine Mammografie auffällig, wird die Klientin zu einer zweiten Untersuchung bestellt: Vergrößerte Mammografie der betroffenen Stelle, Ultraschall, Stanzbiopsie. Zeigen diese Verfahren, dass die Klientin jetzt leider doch zur Patientin wird, geht sie mit ihrem Befund zu ihrem Gynäkologen bzw. Gynäkologin, und wird in aller Regel an eins der vier Kölner Brustzentren überwiesen.

Einmal pro Woche setzen sich die Teams der Brustzentren und des Screening-Zentrums zusammen zur „präoperativen Konferenz“: Operateure, Radiologen und ­Pathologen besprechen gemeinsam die Fälle, die in den nächsten Tagen operiert werden. Auch die GynäkologInnen der Patientinnen werden zu diesen Treffen eingeladen. Und auch die Nachsorge der operierten Patientinnen wird gemeinsam erörtert. „Früher war eine Patientin bei so einer Diagnose ein bis zwei Monate im Krankenhaus“, sagt Vesna Slade. „Aber die Zusammenarbeit der einzelnen Disziplinen führt dazu, dass sie heute nur noch eine Woche dazubleiben braucht.“

Es hat sich also sehr viel getan im einstigen Entwicklungsland Deutschland. Dennoch wirft jede zweite eingeladene Frauen ihre Einladung zum Screening in den ­Papierkorb. Die magische Grenze von 70 Prozent Frauen, die laut dem europäischen Brustkrebs-Dachverband EUSOMA teilnehmen müssten, damit das Screening die Brustkrebs-Sterblichkeit tatsächlich erheblich senkt, ist längst nicht erreicht.

Für Barbara Marnach-Kopp ist eine der Ursache dafür, dass „einige Frauen die Einladung als Eingriff in ihre Privatsphäre empfinden. Die fragen ganz empört: ‚Woher haben Sie meine Daten?!‘“. In Ländern mit einem zentralisierten Gesundheitssystem seien die Menschen gewohnt, dass ihnen regelmäßig staatliche Einladungen zu Impf- und anderen Vorsorgeprogrammen ins Haus flatterten. „Bei uns muss das System erst gelernt werden.“

Ein zweiter Hinderungsgrund: Frauen, die schon seit Jahren gemeinsam mit ihrer Gynäkologin Brustkrebs-Früherkennung betreiben, empfinden eine Reihenunter­suchung womöglich als zu anonym. Denn ein Arztgespräch gibt es beim Screening nicht. Die Patientin bekommt ihren ­Befund – ob negativ oder positiv – schriftlich mitgeteilt.

Diesen Verlust der freien Arzt- oder Ärztinnenwahl durch das Screening kritisiert auch „mamazone“. Und noch etwas Entscheidendes hat die 1750 Mitglieder starke Organisation, eine der größten deutschen Brustkrebs-Initiativen, jetzt an dem Screening auszusetzen, für das sie einst selbst gekämpft hat: „Man muss den Teilnehmerinnen sagen, was die Mammo­grafie kann und was nicht!“

Was die Mammografie erwiesener­maßen nicht kann, ist, Tumore in einem dichten Brustgewebe erkennen. „Ein dichtes Brustgewebe erscheint auf der Mammografie weiß, eine Veränderung auch. Der Radiologe sieht dann weiß auf weiß, also nichts“, erklärt „mamazone“-Sprecherin Annette Kruse-Keirath. Die Dichte des Brustgewebes wird in der so genannten ACR-Kennung erfasst.

ACR 4 heißt: sehr dichtes Brustgewebe. ACR 1 heißt: eine „leere“ Brust. „Die Frauen müssten ihre ACR-Kennung in dem ­Befund mitgeteilt bekommen, denn dann könnten sie diesen Befund auch besser einschätzen. Wenn eine Frau mit einem dichten Brustgewebe einen negativen ­Befund hat, darf sie sich nicht in Sicherheit wiegen. Für solche Frauen sind andere Untersuchungsmethoden effizienter.“

Dem kann Dr. Vesna Slade vom Kölner Screening-Zentrum nur zustimmen. „Bei dichten Brüsten müsste automatisch auch eine Ultraschall-Untersuchung gemacht werden“, sagt die Radiologin. Die aber ist im Rahmen des Screenings nicht vorgesehen. Immerhin bestellt das Kölner Screening-Zentrum eine Frau mit dichtem Brustgewebe noch einmal zu einer Ultraschall-Untersuchung ein, wenn die GutachterInnen auf dem Röntgenbild eine Asymmetrie der Brüste feststellen.

Auch die Magnet-Resonanz-Tomografie (MRT) könne, so „mamazone“, vor allem für jüngere Frauen die bessere Früherkennungs-Methode sein. Aber: Nur 38 Prozent der in ihrer Studie befragten Mammografie-Teilnehmerinnen gaben an, dass ihnen beim Screening mitgeteilt wurde, zur Absicherung der Diagnose könnten unter ­Umständen noch weitere Untersuchungen erforderlich sein.

Nur die Hälfte der Tumore trete bei den Frauen zwischen 50 und 69 auf.

Dass manches im Rahmen eines Früherkennungsprogramms nur schwer finanzierbar ist, ist auch „mamazone“ klar. „Aber die Frauen müssten die Freiheit haben zu wählen“, findet Annette Kruse-Keirath. Teuer, aber notwendig sei auch die Ausweitung der Zielgruppe auf die Frauen ab 40, fordert die Aktivistin.

Denn nur die Hälfte der Tumore trete bei den Frauen zwischen 50 und 69 auf. „Die andere Hälfte ist älter oder jünger. Und bei den jüngeren sind die Tumore häufig aggressiver.“ Auch hier stimmt ­Radiologin Dr. Slade zu. Sie wünscht sich außerdem die Verkürzung des Untersuchungs-Intervalls auf anderthalb Jahre. „Denn das ist der Zeitraum, in dem sich Vorstufen bilden können.“

Hier allerdings scheiden sich die Geister. Nicht nur Dr. Barbara Marnach-Kopp plädiert dafür, die Zielgruppe bei 50+ zu belassen. Internationale Studien belegten, dass „Kosten und Nutzen des Mammografie-Screening erst ab 50 im Verhältnis stehen“. Und auch Dr. Angela Spelsberg rät dringend ab. „Der Scheitelpunkt liegt bei 50 Jahren“, sagt sie. „Ein Screening ab 40 würde zu zu vielen falsch positiven Befunden führen.“

Überhaupt sieht auch Spelsberg einiges kritisch an der bisherigen Praxis des Screening-Programms. So würden in Nordrhein-Westfalen, das 2005 als erstes Bundesland an den Start ging, noch immer zu 80 Prozent Geräte mit einer Strahlenbelastung verwendet, die nur knapp dem Grenzwert den Europäischen Leitlinien entsprechen und dabei keine ­optimale Bildqualität hätten.
„Solche  Geräte sind in anderen Ländern gar nicht zugelassen“, sagt Spelsberg. Sie sollen bis 2012 ausgetauscht werden. Auch in anderen Punkten, zum Beispiel in der wissenschaftlichen Auswertung der durch das Screening gewonnenen Daten, „weicht das Programm von den Europäischen Leitlinien ab“. Spelsbergs Fazit: „Da muss nachjustiert werden.“

Die „Kooperationsgemeinschaft Mammografie“ ist schon jetzt von der lebensrettenden Reihenuntersuchung überzeugt und wirbt mit heißem Herzen dafür. „Die Kampagne soll ein Türöffner sein, um sich mit diesem Thema auseinander zu setzen“, sagt Sprecherin Marnach-Kopp. „Die Frauen sollen sich zuerst informieren – und sich dann entscheiden.“ Man wolle „dem Screening und den betroffenen Frauen ein Gesicht geben.“

Zum Beispiel das von Barbara Lutterbeck. „Ich will alt und gesund im Bett sterben“, hat die 55-jährige Fotografin unter ihr Porträt geschrieben und erklärt, warum sie das Leben lebenswert findet: „Ich brauche nicht mehr zu gefallen. Keine Schörkel mehr, sondern Klarheit.“

Oder das von Berufsberaterin Edda Moers, 57: „Vielleicht treff ich ja auch nochmal die große Liebe. Aber wohin dann damit? Mein Leben ist eh so spannend.“

Und das von Ingrid Müsch, die jetzt überlebensgroß und mit knapp über ihren Brüsten endendem Dekolleté am Münsteraner Bahnhof hängt, sieht die Sache so: „Wenn man nur eine von zehntausend Frauen retten kann“, sagt sie, „dann hat es sich doch schon gelohnt.“

(EMMA Juni/Juli 2010)

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www.mammo-programm.de
www.mamazone.de
www.stiftung-koalitionbrustkrebs.de

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