Der Täter im Haus

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Am Mittwochabend, den 2. Januar, tritt Florian B. betrunken vor sein Haus im Walliser Dorf Daillon und feuert mit einem Armeekarabiner und einer Flinte 20 Schüsse auf seinen Onkel und seine NachbarInnen. Er trifft drei Frauen tödlich, zwei Männer verletzt er schwer. Florian B. wird später aussagen, dass er mit dieser Tat „ein familiäres Problem lösen“ wollte.

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Die dringendsten Fragen jedoch bleiben ungeklärt: Wie hat es so weit kommen können? Und vor allem: Warum besaß Florian B. überhaupt Waffen? Bereits 2005 hatte die Polizei in seinem Haus Schusswaffen beschlagnahmt, nachdem er eine Familie bedroht hatte. Ein Jahr später wurde er aufgrund seiner psychischen Labilität aus der Armee ausgeschlossen und musste Sturm gewehr und Militärpistole abgeben. Trotzdem hatte er erneut ein kleines Waffenarsenal angehäuft. Wie konnte das geschehen?

Die Bluttat von Daillon hat in der Schweiz die politische Diskussion über das Waffenrecht neu lanciert – zum x-ten Mal könnte man lakonisch hinzufügen. Denn kaum etwas hat hierzulande immer wieder so hohe Wellen geschlagen wie die Debatte über Schusswaffen. Einen Höhepunkt erreichte sie vor sieben Jahren, als innerhalb von sechs Monaten in einer Serie von neun Familienmorden 18 Menschen erschossen wurden, darunter auch die Schweizer Skirennfahrerin Corinne Rey-Bellet. Die Opfer: Überwiegend Frauen und Kinder. Die Täter: Ehemänner oder Väter der Opfer. Damals stellte eine Studie des Schweizerischen Nationalfonds erstmals eine Verbindung zwischen der verhältnismäßig hohen Anzahl an Familienmorden und Suiziden in der Schweiz und der Verfügbarkeit von Schusswaffen her.

Schätzungen zu Folge lagern 2 300 000 Waffen in privaten Haushalten. Die Schweiz rangiert mit ihren acht Millionen Einwohnern damit unter den schusswaffendichtesten Ländern der Welt. Das hat zwei Gründe: Erstens hält die Schweiz unvermindert an der Tradition fest, Armeeangehörigen die Schusswaffen zur Aufbewahrung mit nach Hause zu geben – auch über das Ende des Wehrdienstes hinaus. Zweitens gilt das Schweizer Waffenrecht als eines der liberalsten Europas. Besitz und Erwerb von Schusswaffen und Munition sind grundsätzlich jedem Bürger gestattet, der über 18 Jahre alt und nicht vorbestraft ist.

Auch werden Waffenkäufe nur auf kantonaler Ebene registriert, was es möglich macht, Schusswaffen in anderen Landesteilen zu erwerben. Zudem sind jene rund 900 000 bis 1 300 000 Millionen alten Armeewaffen, die bis 2008 in den Besitz ehemaliger Soldaten übergegangen sind, von einer nachträglichen Registrierung ausgeschlossen.

Erst vor zwei Jahren ist die Volksinitiative „Für den Schutz vor Waffengewalt“, die die Aufhebung der Heimabgabe von Armeewaffen sowie die Einführung eines nationalen Waffenregisters zum Ziel hatte, vom Volk abgelehnt worden. Die Gegner befürchteten den „Untergang der Heimat“ und beklagten die „generelle Verdächtigung des Volkes“.

Militärhistoriker begründen die Emotionen, die mit der sogenannten „Heimabgabe“ verbunden sind, damit, dass sie Teil der helvetischen Identität sei und Symbol für den Widerstand der Schweizer Bürgerarmee gegen totalitäre Systeme. Die Erklärung für die fast mythische Bedeutung der Schusswaffe führt aber noch weiter zurück: Bei der Entstehung der modernen Schweiz im 19. Jahrhundert hatte die nationale Schützenbewegung eine wichtige integrative Funktion. Sie vereinte Männer mit unterschiedlichen religiösen, kulturellen und sozialen Hintergründen, was für die stark föderalistische Struktur des noch jungen Bundesstaates wichtig war. Eine Schusswaffe galt dabei als Ausweis für die Ehrenhaftigkeit ihres Besitzers. Dies ging so weit, dass Männer ohne Gewehr mancherorts weder heiraten noch ein Haus kaufen konnten. Da liegt es nahe, dass nicht wenige Männer aufgrund der Verknüpfung von Waffen und männlicher Ehre die Waffengewalt in den privaten vier Wänden für eine legitime Option halten, um Wut und Frustration zu kompensieren. Aus diesem Grund werden Waffen in Konfliktsituationen nicht selten gegen die eigene Familie gerichtet.

Die Bedrohung mit Schusswaffen durch den eigenen Ehemann oder Lebensgefährten ist eine Form von häuslicher Gewalt, die bis heute selten thematisiert wird. Im Gegensatz zu Tötungsdelikten gelangt sie nur selten in die Kriminalstatistiken; die Grauzone ist groß, Angst und Scham lassen Frauen jahrelang schweigen. Jene, die trotz allem von den erlittenen Demütigungen zu erzählen wagen, berichten, dass oft nur schon das Vorhandensein eines Gewehrs oder die Andeutung, dass eine Schusswaffe im Haus ist, genügt, um die Familie in Angst zu versetzen. Manchmal habe der Mann seine Waffe auf den Küchentisch gelegt oder an den Schlafzimmerschrank gestellt – für den Fall, dass die Frau sich weigern sollte, sexuell gefügig zu sein oder auch, einen Kreditvertrag zu unterschreiben.

Barbara Sax, Mitarbeiterin der Beratungs- und Informationsstelle für Frauen (bif) in Zürich klagt: „Es scheint, als gehörten Waffen zum Mobiliar wie Telefon und Mixer.“ Immerhin: Seit einigen Jahren starten einzelne Kantone Rückgabeaktionen, um die Zahl der Schusswaffen zu reduzieren. Angehende Rekruten werden jetzt einer Sicherheitsprüfung unterzogen. Im Januar, nach der Bluttat im Wallis, beschloss die nationalrätliche Sicherheitskommission, die kantonalen Waffenregister miteinander zu verbinden. Nur: Aufgrund von Gesetzeslücken kann die Umsetzung dieser guten Absicht noch Jahre dauern.

„Die Diskussionen um ein verschärftes Waffengesetz sind in der Schweiz ideologisch blockiert“, konstatiert Chantal Galladé, die Präsidentin der nationalrätlichen Sicherheitskommission. „Noch scheint es, als wäre es für manche Männer schlimmer, sich von ihrer Schusswaffe trennen zu müssen als von ihrer Frau.“
 

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Winnenden: Fünf Jahre danach

© ZDF/Brian McClatchy
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Viermal hat sie es versucht, an vier verschiedenen Schulen. Aber es ging nicht. Larissa Killian konnte es nicht mehr ertragen, in einem Klassenzimmer zu sitzen. Sie war 13, als der Amokläufer Tim K. am 11. März 2009 in ihre Klasse stürmte und zwölf ihrer MitschülerInnen erschoss. Jetzt arbeitet die heute 18-Jährige mit der Kinder- und Jugendpsychiaterin Luise Hepp daran, ihre Angst zu überwinden, damit sie endlich ihren Schulabschluss machen kann.

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Die Dokumentarfilmerin Beate Rygiert hat mit fünf Menschen gesprochen, deren Leben sich an diesem 11. März für immer verändert hat. Selina hat noch heute Albträume, Steffen wirkt nach außen stabil, verbirgt sein Inneres aber gut vor den anderen. Am besten ablenken kann er sich im Fußballstadion. Patrick, der damals mit drei Streifschüssen verletzt wurde, schrieb einen Roman über das Grauen.

Keiner der Überlebenden hat klein bei gegeben.

Und Hardy Schober, der seine Tochter Jana beim Amoklauf verlor, gründete das „Aktionsbündnis Amoklauf Winnenden“. Seither kämpft er unermüdlich für eine Verschärfung des Waffenrechts und Gewaltprävention an Schulen. Dabei bekommt er es immer wieder mit der Waffenlobby zu tun, die ihn massiv bedroht. Er macht trotzdem weiter. „Meine Tochter hat mir einen Auftrag hinterlassen: Dass ich diese Welt sicherer mache“, sagt Hardy Schober im EMMA-Interview (siehe unten).

Das Durchhaltevermögen der Überlebenden hat Filmemacherin Beate Rygiert beeindruckt: „Keiner von ihnen hat klein beigegeben, alle kämpfen sie bis heute darum, dass ihr Leben wieder eine gewisse ‚Normalität’ haben kann. Wie sie das schaffen, das zeigt der Film sehr eindrucksvoll. Auch Hardy Schober beweist als Vater, der seine Tochter verlor und von heute auf morgen sein Leben änderte, um dafür zu kämpfen, dass so etwas möglichst nie wieder passiert, jeden Tag aufs Neue ungeheuer viel Mut.“

Allerdings musste Rygiert feststellen, dass die Opfer nicht nur Respekt erfahren: „Interessant ist, dass das Wort ‚Opfer’ vor allem auf deutschen Pausenhöfen eine neue Bedeutung erfahren hat: Es wurde nämlich zum Schimpfwort. Auf diese Weise geschieht es tatsächlich, dass Schüler, die beim Amoklauf dabei waren, gerade deswegen gemobbt werden. Auch dieses Phänomen beleuchtet mein Film.“

"Amok in Winnenden - Das Leben danach" in der 3Sat-Mediathek ansehen. 

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