Tödlicher Männlichkeitswahn
„Nazis entwaffnen!“ forderte eine empörte Deutsch-Türkin im Fernsehen. Richtig. Nur, es ist zu befürchten, dass Tobias Rathjen, der einen legalen Waffenschein besaß, nicht unter den Entwaffneten gewesen wäre. Denn der 43-jährige Versicherungskaufmann mit dem BWL-Studium hatte anscheinend real noch nicht einmal Kontakt zu rechten Gruppen. Virtuell allerdings war er wohl Teil eines weltweiten Netzes von Männern, die sich an Verschwörungstheorien berauschen und sich gegenseitig darin befeuern, sie seien die Größten – Herren über Leben und Tod.
Der Täter war Teil des größenwahnsinnigen Männerbundes, der im Netz wütet
Insbesondere, wenn es um „Fremde“ oder Frauen geht. Die „Fremden“ sind je nach Belieben Juden, wie in Halle, oder Deutsch-Türken, die, wie im Fall Hanau, sogar mit den Tätern zur Schule gegangen sein könnten. Und es sind die Frauen. Ihnen, bzw. seinem Misserfolg bei den Frauen, hat der Mörder anscheinend ein ganzes Kapitel in seinem wirren 24-Seiten-Manifest gewidmet.
Noch wissen wir längst nicht alles über den Täter, aber doch einiges: Er kommt aus einem bürgerlichen Haus, ist Einzelkind, der Vater Betriebswirt und die ermordete Mutter Hausfrau. „Er hat sich von seiner Mutter regelrecht bedienen lassen“, sagte ein Jugendfreund in Bild. Und er scheint keine Freundin gehabt zu haben. „Er hat zwar immer erzählt, er fahre mit seiner Freundin nach Mallorca, aber das hat niemand geglaubt.“
Rathjen scheint also einer dieser berüchtigten „Incels“ (von involuntary celibate, unfreiwilliges Zölibat) gewesen zu sein, einer dieser tausenden von scheinbar „normalen“, aber immer sozial isolierten, frauenlosen „Schläfern“, die im Netz Teil eines informellen, größenwahnsinnigen Männerbundes sind. Diese Männer verstehen sich mal als zugehörig zu einer internationalen Rechten, mal wüten sie als Rechtgläubige gegen alle „Ungläubigen“, mal sind sie einfach, wie anscheinend der Täter von Hanau, Anhänger kruder Verschwörungstheorien. Immer sind sie im Besitz der Wahrheit. Und immer sind in ihren Augen die „Anderen“ verachtenswert – und vernichtenswert.
Und er war einer dieser frauenlosen "Incels", die jeden Realitätsbezug verlieren
Jede Ideologie, die diese Männer bestätigt, ist willkommen. Sie beziehen sie aus dem Internet. Zurzeit stehen weltweit drei Angebote für diese vom tödlichen Männlichkeitswahn Befallenen im Raum: die rassistische Rechte, der politisierte Islam und die Community der Verschwörungstheoretiker. Alle drei befeuern sich gegenseitig.
Doch in der Tat: Ohne die heute auch in Deutschland wieder steigende Akzeptanz rassistischer Denkweisen hätte der eine Mann in Hanau – oder Halle - sich nicht diesen ideologischen Überbau für seine Taten geben können. Ja, diese Männer wären vielleicht noch nicht einmal zur Tat geschritten.
Es ist darum selbstverständlich wichtig, mit aller Entschiedenheit gegen rassistische Ideologien und Verschwörungstheorien zu kämpfen; in der realen wie in der virtuellen Welt, die so bitter real werden kann. Nur: Es reicht nicht. Es ist der ganze Männlichkeitswahn, der bekämpft werden muss.
Alice Schwarzer