Deutsch/Deutsch: Make love, not politics

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Vor zehn Jahren – also zehn Jahre nach der Wende – schrieb ich in einem Text über Ost-West-Lie­besbeziehungen, sie seien der kürzeste Weg, sich misszuverstehen. Tatsächlich sprach vieles von dem, was mir die Männer und Frauen damals über ihre Liebe ­erzählten, für diese These. Meist handelte es sich um Ostfrauen und Westmänner, auch heute noch die am häufigsten vorkommende Konstellation der deutsch-deutschen Liebe, doch bis heute nur in jeder 25. deutschen Frau/Mann-Beziehung der Fall. Die Ostwestliebe, Ostwest­ehe, Ostwestleidenschaft scheint in den letzten 20 Jahren nicht mehr geworden zu sein. Genaues aber weiß man nicht.

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Welt-Online behauptet, dass die Westmänner sich inzwischen noch weiter nach Osten bewegt hätten. Sie seien sozusagen über die fünf neuen Bundesländer hinweggefegt, haben mal hier, mal da ­ge­nascht und suchen jetzt im Baltikum ihr Liebesglück. Osteuropa gilt als der größte Heiratsmarkt. Doch das sagt mehr über ­Männer und nichts über deutsch-deutsche Beziehungen aus.

Beim Reden mit denen, die ich 1996 erstmals befragte, wie es ihnen so geht mit ihrem Westmann, ihrer Westfrau – damals konnte man das noch so fragen, heute wäre es eher despektierlich – stellte ich fest, dass meine Einschätzung von damals so nicht mehr gilt: Das Zusammenwachsen dessen, was zusammengehört, ist in vielen deutsch-deutschen Partnerschaften heute von Erfolg gekrönt. Möglich, dass die Liebe tatsächlich – auch wenn es wie ein kitschiger Schlagertext klingt – Grenzen überwinden und Hindernisse hinwegfegen kann. Und nicht ­undenkbar, dass in vielen Beziehungen ein gesunder Pragmatismus herrscht und eine noch gesündere Neugier auf den jeweils ­Anderen und die jeweils Andere.

Dagegen führt uns die Gesellschaft in diesem Jahr 2009 mit fast allem, was sie zum Gedenken bietet, vor, dass ihr genau das nicht gelang. Daran sind in einem nicht unerheblichen Maße wir Ostdeutschen schuld. Wir haben unsere eigene ­Geschichte und ihre Definition aus der Hand gegeben. Wir waren feige und ­unent­schlossen, haben gedacht, was unterm Teppich liegt, ist wenigstens vom Tisch. Nun denken und gedenken andere für uns, machen uns nachträglich wahlweise zu Deppen oder Verrätern, als hätte das ganze Land nur aus solchen bestanden. „Zu spät“, brüllen sie, „ihr hättet euch ja kümmern und auseinandersetzen können. Jetzt tun wir das für euch.“ Wir haben Hubertus Knabe also verdient. Sage ich. Es musste ­irgendwann psychopathologisch werden.

Bleiben wir also noch einen Moment bei der deutsch-deutschen Liebe statt der Politik. Karin, über die ich 1996 schrieb – damals eine 40-jährige Politikerin, heute eine ehemalige Politikerin – lebt nicht mehr mit dem gleichen Mann zusammen, ist aber im Westen geblieben. 1996 sagte sie: „Ein Mann, der für mich sorgt, ist einer zuviel.“ Das konnte in dieser Absolutheit nicht stimmen, denn es schloss auch emotionale Fürsorge aus. Um die kämpft Karin heute in ihrer neuen Beziehung. Seit Jahren. Es ist ein hartes Ringen und Wunden gab es nicht wenige. Dabei geht es immer auch um Vergangenheit.

Woraus speist sich, was der andere tut und vor allem, was er nicht tut, obwohl man möchte, dass er es tut? Da muss man tatsächlich schauen, wie jemand groß ­geworden, aufgewachsen, geprägt ist. Karin sagt: „Was ich alles gelernt habe. Was mir alles fremd ist, aber nun weiß ich doch ­wenigstens davon. Und ich muss feststellen, dass es bereichernd ist. So eine Partnerschaft treibt einer die Provinz aus.“

Damit meint die Großstädterin die ostdeutsche Provinz. Sie steckt in vielen von uns, die wir in dem Land gelebt haben, das heute seltsamerweise „ehemalige DDR“ ­genannt wird. Ich neige inzwischen dazu, mich mit dem Begriff zu arrangieren – über verräterische Sprache wird noch zu reden sein. Er sagt letztlich, dass die DDR schon zu ihren Lebzeiten nicht existierte, sondern immer nur ehemalig war. Eine Idee, eine Vorstellung, ein Wunschkind – im Kopf zusammengevögelt, aber nie wirklich auf die Welt gekommen.

Auch Karins Mann gibt sich – im Rahmen seiner Möglichkeiten, wie er sagt – Mühe. Interessant ist, dass die Neugier auf die Andere/den Anderen, diesen Rahmen der Möglichkeiten erweitert haben. Er ist größer geworden und in ihm hängt tatsächlich ein Bild von den beiden.

Aber wie ist es in der Gesellschaft um das Interesse und die Neugier bestellt?

Exemplarisch kann der Anfang dieses Gedenkjahres herhalten. Ich lege ihn auf die Eröffnung der Ausstellung „60 Jahre – 60 Werke“ im Berliner Gropius-Bau. Sie war nicht mehr als eine deprimierende Sieger­allüre 20 Jahre nach dem Mauerfall und 60 Jahre nach dem Inkrafttreten des ­Grund­gesetzes, das nie durch eine gesamtdeutsche Verfassung ersetzt wurde. Doch das ist ein anderes deutsch-deutsches Dilemma.

In der Ausstellung, die sich gesamtdeutsch gab, wurden keine Werke ostdeutscher Maler und Bildhauer gezeigt. Ostdeutsche Künstler seien ausgeschlossen worden, so ­begründete dies der Kurator, weil sie in einer Diktatur gelebt und gearbeitet haben, und in einer Diktatur freie Kunst nicht entstehen könne. Das älteste Bild in der Ausstellung allerdings stammte aus dem Jahr 1944. Der Schriftsteller Heiner Müller, der in der DDR gelebt und gearbeitet hat, sagte einmal, Diktaturen seien Glücksfälle für die Kunst. Heiner Müller ist tot. Angela Merkel lebt. Sie, die zum Festakt kam, um die Ausstellung zu eröffnen, ist die Inkarnation ostdeutscher Unbefindlichkeit. Eine westdeutsche Kanzlerin hätte vielleicht moniert, dass es nicht angehe, 60 deutsche Jahre derartig amputiert zu präsentieren. Die ostdeutsche Kanzlerin hat es nicht getan. Ihre persön­liche Vergangenheit liegt in Nimmerland.

Diese Ausstellung im Berliner GropiusBau war der Auftakt einer fast durchweg unpolitischen Art und Weise, sich mit der Geschichte von Teilung, Leben in der DDR und Zusammenkommen nach diesem Leben zu befassen. Das Politische war längst privat geworden. Einheitsarbeit findet inzwischen überwiegend in den Wohnzimmern und an Küchentischen statt. Und selbstverständlich auch in den Betten.

Eine der ermunternden Nachrichten der jüngeren Vergangenheit ist die über ostdeutsche junge Frauen gewesen: „Die ­Alphamädchen Ost suchen ihr Heil im Westen“ lauteten die Schlagzeilen. Im Sommer 2008 machte eine Studie mit dem Titel „Mann in Not“ Furore. Ausgangspunkt war die Tatsache, dass die Bevölkerungszahl in den neuen Bundesländern seit der Wende um rund 10 Prozent zurückgegangen war. 735.000 Männer und 866.000 Frauen waren abgewandert. Zugezogen sind nur wenige. (Wir erinnern uns nur noch an die Wuppertalerin Luise Endlich, die nach Brandenburg zog, und dort mit Menschen konfrontiert war, die nicht einmal Oregano kannten, vielleicht war es auch Basilikum – und die darüber ein Buch schrieb.)

Die Dinge hatten sich nach 1989 schnell geändert. Zogen zuerst mehr Männer als Frauen von Osten nach Westen, kehrte sich das schnell um. Heute kommen in der Altersgruppe der 18–29-Jährigen in den neuen Bundesländern auf 100 Männer nur knapp 90 Frauen. In Krisenregionen sind es weniger als 80.

Und welche Frauen wandern ab? Die gebildeten und jungen. Für die bietet der Arbeitsmarkt im Osten keine ausreichende Chance auf beruflichen Einstieg, auf Entwicklung und Fortkommen. Und die Männer im Osten, die jungen Männer im Osten, scheinen auch nicht über ausreichend Zugkraft und Argumente zu verfügen. In der Studie und in den Medien werden sie exemplarisch – nicht verallgemeinernd – als unzureichend schulgebildet, mit fatalem Hang zu rechten Parolen und einer ewigen Lust auf Fast Food am dörflichen Asia-Imbiss beschrieben.

Ob dies Grund oder Folge der Frauenflucht ist, wer mag es sagen? Wahr ist, man sieht diese Jungmänner häufig – glatzköpfig, leicht schwammig, springerbestiefelt – vor genau diesen Imbissbuden stehen, wenn man über Land fährt. Im schlimmsten Fall heißen ihre Buden nicht Asia-Imbiss oder Eurasia sondern „Heidi’s Kanonenfutter“.

Auch Hannah, über die ich damals schrieb, lebt heute mit einem anderen Mann zusammen als vor 13 Jahren. Vor zehn Jahren fand der Einzug in eine gemeinsame Wohnung statt. Der Mann kam aus Hamburg, Hannah wechselte von Berlin Prenzlauer Berg nach Berlin Prenzlauer Berg. Als man versuchte, all die Bücher aus Hamburg und Berlin in Regale zu stellen, stellten beide fest, dass es kaum Dubletten gab. Es klingt so simpel, aber wenn man heute schaut, was von den Ostdeutschen, die mal DDR-­Bürgerinnen und DDR-Bürger waren, in den gemeinsamen Regalen steht, landet man viel zu oft bei nicht mehr als Folklore.

Hannah und Karl, wie sie heute zusammenleben, haben sich angestrengt, nicht nur den Literaturkanon, sondern vieles mehr, was die andere oder den anderen ausmacht, wenigstens mal anzulesen, ­anzuhören oder anzuschauen. So lässt sich reden. Mehr ist dazu nicht zu sagen.

Wolfgang Tiefensee, der Beauftragte für die neuen Bundesländer, lud im Gedenkjahr 100 Ost-West-Paare in die Berliner Akademie der Künste am Pariser Platz ein. Wer ­geladen war, hatte zuvor aufgeschrieben, wie es dazu kam, ein Ost-West-Paar zu werden. Tiefensee nannte die versammelten Menschen ein „Vorbild für das zusammenwachsende Deutschland“. Wären sie dies wirklich, sähe Deutschland allerdings anders aus und bräuchte keinen Minister mehr, der Beauftragter für „die neuen Bundesländer“ ist. Ein Begriff, der nach Kolonialwaren klingt, nach Provinz und überdachten Parkplätzen.

Die Autorin Daniela Dahn hat das ganze Nachdenken darüber, warum es gekommen ist, wie es kam, dialektisch umgekehrt und ihr jüngstes Buch „Wehe dem Sieger“ genannt. Darin steht: „Mehr noch als der frühere Osten ist der Westen zum Verlierer der Einheit geworden. Ohne Systemkonkurrenz hat er seinen Halt verloren. Werte und Ziele wie Wohlstand für alle, mehr bürger­liche Freiheiten, soziales Wirtschaften und eine intellektuelle Kultur, die auf Meinungs­vielfalt setzt – sie schwinden dahin.“

Hannah sagt, wenn der denkende und über sich nachdenkende Dialog in meiner Beziehung nicht wäre, verginge ich vor Verzweiflung an dem, was die Gesellschaft als Dialog bezeichnet. Anfang September las sie in Berlin auf dem Wahlplakat eines CDU-Kandidaten den Wahlspruch „Ihre Stimme für unsere Zukunft“. Er kam ihr wie die Inkarnation all dessen vor, was in den vergangenen 20 Jahren gesagt und ­gefordert wurde: Gebt ab und auf, damit wir eine Zukunft haben.

Was Sprache verrät oder eben nicht, ­darüber erzählt die Rede des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen ­Papier, die er beim Jahrestreffen der Beauftragten für die Unterlagen der Staatssicherheit hielt, eine Menge. Er nannte die DDR in dieser Rede eine „inhumane Diktatur“. Man kann davon ausgehen, dass der oberste Richter des Landes weiß, was eine Tautologie ist. Deshalb muss man davon ausgehen, dass er in Ruhe überlegt hat, wie sich der ­gesetzte Begriff der DDR-Diktatur in diesem Gedenkjahr noch toppen lässt. Dabei ist er auf eben jene Beschreibung gekommen: „inhumane Diktatur“. Was Hans-Jürgen Papier unter einer humanen Diktatur versteht, wüsste ich gern. Aber vielleicht ist, ein schwacher Trost, doch alles nur eine Frage schlechten Stils und schlechter Sprache, von Unüberlegtheit, Ignoranz und Faulheit.

„Wenn ich mir vorstelle“, sagt Maike, die mit ihrem Mann, der in der BRD groß geworden ist, bei Wolfgang Tiefensee zu Gast war, „dass mein Mann mir, wenn es hart auf hart kommt, immer mit der Diktaturkeule käme, wären wir wohl nicht mehr zusammen. Zum Glück hält er mich für einen anständigen Menschen und gibt sich Mühe, etwas über das Land zu erfahren, in dem ich groß geworden bin.“

Vor zehn Jahren schrieb der Soziologe Wolfgang Engler ein Buch mit dem Titel „Die Ostdeutschen“ – eine Selbstbefragung und -beschreibung. Vieles von dem, was er schrieb, gilt auch heute noch: „An ­öko­nomische Unabhängigkeit gewöhnt, ihrer Stellung im Gesellschaftsganzen gewiss, verfügten die Ostdeutschen über großen Selbstrespekt, investieren aber nur wenig in ihre personale Würde. Sie gaben sich mehrheitlich ungezwungen und direkt, verschmähten das Gepränge und die Formen und hätten doch kaum etwas nötiger gehabt als deren Pflege. Denn nichts hält unziemliche Neugier wirksamer auf Distanz als die strikte Beobachtung der Umgangsformen. Nur eine (vorwiegend weibliche) Minderheit experimentierte erfolgreich an neuen Synthesen von Nähe und Distanz.“

In diesem Buch hat sich Engler auch sehr differenziert mit dem Problem „Verrat“ auseinandergesetzt, das uns Deutsche begleitet, seit es uns gibt, und über das wir einstigen DDR-Bürgerinnen und DDR-Bürger miteinander reden sollten, um nicht daran zu ersticken. Dafür sollten wir keinen Herrn Papier und keinen Herrn Knabe brauchen.

Neue Synthesen von Nähe und Distanz, das bestätigen mir Gespräche und das Draufschauen auf deutsch-deutsche Zweierbeziehungen, sei es Liebe oder Freundschaft, sind möglich. Im Kleinen. Gesamtgesellschaftlich sieht es eher düster aus. Wir werden vom 20. Jahrestag der Wende in den 20. Jahrestag der Einheit taumeln und der Dummheiten und Plattheiten noch viele hören und lesen. Ich will nicht darüber nachdenken, welche Kuratoren an welchem Ausstellungs­pro­jekt für das Jahr 2010 arbeiten.

Susanne, 1996 gerade mal zwei Jahre von ihrem Mann getrennt und auf der Suche nach einer neuen Beziehung, lebt heute mit einem Mann zusammen, den man gut und gern als klug, konservativ, aufgeschlossen und neugierig beschreiben kann. Spielt es noch eine Rolle, dass er aus bürgerlich wohlsituierten westdeutschen Verhältnissen und sie aus wohlsituierter ostdeutscher Familie kommt? „Ja und nein“, sagt Susanne. „Ich bin immer noch überzeugt, dass wir ostdeutschen Frauen die meiste Beziehungsarbeit geleistet haben und uns nicht zu schade waren, noch mal von vorn zu lernen, wenn es notwendig war.“ Aber während sie noch vor zehn Jahren relativ schnell die Herkunft des anderen abgefragt hätte, ist das heute eher nicht mehr von Interesse. Man erfährt es schon irgendwann. Manchmal ist es auch interessant zu sehen, wie lange es heute schon dauern kann, bis man die Herkunft des anderen oder der einen in der kleinen BRD oder der noch kleineren DDR verortet hat.

Im „Haus der Kulturen der Welt“ lief bis zum 13. September eine Fotoausstellung mit dem Titel „Ostzeit – Geschichten aus einem vergangenen Land“. Hannah und Karl haben sie besucht und während Hannah ihr einstiges Leben in Schwarz-weiß bestaunte, erklärte Karl hin und wieder, dass es ­ähn­liche oder gar gleiche Bilder auch in einer Ausstellung über das Leben in der BRD gebe. Vor einigen Jahren noch hätte Hannah widersprochen. Vor einigen Jahren noch hätte Karl das vielleicht gar nicht ­gesagt. Heute weiß man mehr voneinander.

Als Hannah vor einem Foto von Harald Hauswald verweilte, auf dem Heiner Müller zu sehen war, wie er in einem mit vielen Menschen gefüllten Wohnzimmer neben Sascha Anderson sitzt und etwas vorliest, stand neben ihr ein nicht mehr ganz junges Paar. Gutaussehend, gutsituiert. „Schau mal“, sagte die Frau und zeigt auf das Foto, „das da ist der Stasispitzel Sascha Anderson“. Dann schwieg sie ein paar Sekunden und las den Bildtext. „Und wer“, schob sie hinterher, „ist nochmal Heiner Müller?“

Hannah verzichtete darauf, dem gutaussehenden, gutsituierten Paar ins Gesicht zu springen – oder wenigstens zu erklären, dass Müller international anerkannt, ­berühmt und der unbequemste Dramatiker der DDR war.

Aber sie gönnte sich wenigstens ein Vorurteil und behauptete, es handle sich hier um Zugereiste aus der ehemaligen BRD. „Ostbraut bleibt eben doch Ostbraut“, lautete Karls Antwort. Soweit nicht schlimm.

Kathrin Gerlof, Jahrgang 1962, ist Journalistin und Schriftstellerin. Ihr zweiter Roman, „Alle Zeit“ (Aufbau), ist gerade erschienen. Sie hat ein Frauen-Netzwerk initiiert und lebt in Berlin.

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