Einfach satt essen!

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EMMA: Herr Pollmer, darf Ihre fünfjährige Tochter essen, was sie will?
Pollmer: Natürlich. Sie liebt Pommes. Meine Frau müht sich redlich, den Speiseplan zu verbreitern, aber sie bekommt ihre Pommes trotzdem in vergleichsweise hoher Dosis.

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Weil Ihre Ernährungs-Philosophie besagt, dass man schlicht und einfach essen soll, was und soviel man will, denn der Körper weiß selbst, was gut für ihn ist und was nicht.
Stellen Sie sich vor, Sie haben den ganzen Tag in der Redaktion gearbeitet und hatten keine Zeit, was Anständiges zu essen. Jetzt öffnen Sie abends Ihre Kühlschranktür. Und als Sie gerade zum leckeren Tiramisu greifen wollen, tippt Ihnen von hinten die gute Fee von der Ernährungsberatung mit ihrem langen, dürren Finger auf die Schulter und sagt: „Halt, das ist ungesund! Da sind Kalorien drin, Fett und Kohlenhydrate.“ Und dann reicht sie Ihnen einen gesunden Apfel. Und weil Sie gut erzogen sind, essen Sie diesen Apfel. Und was passiert dann? Sie werden eine halbe Stunde später eine extragroße Portion Tiramisu verdrücken.

So würde es sich vermutlich abspielen …
Deshalb funktioniert diese ganze Reglementierung nicht. Es gibt übrigens Menschen, die von Äpfeln Probleme bekommen. Etwa jeder dritte Deutsche kann in seinem Darm den Fruchtzucker nicht richtig aufnehmen. Das führt dann zu Blähungen. Wenn Sie sich nun aber regelmäßig zwingen, „wegen der Gesundheit“ doch welche zu essen, knallt Ihnen irgendwann die Blähung in den Dünndarm, wo Sie zu Problemen führen kann, zum Beispiel zu Verpilzungen. Im Laufe der Jahre werden Sie immer mehr gesundheitliche Probleme entwickeln, und wissen nicht warum, weil Sie sich doch so gesund ernähren. Das gleiche Phänomen gibt’s auch beim reichlichen Verzehr von Weizenvollkorn. Hier liegt es an bestimmten Getreideinhaltsstoffen, die die Stärkeverdauung blockieren. Das Ergebnis ist das Gleiche. Sie sehen, „gesunde Ernährung“ kann ganz schön krank machen.

In Ihrem Buch ‚Esst endlich normal!‘ beklagen Sie, das Thema Essen sei in unserer Gesellschaft zu einer Art Ersatzreligion geworden.
Früher glaubten die Menschen, sie kämen ins Paradies, wenn sie nur hart genug arbeiteten und sich vor fleischlichen Versuchungen in Acht nähmen. Jetzt winkt ihnen das Paradies bereits auf Erden, wenn sie sich beim Essen kasteien. Die neuen Priester versprechen nicht mehr oder weniger als die Erlösung von allen Krankheiten – durch Rohkost und Körner. Zehnjährige Mädchen glauben nicht mehr an Feen und Engel, sondern an die Ananas-Diät und Cola Light. Da halte ich mich doch lieber an die Jungfrauengeburt als an die Ernährungsberaterin. Denn die Kombination von Ausdauersport mit Diät, wie sie von den Frauenzeitschriften kollektiv empfohlen wird, führt geradewegs in Ess-Störungen. Wer ein paar Tage hungert und dabei intensiv Sport treibt, kann in eine Euphorie geraten, weil der Körper dann eigene Drogen produziert. Das funktioniert, gerade bei jungen Leuten, so als ob man ihnen richtige Drogen verabreicht hätte. Sie werden abhängig! Inzwischen liegt in deutschen Großstädten die Rate der pubertierenden Mädchen, die erbrechen, notorisch Abführmittel nehmen und ständig auf Diät sind, bei bis zu 30 Prozent. Seit in den Kindergärten diese Fünfmal-am-Tag-Obst-Kampagnen laufen, sind die jüngsten Essgestörten, die in der Klinik landen, vier Jahre alt. In einen Kindergarten gehört keine dürre Ernährungstussi, sondern eine gestandene Köchin!

Sie sagen, der Feldzug der grünen Ex-Verbraucherministerin Künast gegen die angeblich epidemisch übergewichtigen Kinder sei in Wahrheit Panikmache und beruhe auf manipulativem Umgang mit Statistiken.
Hier ein alarmierender Artikel aus Bild der Wissenschaft. Da steht: „Von den Kleinkindern sind 17 Prozent der Jungen und 16 Prozent der Mädchen überernährt, im Schulalter ist bereits ein Viertel der Kinder zu dick. Der Anteil hochgradig adipöser Kinder ... nimmt mit dem Alter zu. Unter den Zehnjährigen macht diese Gruppe schon 40 Prozent der überernährten Kinder aus.“

Ja, auch der Stern schrieb kürzlich in einer Titelgeschichte, dass die Hälfte der Deutschen zu dick sei.
Wissen Sie was? Was ich vorgelesen habe, stammte aus 1976. Das ist 30 Jahre her!

Das heißt, die Hysterie in Sachen Fettleibigkeit ist gar nicht neu.
So ist es. Statistiken entsprechen halt den Wünschen der Auftraggeber. Zudem neigen Journalisten zum Dramatisieren. Da berichtete der Spiegel, der Anteil der übergewichtigen Kinder hätte sich von 1975 bis 2000 von zehn auf 30 Prozent verdreifacht. In der späteren Originalpublikation jener Studie, auf die sich das Blatt berief, betrugen die Zahlen nur noch ein Viertel davon. Wie unverantwortlich die Botschaft von der verfettenden Jugend ist, zeigen auch Daten aus Brandenburg: Dort nimmt die Speckschicht bei den Kindern seit Jahren sogar ab. Ein anderes Beispiel: Da lese ich in einem Artikel, dass innerhalb von acht Jahren die Zahl der Soldaten, die wegen Übergewicht bei der Musterung durchfallen, von 14 auf 47 Prozent gestiegen sein soll. Das ist so, weil schlicht und ergreifend immer weniger Wehrpflichtige gebraucht werden. Da hat man eben die Kriterien für „Übergewicht“ schnell mal kräftig nach unten verschoben. In der Presse steht aber die Schlagzeile: „Immer mehr Wehrpflichtige neigen zur Fettsucht!“

Dafür sind tatsächlich die Kliniken voll mit Mädchen, die davon abgehalten werden müssen, sich zu Tode zu hungern. Da warten wir allerdings seit Jahren auf eine Kampagne der zuständigen Ministerinnen.
Die stehen vermutlich auch unter dem Eindruck der „Aufklärung“ über „gesundes Essen“. Die europäische Diätindustrie soll jährlich fast 100 Milliarden umsetzen. Die Weight Watchers sind ein börsennotiertes Unternehmen. Und wenn Sie die Aufgabe haben, Diäten oder Süßstoffe zu verkaufen, dann legen Sie die Kriterien in Ihrer Statistik eben so, dass am Ende dabei rauskommt: 30, 60 oder 72,6 Prozent der Deutschen sind zu fett. Das wird dann ohne jeden Kommentar durch die Medien geblasen. Was auch damit zu tun hat, dass sich in den Gesundheits-Ressorts der Zeitschriften immer mehr untergewichtige Damen sammeln, bei denen ich einen gewissen Verdacht auf Ess-Störungen hege. Die sind übrigens häufig Vegetarierinnen. Eine kanadische Studie hat folgendes herausgefunden: Emanzipierte Frauen wissen, dass sie eigentlich keine Diäten machen sollten, tun es aber trotzdem – getarnt als Vegetarismus.

Sie sagen, auch Ernährungsberaterinnen seien häufig selbst Anorektikerinnen oder Bulimikerinnen.
Weil das der Traumberuf essgestörter Menschen ist. Wenn Sie in eine Klinik gehen und fragen: „Was möchten Sie denn werden, wenn Sie hier wieder raus sind?“, dann hören Sie im Chor die Antwort: „Ernährungsberaterin!“ Es zieht viele Patientinnen magisch dahin. In der Ausbildung bestätigt man ihnen auch noch, sie könnten ihren Körper designen, wenn sie nur das richtige äßen. Dabei gäbe es allen Grund zur Zurückhaltung, zumal die meisten Aussagen der Ernährungswissenschaft, wie Prof. Hans-Konrad Biesalkski von der Universität Stuttgart-Hohenheim bestätigt, „lediglich als vorwissenschaftliche Erkenntnisse angesehen werden können“.

Die Ernährungsberatung ist also schlicht und ergreifend Quatsch?
Sie kann sogar schaden. Wenn ich einem Menschen Ratschläge gebe, dann muss ich vorher drei Dinge geklärt haben. Erstens: Ist mein Ratschlag praktikabel? Hält der Patient die Meerrettich-Diät länger als 20 Minuten durch? Die meisten Diäten scheitern und verstärken so die Schuldgefühle. Zweitens: Gibt es einen Nutzen? Sind die Menschen zwei Jahre später im Schnitt dünner als vorher? Wir wissen: Sie sind im Schnitt dicker. Drittens: Ich muss die Nebenwirkungen abklären. Die sind massiv: Diäten bewirken Osteoporose, Diäten verursachen Gallensteine, Diäten fördern Herzinfarkt. Doch statt sich diesen Fragen zu stellen, marschieren unsere Ernährungsberaterinnen in die Schulen, warnen vor Wurst und empfehlen fettarmen Spinat. Da hören die Mädchen dann: „Wenn du so weiter isst, dann siehst du bald aus wie deine Mama!“ Für eine Zwölfjährige ist das der Super-GAU! Dann hungert sie, nimmt Abführmittel und raucht.

Sie fordern, dass wir die öffentlichen Bilder ändern müssen.
Bilder sind ungeheuer stark, dagegen sind Worte machtlos. Wir können das Schönheitsideal nicht kognitiv verändern, sondern nur, in dem wir andere Bilder zeigen. Die heute 60-Jährigen, die noch von Marilyn Monroe geprägt wurden, können mit den Dürren nichts anfangen. Es gibt da ja auch die schlimme Erfahrung von den Fidschi-Inseln. Die Frauen und Mädchen dort waren üppig und glücklich, bis das amerikanische TV kam und sie mit ‚Baywatch‘ beglückte. Drei Jahre haben dort gereicht, um die ganze Ess- und Schönheitskultur umzukrempeln! Die Fidschi-Mädchen fingen kollektiv an zu hungern und kotzen jetzt auch.

Welchen Ratschlag gibt denn der Ernährungs-Experte den sicher auch diäterfahrenen EMMA-Leserinnen?
Essen macht nicht gesund, Essen macht nicht jung, Essen macht nicht schlank – Essen macht satt. Das wär’s. Ach ja, wer hungert, Kalorien spart oder sich vor dem Dickwerden fürchtet, nimmt schneller zu.

Noch eine letzte, indiskrete Frage: Wieviel wiegen Sie eigentlich?
Keine Ahnung. Ich habe seit 40 Jahren auf keiner Waage gestanden.

Udo Pollmer ist Lebensmittelchemiker und Wissenschaftlicher Leiter des Europäischen Instituts für Lebensmittel- und Ernährungswissenschaften (www.das-eule.de). Er veröffentlichte ‚Esst endlich normal!‘ (Piper).

Weiterlesen
Die Hungersucht (1/2001)
Durch dick und dünn (Sonderband 1984, vergriffen)
EMMA Kampagne Essstörungen

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