Die Kolonisierung des Körpers

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Warum Präsidentschaftskandidatin Ségolène Royal der deutschen Kanzlerin einen Brief in ­Sachen Prostitution geschrieben hat – und was Angela Merkel ihr antworten könnte.

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Sollte bei den Präsidentschaftswahlen im April 2007 die sozialistische Kandidatin Ségo­lène Royal gewinnen, dann stünde eine Frau an der Spitze Frankreichs, für die die Bekämpfung der Prostitution mit an erster Stelle steht. Was für eine Französin keineswegs untypisch ist. Denn Prostitution ist im Oh-la-la-Land keineswegs ein „Beruf wie jeder andere“. 1946 schloss Frankreich seine „Maisons“, sprich: Bordelle.
Dennoch gibt es bei unseren Nachbarn jenseits des Rheins Prostitution und all die damit zusammenhängenden Probleme. Anders als in Deutschland aber spielen im öffentlichen Diskurs Begriffe wie „Menschenwürde“ und „Kolonialisierung des Körpers“ eine zentrale Rolle. Sollte eine Präsidentin Royal zum Gipfeltreffen mit Kanzlerin Merkel zusammentreffen, wäre letztere gut beraten, noch einmal den Offenen Brief zu lesen, den Royal im Juni 2006 kurz vor der Fußball-WM an Merkel geschickt hat – und auf den aus Berlin nie eine Antwort nach Paris ging. Royal schrieb an Merkel: „Es ist nicht zu tolerieren, dass anlässlich der WM im Herzen von Europa ein Sklavenmarkt orga­nisiert wird“, und erinnerte die Kanzlerin an die UN-Konvention, die Prostitu­tion für „unvereinbar mit der Menschenwürde“ erklärt. Royals Bewusstsein in dieser Frage ist nicht nur von der von ihr geschätzten Simone de Beauvoir geprägt, sondern auch von französischen Organisationen wie dem ‚Mouvement du Nid‘. Seit 1989 gibt der Verband, der Prostituierte unterstützt und Prostitution bekämpft, die Zeitschrift Prostitution et Société heraus. Eine der Aktivistinnen ist die Journa­listin Claudine Legardinier. Hier schreibt sie für EMMA über Prostitution – aus Sicht einer Feministin und Humanistin.
Die Legalisierung der Prostitution in Deutschland im Jahr 2002 hat es nicht auf die Titelseiten der französischen Zeitungen geschafft. Im Jahr 2006 allerdings hat die Art und Weise, wie die Medien die zur WM neu eröffneten Großbordelle wie das ‚Artemis‘ in Berlin als „chic“ präsentierten, in Frankreich Empörung ausgelöst. Zum ersten Mal haben nicht nur Feministinnen, sondern auch rechte wie linke PolitikerInnen öffent­lich erklärt, dass sie die industrialisierte Zuhälterei ablehnen.
Indem sie sich als libertär präsentiert, organisiert die Sexindustrie gerade einen enormen Rückschlag für die Frauen. Die Legalisierung der Prostitution steht im tota­len Widerspruch mit dem langen Kampf der Frauen für ihre Würde, ihre Autonomie, ihren Zugang zu anspruchsvollen Berufen, die Wertschätzung ihrer Arbeit, für ihr soziales, ökonomisches und politisches Vorwärtskommen. Die Mehrheit der französischen Feministinnen sind Abolitionistinnen, also gegen jede Legalisierung und Banalisierung von Prostitution und Zuhälterei. In den letzten 30 Jahren haben die Frauen das männliche Recht auf den weiblichen Körper gründlich in Frage gestellt. Inzest, Vergewaltigung, häusliche Gewalt, sexuelle Belästigung … Die Männer, denen die Gesellschaft jetzt keinen „Trieb“ mehr erlaubt, müssen inzwischen Verantwortung übernehmen. Nachdem die Frauen also endlich das Recht ihrer Ehemänner und Väter sowie der Kirche auf freie Verfügung über ihren Körper abgeschafft haben, sollen sie es jetzt freiwillig an die „Prostitutionskunden“ zurückgeben?
Eine kalte Logik ist auf dem Vormarsch. Unterstützt von den Medien und der Pornoindustrie, machen sich die Lobby­isten der Sexindustrie daran, neue Kundenschichten zu erobern. Indem sie „hippe Läden“ eröffnen, verpassen sie ihren Etablissements ein Spaß-Image. Der Kunde ist König. Das einzige, was von ihm an diesen Orten erwartet wird, ist, dass er ein Präservativ benutzt und sich an ein paar Spielregeln hält. Was die Freier vor sich selbst von der Pflicht entbindet, über ihre Verantwortung für ein System nachzudenken, das sich auf der ganzen Welt aus dem Menschenhandel und der Ausbeutung der Bedürftigsten speist.
An diesen Orten der „Entspannung“ können sie sich sicher fühlen vor den Forderungen der Frauen nach Gleichberechtigung. Hier haben sie das Recht, die Frauen zu dominieren, sie zu erniedrigen und ihre Verachtung und Gewaltphantasien auszuleben. Denn sie können sicher sein, dass nichts von alledem nach draußen dringt.
Eine der Folgen dieser neuen Konsum-Mentalität ist, dass die Ansprüche der „Kunden“ nach „sexuellen Dienstleistungen“ immer extremer werden. So hat die Banalisierung der Prostitution zum Beispiel dazu geführt, dass immer mehr Freier, die früher die Dienste erwachsener Frauen in Anspruch nahmen, jetzt Minderjährige bevorzugen.
In einem Film von Hubert Dubois über ‚Die Kunden der Prostitution‘, der 2005 im französischen Fernsehen lief, wird ein Freier nach möglichen Skrupeln gegenüber Frauenhandelsopfern gefragt. Er antwortet: „Wenn ich ein Beefsteak esse, frage ich mich auch nicht, ob die Kuh gelitten hat.“ Eine Untersuchung, die 2004 von unserer Organisation, dem ‚Mouvement du Nid‘ gemacht wurde, offenbart: Das Verhalten der Freier ist geprägt von Frauenverachtung, von Dominanzwünschen und Gewaltphantasien und reaktionären Vorstellungen von Sexualität.
Dennoch präsentieren sich diese Männer als „Opfer“ – ihres „Triebes“, ihrer Einsamkeit (obwohl die meisten von ihnen in einer Beziehung leben) und vor allem der Frauen. Die seien zu fordernd, zu kompliziert oder hätten „zu viel Macht“. Die Forschungsarbeit der Britin Julia O’Connell Davidson zeigt außerdem, dass es neben den sexistischen auch noch rassistische Motive gibt: die anima­lische Afrikanerin oder die Asiatin, die sich von Natur aus gern unterwirft – diese kolonialistischen Klischees fördern das wachsende Bedürfnis der Freier nach ausländischen Frauen.
In einer Welt, in der eine beträchtliche Anzahl Prostituierter als Minderjährige beginnt; in einer Gesellschaft, die auf einer Arbeitsteilung der Geschlechter beruht, bei der Frauen Männern zu Diensten sind; im Angesicht einer gigantischen Maschinerie, die nur dem Gesetz des Profits und des freien Markts gehorcht, scheint die „freie Wahl“, sich zu prostituieren, ein Hohn. Die persönliche Entscheidungsfreiheit ist winzig angesichts der Nöte, die durch Wirtschafts- oder poli­tische Krisen entstehen, durch den eingeschränkten Zugang zu Ausbildung und Arbeit, durch Gewalt und die Manipulation und den Druck der Zuhälter.
Überall in der Welt stürzt sich das System Prostitution auf die Verletzlichsten – ob sozial, ökonomisch, ethnisch oder psycho­logisch. Die Legalisierung erlaubt es, die störende Realität auszublenden: Druck, Erpressung, Gewalt, die den Alltag der Prostitution bestimmen. Die Regeln des Marktes machen das Gesetz. Ein Gesetz, von dem man nicht erwarten kann, dass es der Gleichberechtigung und der Demokratie dient.
Durch die Legalisierung wird die Prostituierte als emanzipierte „Sexarbeiterin“ recycelt und der Zuhälter zum Manager in Anzug und Krawatte, der sich angeblich für die Rechte derer interessiert, die er ausbeutet. Die öffentliche Meinung neigt dazu, das glauben zu wollen und schließt die Augen vor der unerbittlichen Gewalt im Milieu.
In Wirklichkeit sind, wie in Holland und Deutschland, die wahren Gewinner der Legalisierung die Kunden, die in ihrem Recht bestärkt wurden, Frauen zu kaufen wie Pizzas. Und natürlich die Frauenhändler, die sich wohl in ihren kühnsten Träumen nicht ausgemalt hätten, welche politische und soziale Anerkennung sie eines Tages erlangen würden. Und die Prostituierten? Sie sind eingeschlossen in ein System der Ausbeutung und Unterdrückung und werden weiter versuchen, ihre Misshandlung durch Alkohol, Drogen und Medikamente erträglicher zu machen und Verteidigungsstrategien gegen ihre ständige Bedro­hung zu entwickeln. Schon die Überwachungsmaßnahmen, die Kameras und Alarmknöpfe im Berliner Großbordell ‚Arte­mis‘ sind ein klarer Beweis für die Gefährlichkeit einer Tätigkeit, die sich niemand für seine eigene Tochter wünscht.
Die Argumente, die für die Legalisierung der Prostitution und damit für die Zuhälterei vorgebracht werden, zeugten scheinbar von guten Absichten: Die bessere Kontrolle des Frauenhandels und des orga­nisierten Verbrechens, die Garantie der öffent­lichen Ordnung, mehr Rechte und größere Sicherheit für Prostituierte. 
Faktisch jedoch gibt es aber nur wenige Prostituierte, die das Recht auf Arbeitsverträge nutzen. Denn die Mehrheit der Frauen will gar nicht als „Prostituierte“ etikettiert werden und außerdem keine vertraglich festgeschriebenen Anweisungen der Bordellbesitzer befolgen. Diese wiederum zeigen ebenfalls wenig Begeisterung für Arbeitsverträge mit ihren „Angestellten“, für die sie dann auch Steuern zahlen müssten. Die ausländischen Prostituierten, die illegal im Land sind, sind von diesem Recht sowieso ausgeschlossen und auch in Sachen Gesundheit und Sicherheit ohne Unterstützung.
Die Sexindustrie hingegen explodiert seit der Legalisierung, wie es das Beispiel Niederlande, Australien und Deutschland zeigt. Überall hat die Permissivität des lega­len Sektors der Prostitution vor allem eine Folge: Der illegale Sektor wächst. Die nationale Berichterstatterin für Menschenhandel der Niederlande, Anna Korvinus, erklärt, dass die Menschenhändler immer öfter Mittel und Wege finden, Frauen mit falschen Papieren in die legalen Bereiche einzuschleusen.
So sahen sich die Amsterdamer Behörden gezwungen, dutzende Bordelle zu schließen, weil das kriminelle Milieu dort Einzug gehalten hatte. Auch Deutschland gilt laut einer Studie der UNO inzwischen als einer der Hauptumschlagplätze der Frauenhändler.
Für uns ist eine gleichberechtigte Gesellschaft, eine wahre Demokratie, nicht möglich ohne eine Politik, die das System Prostitution bekämpft. Ein System, das untrennbar mit dem Frauenhandel verbunden ist. Weil der Kapitalismus auch hier nur ein Ziel kennt: Den Körper der Frauen, und der Menschen überhaupt, zur Ware zu degradieren, um den maximalen Profit zu erzielen. Es ist das System, das die Prostitution wieder als „Job“ definiert, der aus einer „persönlichen Wahl“ resultiert und bestrebt ist, jeden Zusammenhang mit Ausbeutung und Gewalt zu kaschie­ren. Und sich so einen Markt mit Milliarden-Umsätzen öffnet.
Wir, die französischen AbolitionistInnen, lehnen darum die staatliche Akzeptanz der Prostitution ab und kämpfen für eine klare Politik der Ablehnung. Das schwedische Gesetz von 1999 ist da ein gutes Modell. Indem Schweden die Freier bestraft, nicht aber die Prostituierten, zeigt das Land, dass eine Gleichberechtigung von Frauen und Männer nicht zu verwirklichen ist, wenn Männer Frauen als Ware benutzen dürfen, um sich ihrer Männlichkeit zu versichern. Die symbolische Wirkung dieses Gesetzes ist enorm. „Man kauft nicht den Körper eines Menschen“, lautet die Botschaft, die der jungen Generation mit auf den Weg gege­ben wird. Angesichts der Probleme, die die Frauenhändler inzwischen dort haben, ihre Ware loszuwerden, registrieren die schwedischen Behörden auch einen Rückgang des Menschenhandels.
Seit 2000 nehmen die internationalen Institutionen, die über die Ausmaße des Menschenhandels alarmiert sind, die Verantwortung derer ins Visier, die für die Nachfrage auf dem Markt sorgen: die Freier. Das UNO-Protokoll zum Menschenhandel war das erste internationale Dokument, das die Notwendigkeit formuliert hat, in dieser Richtung tätig zu werden. Andere folgen: Die Konvention des Europarates zum Menschenhandel 2004, die UNO-Frauenrechtskommission in New York 2005, der UNO-Bericht über den Menschenhandel 2006 – sie alle fordern das gleiche. Spanien, Litauen, Ungarn, Bulgarien und weitere europäische Länder haben bereits Freier-Kampagnen gestartet. Die UNO hat 2005 beschlossen, den Soldaten ihrer Missionen jeden sexuellen Kontakt mit Prostituierten zu verbieten.
Eine konsequente abolitionistische Poli­tik müsste also aus verschiedenen Elementen bestehen: Sie müsste die Freier in die Verantwortung nehmen und gleichzeitig jede Diskriminierung der Prostituierten abbauen. Sie müsste Projekte fördern, die den Prostituierten den Ausstieg ermöglichen (laut einer kanadischen Studie würden 92 Prozent der Prostituierten aussteigen, wenn sie könnten). Sie müsste die Opfer von Frauenhandel unterstützen und Zuhälterei bestrafen. Und sie müsste im Bereich Bildung und Erziehung die Gleich­heit zwischen Mädchen und Jungen offensiv fördern. Denn ohne eine grundlegende Veränderung der gesellschaftlichen Haltung zu Frauen und Männern wird die Bekämpfung der Prostitution nicht möglich sein.
Eine solche Politik muss Polizei, Justiz, Mediziner, Sozialarbeiter und Medien ins Boot holen. Der Kampf gegen das System Prostitution ist auch ein Kampf gegen Armut und gegen jede Form von Gewalt und Missbrauch, und für ein neues Konzept der Entwicklungshilfe und der Solidarität der reichen mit den armen Ländern.
Unsere Forderung ist, das uralte Recht der Männer auf einen sich prostituierenden Körper zu verwandeln: In das Recht eines jeden Menschen, sich nicht prostituieren zu müssen. Ziel dieses abolitionis­tischen Projektes ist eine Welt ohne Prostitution. Das wäre eine wahre Kultur­revolution. Männer, alle Männer, müssten Frauen als gleichwertig betrachten – und als Subjekt der Begierde. Der Weg dahin ist noch weit.

Legardinier ist (mit Co-Autor Said Bouama) Autorin von: Les Clients de la Prostitution und aktiv im 'Mouvement du Nid' (www.mouvementdunid.org)

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