Die echte Pippi Langstrumpf
Was hat Astrid Lindgren mit Pippi Langstrumpf da nur angerichtet? Dieses starke, wilde und furchtlose Mädchen, das nicht nur die halbe Welt für sich fordert, sondern gleich die ganze. Ein weltweites Role Model, eine Ikone für alle Mädchen, die mehr vom Leben wollen als das, was das Patriarchat ihnen bietet. Wie aber ist Lindgren nur auf diese Pippi gekommen?
Tja, die reine Fantasie war es wohl nicht (nur). Es war ein echtes starkes, wildes und furchtloses Mädchen, das ganz Schweden eroberte: Ester Blenda Nordström (1891 bis 1948).
Sie war ein Wildfang, trug ausschließlich Hosen, rauchte später Pfeife, fuhr Motorrad, liebte Frauen und wurde Schwedens erste investigative Journalistin.
Von 1911 bis 1917 arbeitete Ester beim Svenska Dagbladet, danach wurde sie eine gefeierte Schriftstellerin. Ihr Thema waren die Frauen. 1914 gab sie sich als Magd aus, um über die sklavenähnlichen Verhältnisse zu schreiben, unter denen Mägde auf Bauernhöfen rackerten. Ihre Zeitungsserie darüber und ihr Buch „Magd unter Mägden“ machten sie schlagartig bekannt. Später lebte Ester ein halbes Jahr als Nomadenlehrerin in einer samischen Gemeinschaft in Nordschweden, fuhr mit dem Hundeschlitten und lebte im Zelt. Unter AuswandererInnen fuhr sie per Schiff in der dritten Klasse nach New York, arbeitete dort als Küchenhilfe und schrieb die Realität über den „American Dream“.
Ihre aufregenden Investigativ-Reportagen katapultierten Ester in die Stockholmer Promi-Szene der 1920er Jahre. Dort freundete sie sich mit Elin Wägner an, der damals berühmtesten Frauenrechtlerin Schwedens, und dort traf sie auch auf die Adelstochter Carin Frisell. Carin wurde die Liebe ihres Lebens – zu einer Zeit, als das in Schweden noch strafbar war und als Krankheit galt. Die Familie Frisell akzeptierte die Beziehung, allerdings mit der Auflage, nichts an die Öffentlichkeit dringen zu lassen.
Mit Carin trampte Ester durch die USA und lebte einige Monate im kaiserlichen Japan. Doch in der Heimat passte das Versteckspiel nicht zu Ester. Sie begann zu trinken, studierte eine Zeit lang Landwirtschaft – als einzige Frau unter 112 Männern. Und sie begann, Kinderbücher zu schreiben. Eine ihrer Protagonistinnen: Ann-Mari. Ein wildes, furchtloses Mädchen, das nicht heiraten, sondern Abenteuer und Freiheit will. Lindgren muss die Bücher gekannt haben, zu viele Analogien finden sich in den Geschichten.
Als Ester im Oktober 1948 mit nur 57 Jahren stirbt, vernichtet Carin alle Hinweise auf ihre Beziehung, Ester Blenda Nordström gerät in Vergessenheit.
Bis 2013. Da beginnt Fatima Bremmer, Nachrichtenchefin im Kulturressort beim Svenska Dagbladet, nach ihr zu graben. Vier Jahre lang. Sie ist fasziniert von Esters rasantem Leben und der verbotenen Liebe zu Carin. „Ett jävla Solsken“, auf Deutsch „Ein verdammter Sonnenschein“, nennt sie die Biografie, die 2017 erscheint. Über 200.000 Mal wird das Buch verkauft, 2022 ins Englische übersetzt. Esters Biografie wird zum Theaterstück, zu einer Ausstellung und ist aktuell auch als Doku „Ester Blenda“ zu sehen.
Und plötzlich sind auch Ester Blenda Nordström und all ihre Bücher – über das Leben als Magd, als Lehrerin bei den Samen, als Auswandererin in den USA, als Forscherin in Kamtschatka oder als Motorradfahrerin in Schweden – wieder da. Selbst ihre Kinderbücher sind wieder erhältlich, die mit den wilden, freien Mädchen, die mehr vom Leben wollen.
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