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Nothomb: Rockstar der Literatur

Sonst gar nicht zugeknöpft: Amélie Nothomb Foto: AFP
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In Paris findet man sie im Musée Grevin, dem Wachsfigurenkabinett, oder in einem mit Bücherbergen, Fanpost und Requisiten zugestellten winzigen Büroverschlag bei ihrem Verlag Albin Michel am Montparnasse, wo ich sie zum Gespräch traf. Ihre inzwischen über 30 Bücher erreichen Millionenauflagen, sind weltweit Bestseller. Wie ein Rockstar inszeniert, ist sie längst Kultfigur und Schulbuchklassiker in einer Person, eine Art Madonna der Literatur: Amélie Nothomb.

Berühmt sind auch ihre Outfits, ihre überdimensionalen Hüte, ihr Look zwischen Schneewittchen und Gothic Queen, ihre Jabots très 18ème, ihr blutroter  Mund, ihre Vampir-Bemalung. Amélie gibt es als Astéroid und als Anziehpuppe, wie für Proust gibt es ein ABCdaire zum Nachschlagen. Der Name Amélie ist ein „nom de plume“, eigentlich heißt sie Fabienne Claire, wurde aber von ihren vielbeschäftigten Diplomateneltern ohnehin nur Patrick genannt, wie der heißgeliebte Vater.

Viele ihrer Werke haben autobiografischen Charakter, sind Reflex und Verarbeitung einer außergewöhnlichen Biografie. Aufgewachsen in Fernost als Tochter eines Diplomaten, der der erste belgische Gesandte unter Mao war, lernt sie Europa, Belgien und Brüssel, erst mit 17 Jahren kennen, da ist sie schon längst in einem Circulus vitiosus aus Einsamkeit, Magersucht und Schreibmanie gefangen, nachzulesen in „Böses Mädchen“.

Ihre Romane sind ihre Kinder, unbefleckt empfangen und daher vaterlos. Ständig schwanger, erschreibt sie sich fabelhafte Amélie-Welten, absurd, amüsant, abgründig, voller Sprachmagie, Witz und brillanten Dialogen.

Prägend sind ihre ersten fünf Lebensjahre in Japan, das sie bis heute schmerzlichst vermisst. Nothomb war ein fast autistisches Kind, das die Welt und die Menschen nur mit großen Augen in sich aufsog: Herrlich nachzulesen in „Metaphysik der Röhren“. Als sie dann dank eines Stückchens weißer Schokolade zum Leben erwacht, sind es die Wörter, die ihr Halt geben. Schon als kleines Kind lernt sie Wörterbücher auswendig und biblische Geschichten.

Die Diplomatentochter versteht früh, dass sie wegen der Karriere ihres Vaters alle drei Jahre alles, was sie umgibt, wieder verlieren wird. In einer Art Selbsttherapie klammert sie sich an Literatur und Sprache: Mit 15 übersetzt sie ein Drittel der Ilias, mit 17 entdeckt sie Nietzsche und Rilkes „Brief an einen jungen Dichter“, der ihr den Weg zum Schreiben weist.

Seither schreibt sie, wo immer sie sich aufhält, täglich ab 4 Uhr früh in einem seltsamen orangefarbenen Schreibdress, der aussieht wie ein japanischer Strahlenschutzanzug, drei bis vier Stunden lang in die immergleichen karierten Spiralhefte, mit der Hand natürlich. Schlaflos schon seit der Kindheit, ist sie von ganz außergewöhnlicher Vitalität und überbordender Fantasie.

Als sie mit 25 Jahren ihren ersten Roman „Die Reinheit des Mörders“ veröffentlicht, staunt die Kritik über die Sprachgewalt, die Raffinesse des Plots, aber auch das Monströse der Hauptfigur. Die Monster, meist Männer, sind geblieben. Häufig finden wir die gleichen Ingredienzien: Ein hochbegabtes einsames Kind, clevere junge Frauen und böse alte Männer, toxische Beziehungen, nachgetragene Liebe, Obsessionen aller Art, Rachefeldzüge und Todeswünsche; dazu Champagner, Parfüm und Suspense sowie messerscharfe Dialoge und häufig unerwartete Auflösungen, das Ganze in einem ausgesuchten Vokabular voller brillanter Neologismen.

Erlösung gibt es häufig durch Musik: ein junges Mädchen wird durch Schuberts Lieder von ihrem Ennui geheilt („Töte mich“). Es gibt Märchenanleihen („Blaubart“, „Happy End“), aber auch bissige Gesellschaftssatiren wie „Reality-Show“, in welcher Nothomb die Welt der Télé-réalité der Lächerlichkeit preisgibt, und „Mit Staunen und Zittern“, in dem sie den gnadenlosen Überlebenskampf in japanischen Firmen thematisiert.

Ihr Versuch, dort nach abgeschlossenem Altphilologiestudium zu arbeiten, lässt sie gedemütigt als Dame pipi, als Klofrau, enden. Immerhin gibt es für zwei Jahre einen reizenden japanischen Geliebten, dem sie in „Der japanische Verlobte“ ein literarisches Denkmal setzt. Japan wird endgültig zur Lebenswunde, sie kehrt nach Belgien zurück und schreibt um ihr Leben.

In ihrem Roman „Die Passion“ ist sie selbst Jesus am Tag vor der Kreuzigung, ein zutiefst menschlicher Jesus, ein sanfter Mann, der eine schöne Frau liebt, und den alle verraten, auch die, an denen er Wunder vollbracht hat.

Aber die Passion Christi ist nichts im Vergleich zum Heldenporträt ihres berühmten Vaters in „Der belgische Konsul“. Patrick Nothomb hatte das Pech, in seiner ersten Diplomatenstelle als Konsul im Kongo in die größte Geiselnahme des 20. Jahrhunderts verwickelt zu werden: Im Sommer 1964 werden in Stanleyville 1.500 Weiße in Geiselhaft genommen, um die Anerkennung des östlichen Landesteils als Volksrepublik Kongo zu erzwingen. Nothomb, gerade 28 Jahre alt, ist der Unterhändler zwischen den Rebellen und dem Tod. In endlosen „palabres“ versucht er vier Monate lang gleich einer Scheherazade das Leben der Geiseln zu retten.

Dieser Heldenvater ist 2020 gestorben und musste unter Pandemiebedingungen begraben werden. Die Tochter, die den Vater über alles geliebt und verehrt hat, kann nicht Abschied nehmen und schreibt seine unglaubliche Lebensgeschichte auf.
Die Tochter verleiht dem Heldenvater ihre Stimme. Das Enfant terrible, das böse Mädchen der französischen Literatur zeigt sich hier von ihrer empfindsamen Seite, wie sie überhaupt auch im persönlichen Gespräch ganz unerwartet von großer Liebenswürdigkeit und freundlicher Zugewandtheit ist, sprühend vor Charme und Witz. Neben dem Schreiben ist Champagner ihr Lebenselixier. Daneben besucht sie Freunde auf dem Père Lachaise oder dem Cimetière Montmartre …

Leider kommt Diogenes, ihr deutschsprachiger Verlag, mit dem Kinderreichtum seiner Starautorin nicht so gut zurecht und hinkt immer zwei Bücher hinterher. Während es in Frankreich schon „Psychopompe“ gibt und zuverlässig zur nächsten Rentrée den nächsten Roman, müssen wir uns mit dem gerade erschienenen „Buch der Schwestern“ begnügen, wie immer übersetzt von Brigitte Große.

Wie immer gibt es autobiografische Anspielungen und Spiegelungen: zwei dysfunktionale Familien, Eltern, die sich selbst genug sind und ihre Kinder vernachlässigen, ein hochbegabtes kleines Mädchen, das mit zwei Jahren noch nicht spricht, dann aber fließend, und sich mit vier Jahren selbst Lesen und Schreiben beibringt und mit kaum fünf Jahren mit ihrer kleinen Schwester, die sie liebevoll betreut und versorgt, den ganzen Tag über alleine gelassen wird. Aber nicht dadurch verfinstert sich ihr Gemüt – Tristane heißt sie im Gegensatz zur immer fröhlichen Laetitia, der Schwester – sondern durch die fehlende Elternliebe der ersten fünf Lebensjahre.

Auch die tödliche Magersucht der Cousine kennen wir von den beiden Nothomb-Schwestern Amélie und Juliette, die lebenslang fast symbiotisch verbunden, auch gleichzeitig magersüchtig bis zur Schmerzgrenze waren. Überhaupt ist dieser Roman eine Hommage an die Schwester, mehr noch an die selbstlose Schwesternliebe, Agape, im Unterschied zur narzisstischen Liebe von Florent und Nora, dem Elternpaar. Die Tochter beschließt mit elf Jahren, den Vater zu töten. Im Schwesternbuch ist es die Mutter, die sich nach dem Unfalltod des Ehemannes in ihrer ganzen Monstrosität zeigt. Aber der Mangel an elterlicher Liebe, nach der sie verzweifelt verlangt hatte, kann niemals kompensiert werden, diese Wunde verheilt nie.

Amélie Nothomb, der ihre eigene Kindheit auch heute noch näher ist als die Gegenwart, ist eine feinsinnige Psychologin der Kinderwelt und ihrer Blessuren. Wieder einmal ist die Nothombsche Hölle die auf Lüge, Gewalt und Manipulation aufgebaute Familie. Feine Haarrisse werden zu Rissen, die sich fast unmerklich vertiefen, bis es zu Unerhörtem kommt.

Wie bei ihrem Lieblingsmaler Hieronymus Bosch gibt es auch bei Amélie Nothomb das Monströse neben dem Erhabenen, das Groteske neben der vollkommenen Schönheit, das Komische neben dem Tragischen: ein eigener Kosmos, eine eigene Welt, ein sehr eigener Ton, alles mit hohem Suchtpotential.

BARBARA VON MACHUI

 

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