Die Frau, die gegen Tönnies kämpft

Inge Bultschnieder vor dem Tönnies-Firmengelände. - Foto: Bettina Flitner
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Als wir, die Fotografin und die Redakteurin, mit ihr für ein Foto auf das Gelände vom Werksverkauf von Tönnies fahren, kriecht sie tiefer in den Sitz. „Könnte sein, dass man mich hier schnell erkennt“, flüstert sie konspirativ. In der Tat, Security-Männer schauen in unsere Richtung, überall sind Video-Kameras. Beim Umkreisen des Firmengeländes wird uns klar, was für ein Gigant Tönnies ist. Kilometer um Kilometer fahren wir entlang einer gefühlt zehn Meter hohen Betonwand, die das Gelände umschließt. Es riecht nach Gülle. Auf dem Dach dreht sich das makabre Firmenlogo: zwei Rinder und ein Schwein, die mit ihren Schwänzen ein Herz formen. 25.000 Tiere werden hier pro Tag geschlachtet.

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Ich habe früh angefangen, diese ganze Kultur des Wegsehens zu verachten!

Sie isst seit ihrem Kampf gegen Tönnies kein Schweinefleisch mehr. „Natürlich tun mir auch die Tiere leid“, sagt sie. Inge Bultschnieder kämpft seit acht Jahren gegen die unsäglichen Arbeitsbedingungen hinter den Mauern der Massenschlachterei Tönnies in Rheda-Wiedenbrück. Sie ist diejenige, die darauf aufmerksam gemacht hat, dass knapp jeder dritte Tönnies-Mitarbeiter eine Frau ist. Seit den Corona-Ausbrüchen wird sie gehört – von Medien in ganz Deutschland, ja Europa. Und Clemens Tönnies schießt zurück: mit Aufforderungen zu einer Richtigstellung und Unterlassungserklärung. Inge unterschreibt nichts. Sie ist entschlossen.

Von hinten fahren wir näher an das von Feldern und kleinen Bauernhöfen umgebene Werk. Wir stapfen über Wiesen und Felder und nähern uns dem Moloch. Während wir Mühe und Not haben, die Foto-Ausrüstung sicher über den Bach zu schleppen, federt Inge voran. Sie würde auch die Tönnies-Mauern hochklettern, aber das würden wir nicht zulassen. Wir brauchen nur das passende Umfeld für das Foto. Wenn ein Bauer das Feld umkreist oder ein Spaziergänger zum Handy greift, werden wir unruhig, Inge bleibt cool. Sie ist anderes gewohnt. Ganz anderes. Und wenn es sein muss, fährt sie sogar bis nach Rumänien, um dem Übel auf die Schliche zu kommen.

Inge Bultschnieder mit ihren Töchtern Anna (li.) und Carla. Foto: Bettina Flitner
Inge Bultschnieder mit ihren Töchtern Anna (li.) und Carla. Foto: Bettina Flitner

Als EMMA an einem sonnigen Dienstag bei Inge Bultschnieder zuhause anklopft, räumt sie gerade die Spülmaschine aus. Ihre B&B-Gäste aus der Einlieger-Wohnung haben sich kurz zuvor verabschiedet. Inge entschuldigt sich für das „Chaos“ im Haus, fürs Aufräumen ist gerade einfach keine Zeit. Tönnies’ Anwälte machen ihr Druck. „Jetzt heißt es Gegenhalten!“, sagt sie.  Und „Gegenhalten“, das konnte sie schon immer.

1972 wird Inge in Scharmede bei Paderborn geboren, nur „ein paar Monate nach Sandra“, ihrer damals besten Freundin. Sandra wurde mit einem „Wolfsrachen“ geboren, einer offenen Lippen-Kiefer-Gaumenspalte. Das Mädchen wird deswegen gehänselt. Inge wird ihr Schutzengel. Wer Sandra „Krummschnauze“ nennt, kriegt es mit Inge zu tun.

"Ich habe früh angefangen, diese Kultur des Wegsehens abzulehnen!"

Die lernt früh, sich auch selbst zu verteidigen. Gegen ungerechte Lehrer, die im erzkatholischen Paderborner Raum noch bis in die 80er Jahre prügeln; gegen Pastoren, die Ohrfeigen verteilen. „Für mich gab es oft nur die Option Flucht oder Kampf, und Flucht war nie so mein Ding“, erzählt die 48-Jährige, als wir auf ihrer Terrasse sitzen.

Einmal sind ihr beide Optionen verwehrt. Ein Nachbar, in dessen Garage sie als Fünfjährige die Kaninchen streichelt, zieht plötzlich das Tor runter und zieht das Kind nackt aus. Da ruft plötzlich Sandras Mutter nach Inge, der Nachbar lässt los. Ihr Vater, von Beruf Dreher, verprügelt zwar den Nachbarn, bei der Polizei wird ihm jedoch von einer Anzeige abgeraten. „Das bringt eh nichts“, heißt es. „Ich habe früh angefangen, diese ganze Kultur des Wegsehens und Nicht-Wahrhaben-Wollens vehement abzulehnen!“, sagt Inge heute.

Nach der Schule will sie eine Lehre zur KFZ-Mechanikerin machen. Ein Schlossermeister ist nach ihrem Praktikum in der Werkstatt begeistert und würde sie auch ausbilden, ja - wenn er dafür nicht extra eine Damentoilette und Dusche bauen müsste.

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Inge beginnt eine Bäckerlehre. Backen gefällt ihr, aber sie hat Angst, mitten in der Nacht fünf Kilometer über die Felder zu fahren. Der Vorfall in der Garage sitzt tief. Heute backt sie trotzdem weiter Brot: in ihrem „Knusperhäuschen“. Zwischendurch wurde sie Bürokauffrau, Versicherungsfachfrau und Geschäftsfrau. Seit einem Jahr betreibt sie ihren Backladen in Wiedenbrück, steht mit ihrer „Waffelschmiede“ auf Festen und Märkten und arbeitet als Integrationsfachkraft für Kinder an einer Grundschule.

Inge ist Mutter zweier Töchter im Teenager-Alter. Eigentlich ist da keine Zeit, sich auch noch für fremde ArbeiterInnen einzusetzen und gegen den Goliath von Rheda-Wiedenbrück zu kämpfen. Schon gar nicht für einen David wie sie. „Vorsicht, wer sich mit dem anlegt, wird seines Lebens nicht mehr froh“, warnte man sie immer wieder.

Ihr Kampf gegen Tönnies beginnt 2012. Da liegt sie mit Katya auf einem Zimmer. Die junge Bulgarin war bei Tönnies am Fließband zusammengebrochen und vertraut ihrer Bettnachbarin so einiges an. Das lässt Inge nicht mehr los. 2013gründete sie die Initiative „WerkFAIRträge“, es folgen „Runde Tische“, Podiumsdiskussionen, Demos, Mahnwachen und PolitikerInnen-Gespräche. Im Februar 2015 sitzt Sigmar Gabriel (SPD), der damalige Wirtschaftsminister, bei Inge am Küchentisch. Er lässt sich berichten und spricht nach einem Werksrundgang bei Tönnies von einer „Schande für Deutschland“ in der Fleischindustrie. Doch es geschah: nichts.

Sigmar Gabriel sprach von einer Schande für Deutschland - doch es geschah nichts

Inges Tochter Anna hatte der Minister eine Widmung geschrieben: „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es“. Erst im Juli 2020 kam heraus, dass Gabriel von März 2020 bis Ende Mai 2020 für Tönnies als hochdotierter Berater tätig war.

Der Kampf der Inge Bultschnieder wird „persönlich“, als 2015 ein Rechtsreferent von Tönnies vor ihrer Haustür steht. „Der baute sich vor mir auf und wurde laut. Meine Kinder waren total verängstigt. Ich habe ihn gebeten, sachlich zu werden, und er antwortete sinngemäß, dass ‚sachlich nun vorbei‘ sei. Es wäre ab sofort eine persönliche Angelegenheit. (Die Firma Tönnies wollte sich auf EMMA-Anfrage zu diesem Vorfall nicht äußern.) Die Lokalpresse veröffentlichte am nächsten Tag einen persönlichen Brief vom Unternehmen Tönnies an Inge Bultschnieder. Damals unterstellte die Presse ihr eine „Profilneurose“. „Man wollte mich als die nervige Querulantin, hinstellen, als eine Frau die Geschichten erfindet, um sich wichtig zu machen“, sagt sie.

Immer mehr ArbeiterInnen klopfen nun an Inges Haustür. Einmal kam eine Frau, der ein Greifer, ein Gerät, das eigentlich das Fleisch greift, die Hand zerfetzt hatte. Inge hat noch immer ein Foto davon. Zusammen mit dem Gewerkschafts-Projekt „Faire Mobilität“ sorgt Inge seit Jahren für Rechtsberatungen. Der Kampf für die ArbeiterInnen ist zäh. Immer ist es ein Kampf gegen Windmühlen.

Gegen den Frust darauf geht sie laufen. Acht bis zehn Kilometer an jedem zweiten Tag. Wenn Inge Urlaub macht, geht es auf dem Fahrrad durch halb Deutschland, zu Fuß auf den Jakobsweg, im Kanu durch die Natur. Echte Unterstützung bekommt sie von ihren Töchtern, Carla (18) und Anna (20). Beide sind stolz auf ihre Mutter. Doch auch sie werden hin und wieder für deren Engagement im Ort schief angeguckt. „Wir sind ja quasi damit aufgewachsen“, erzählt Anna und fügt hinzu: „Jetzt erst recht!“ Carla geht noch zur Schule, Anna will nach ihrem Bufti-Jahr in einem Altenheim in die Lehre gehen, als KFZ-Mechanikerin.

Mit Corona drehte sich der Wind gegen Tönnies, die Menschen waren stinksauer

„Ich habe das alles nicht nur für die ArbeiterInnen gemacht“, sagt Inge, „sondern auch für mich“. Denn: „Ich hätte mit dem, was ich weiß, nicht mehr in den Spiegel gucken können, wenn ich nichts unternommen hätte.“ Darum ist Inge auch 2017 bis nach Rumänien geflogen. Sie wollte „dem Fall Mihaela“ auf den Grund gehen. Mihaela, damals Fließbandarbeiterin bei Tönnies, hatte ein Kind allein in einer Garage geboren – und dann ausgesetzt. Das Kind kam in eine Pflegefamilie, Mihaela für drei Jahre ins Gefängnis. Inge war so erschüttert, dass sie mehr verstehen wollte. Sie fuhr in Mihaelas Heimatort und entdeckte dort das Elend, aus dem die Tönnies-Arbeiterin kam.

Und dann kam Corona. Unter dem Titel „Wir sind besorgt!“ war von Inge im März 2020 ein Bericht in der Lokalzeitung erschienen. Nichts passierte. Im Juni schlug das Virus voll ein. Alle ArbeiterInnen mussten sich testen lassen. Mindestens 1.500 ArbeiterInnen aus dem Tönnies-Umfeld hatten sich angesteckt. Alle Schulen und Kitas wurden wieder geschlossen. Kurze Zeit später erfolgte ein erneuter Lockdown. Häuser wurden geräumt, Besserung wurde gelobt.

Jetzt waren die Menschen indem beschaulichen Städtchen stinksauer. Vor dem Wohnhaus von Clemens Tönnies wurde demonstriert, die Kritik an dem Fleischimperium reißt seitdem nicht ab. Es laufen Verfahren. Der Wind hat sich gedreht. Doch Inge will mehr. Gerechtigkeit.

Als wir uns verabschieden, ruft gerade wieder ein Journalist an. Dann eilt sie in die Backstube. Sie muss noch 150 Nussecken für ihr „Knusperhäuschen“ backen.

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