Die Kinder des Holocaust
Die Journalistin Helen Epstein, Tochter Überlebender und Enkelin Ermordeter, sagt: „Ich bin dazu erzogen worden, nicht zu hassen - aber auch, nicht zu vergessen.“ Ihre Eltern sind nach Amerika emigriert, und die dort geborene Tochter hat sich lange gefragt, was ihr das Herz so schwer macht... Für ihr schmerzlich ehrliches, selbstironisches und brillantes Buch befragte sie sich und andere „Kinder des Holocaust“. Sie bekam heraus, wie unterschiedlich die individuellen Reaktionen auf die Last sind - aber auch, daß alle schwer an dieser Last tragen. Mitte der 70er Jahre fing die „zweite Generation“ an zu reden. 1976 gründete sich in New York eine erste Gruppe von Kindern Überlebender aus dem Warschauer Ghetto. 1977 schrieb Epstein in „Time“ darüber, in der zweiten Hälfte der 80er wurde das Schweigen auch in Deutschland gebrochen. Nachfolgend autobiographische Auszüge aus Epsteins Buch.
Lange Jahre war es in einer Art Kasten tief in mir vergraben. Ich wußte, daß ich – verborgen in diesem Kasten – schwer zu erfassende Dinge mit mir herumtrug. Sie waren feuergefährlich, sie waren intimer als Liebe, bedrohlicher als jede Chimäre, jedes Gespenst. Gespenster aber hatten immerhin eine Gestalt, einen Namen.
Was aber dieser Kasten in mir barg, hatte weder Gestalt noch ließ es sich benennen. Im Gegenteil: Es besaß eine Macht von so düsterer, furchtbarer Gewalt, daß die Worte, die sie hätten benennen können, vor ihr zergingen.
Oft war mir, als trüge ich eine entsetzliche Sprengladung mit mir herum. Flüchtige Bilder von Tod und Vernichtung hatte ich gesehen. War ich in der Schule vorzeitig mit einer Probearbeit fertig oder hing ich auf dem Heimweg meinen Tagträumen nach, so schien mir alles Gesicherte aus der Welt verschwunden, und mir traten Dinge vors Auge, die ein kleines Mädchen nicht hätte sehen dürfen. Blut, zerschlagenes Glas, Hügel von Gebeinen, schwarzer Stacheldraht, an dem Fleischfetzen hingen wie tote Insekten; getürmte Koffer, Berge von Kinderschuhen, auch Peitschen, Pistolen, Stiefel, Dolche und Nadeln.
Waren die Eltern abends ausgegangen und hockten mein kleiner Bruder und ich vor dem Fernseher, so erschien mir das Zimmer, ja, unser ganzes Leben, schutzlos, unbehütet. Jeden Augenblick konnten Einbrecher oder Mörder bei uns eindringen und über uns Wehrlose herfallen. Ich ließ den Kleinen vor mir in die Küche gehen, um uns zu bewaffnen; wir nahmen Kartoffelstampfer, Kochlöffel und lange Messer aus der Schublade und postierten uns an der Tür, bis die Angst sich allmählich verlor oder bis wir zu müde waren, um weiter Wache zu stehen.
Unausgesetzt schienen Verbrecher irgendwo darauf zu lauern, kleine Partys zu sprengen, meine Schulklasse auseinanderzutreiben – oder gar dreitausend Menschen aus der Carnegie Hall zu jagen: In schwarzgewichsten Stiefeln und Lederjacken stürmten sie herein, schossen mit Revolvern herum, bedrohten die Leute und brüllten: „Raus mit euch, raus hier, aber dalli!“, bis alle Menschen in rasender Hast verschwunden waren und der Saal sich gelehrt hatte.
Tagsüber, in den New Yorker Straßen, war es schwer vorstellbar, was aus diesen Tausenden von Menschen geworden sein mochte. Aber in der U-Bahn, während der Hauptverkehrszeit, sah ich sie dann wieder. Ich stand im vordersten Wagen neben dem Fahrerstand, das Gesicht an die Scheibe gepreßt, und starrte auf die Signale im Tunnel. Die Bahn, die unter der Seventh Avenue dahinfuhr, verwandelte sich unversehens in einen Zug von Viehwaggons auf der Fahrt nach Polen. Ich schloß die Augen, während der Zug von Station zu Station ratterte, und mir war, als müßte ich den Fahrer geradezu hypnotisch dazu zwingen, die roten Signale zu überfahren und den Zug in rasendem Tempo dahin – und die Mitreisenden in den Tod fahren zu lassen, sie zu zerschmettern, ehe sie ihren Bestimmungsort erreichten. Niemand würde begraben. Sie alle würden spurlos verschwinden.
In der St. Patrick’s Cathedral an der Fifth Avenue konnte man der nie begrabenen Toten gedenken. Ich nahm immer eine der länglichen Kerzen aus dem Gestell neben einer der wuchtigen Säulen und entzündete sie. Ich sah Leute beten, sah, wie sie im Mittelgang auf die Knie sanken, das Kreuzzeichen machten und dann mit gesenktem Kopf aus der Kathedrale eilten. Das tat ich auch. Ich mußte es tun: sonst wären vielleicht jene Männer mit schwarzen Stiefeln und Lederjacken erschienen und hätten mich abgeführt.
Manchmal kam es mir so vor, als enthielte der eiserne Kasten in mir ein Grabmal. Die Wände waren aus Stein wie jene, die im Metropolitan Museum of Art die Mumien bargen, und die Luft war kühl. Auf einem thronähnlichen Sessel in der Ecke saß meine Großmutter Helena. Sie trug das braune Haar über den Ohren nach oben gekämmt und blickte streng drein. Vater aber versicherte stets, nie habe die Großmutter einer Seele etwas zuleide getan. Neben ihr stand Großvater Maximilian, hochgewachsen und aufrecht wie ein Offizier. Großvater Emil hingegen ging auf und ab und haderte mit sich auf deutsch, und Großmutter Josephine stand, in einen Schal gehüllt, sinnend in einem Winkel.
Wie die anderen Verwandten ausgesehen hatten, wußte ich nicht: Onkel Erich, seine Frau und sein Sohn; Onkel Bruno; Pepik, der erste Mann meiner Mutter (mit dem sie vor dem Krieg verheiratet gewesen war) und all die andern, die nicht einmal namentlich erwähnt wurden. Bis auf einen Stumpf war unser Stammbaum niedergebrannt worden. Ganze Äste, reich verzweigtes Blattwerk waren in den Himmel und in die Erde verschwunden. Kein Stein sprach von ihrem Dahingehen. Nichts von ihnen war geblieben als die verblaßten Photographien, die Vater in einem gelben Umschlag unter der Platte seines Schreibtischs aufbewahrte.
Es waren nicht einfach die üblichen Schnappschüsse, die man in Photoalben einklebt und gelegentlich herumzeigt. Diese Photos waren zu Dokumenten, zu Zeugnissen unserer Rolle in einem historischen Geschehen geworden, einem Geschehen von so unfaßbarer Gewalttätigkeit, daß ich einfach überfordert war, wenn ich in den Büchern davon las, die Vater mir gab, oder wenn er mich in Filme mitnahm, die davon berichteten. Die Fakten und Bilder sprangen in meinem Hirn wie Pingpong-Bälle hin und her; sie ergaben nicht nur für sich allein keinen Sinn, sondern verwirrten auch all das noch, was an gesichertem Wissen vorhanden war.
Und so sahen diese Fakten aus: Kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs lebten in Dörfern, in Provinz- und Großstädten in ganz Europa fast neun Millionen Juden. Sieben Jahre später waren in Polen, in Estland, Lettland, Litauen, in Deutschland und Österreich 90 Prozent dieser Juden verschwunden. In der Tschechoslowakei, wo die Familie meines Vaters seit bald 500 Jahren gelebt hatte, waren mehr als 85 Prozent der Juden nicht mehr da. In Griechenland, Holland, Ungarn, Weißrußland, in der Ukraine und in Belgien, in Jugoslawien, Rumänien und Norwegen war mindestens die Hälfte der vor dem Krieg dort lebenden Juden verschwunden, als er zu Ende ging.
In diesem Krieg waren 85 Millionen Menschen umgekommen, zum größten Teil im Kampf gefallene Soldaten, zu deren Gedenken überall in der Welt Hunderte von Denkmälern errichtet, Hunderte von Soldatenfriedhöfen angelegt wurden. Fünf Millionen Tote waren politische Gefangene, Widerstandskämpfer, Antifaschisten verschiedener Volkszugehörigkeit, Homosexuelle, Zigeuner, die von den Nazis ermordet worden waren. Sechs Millionen Juden hatte man umgebracht – zwei von je drei Juden in Europa. Diese elf Millionen Mordopfer haben keine Gräber gefunden. Man hatte sie vergast und anschließend verbrannt – auch meine Großmutter Helena, meinen Großvater Maximilian und deren Söhne, oder man hatte sie am Rand eines ausgehobenen Massengrabs erschossen – wie meine Großmutter Josephine und meinen Großvater Emil.
Ein Drittel der Juden entkam dem Schicksal, von den Deutschen ermordet zu werden. Manche von ihnen starben eines natürlichen Todes. Einige flohen in Gegenden Rußlands, die unbesetzt geblieben waren. Manche gelangten nach Westen, erreichten Häfen an der Atlantik- oder an der Mittelmeerküste und fanden schließlich nach Nord- und Südamerika, Australien, Palästina, Schanghai. An die 400.000 bis 500.000 Juden, die im besetzten Europa zurückgeblieben waren, hatten den Krieg in Zwangsarbeitslagern überlebt; oder in den Wäldern, wo sie sich kleinen Partisanengruppen anschlossen oder sich versteckt hielten – auch in Großstädten, wo sie sich mit gefälschten Papieren als Nichtjuden ausgaben oder monate-, ja, jahrelang in geheimen Verstecken – in Speisekammern, Speichern und Kellern – hausten. Nicht mehr als 75.000 Juden überlebten die Konzentrations- und Vernichtungslager, und zwei von ihnen waren meine Eltern.
Der Kasten, den ich in mir herumtrug, hatte einen Raum für meine Eltern. Dort hausten sie für sich – abgesondert von anderen menschlichen Wesen. Als Kind mußte ich die Zahlen der Opfer nicht kennen: Ich wußte, meine Eltern hatten einen Abgrund überquert, und sie hatten es allein getan. Ich war ihr erster Weggefährte, ein neues Blatt am Baum – und ich wußte, daß dieses Blatt die Essenz des Lebens sein mußte. Es unterschied sich vom Tod wie das Gute vom Bösen, wie die Gegenwart vom Vergangenen. Es bezeugte, daß die Macht des Lebens stärker war als die Gewalt der Vernichtung. Es war der Beweis dafür, daß sie selbst nicht gestorben waren. Die Tür, die in diesen abgesonderten Raum führte, war geheim; der Ort mußte wohl behütet werden.
Der eiserne Kasten war mit großer Umsicht konstruiert – so wie man, in der Schule waren wir darüber belehrt worden, Kernreaktoren baut. Ich dachte mir Bleiwände um das gefährliche Gehäuse, kreisförmig angelegte Kühlungsrohre, die mögliche Explosionen abschwächen, ja, überhaupt unwirksam machen konnten. All das war mit einer Metallhülle umgeben, und so vergrub ich es in mir. Das Gehäuse wurde zu einem dunklen Gewölbe, das immerzu Bilder, Worte, flüchtige Blicke meiner Eltern in sich aufnahm. Es sank tiefer hinab, je älter ich wurde. Endlich war es so angefüllt mit eingelagerten Dingen – Bildern, Worten, Blicken – daß es sich nicht mehr ignorieren ließ. Ich wußte, der eiserne Kasten mußte eines Tages ans Licht geholt, geöffnet und durchmustert werden: aber mittlerweile war er so eingemauert, daß es keinen Zugang mehr zu geben schien.
So entwickelte ich Strategien, um an das tief Verborgene zu gelangen; um die Festungen zu durchstoßen, die mir bei jedem Schritt, mit dem ich mich ihnen näherte, unüberwindlich schienen. Ich brauchte Gefährten, Menschen, die das gemeinsam mit mir zu unternehmen bereit waren, brauchte Stimmen, die mir sagten, all das, was ich da mit mir trage, sei Wirklichkeit, nicht grausige Phantasie. Meine Eltern konnten mir dabei nicht helfen; sie waren ja selbst ein Teil davon. Zu Psychiatern hatte ich kein Vertrauen; sie verfügten über noch mehr Namen für all das, als ich selbst schon ausprobiert hatte, um die Dinge zu umschreiben, zu verhüllen. Es mußte Menschen geben wie mich, die ebenfalls einen eisernen Kasten, ähnlich dem meinen, in sich herumtrugen. Es muß, so überlegte ich, eine über die Welt verstreute unsichtbare, stumme Familie geben.
Um halb sechs Uhr, nachdem die Mädchen den Boden gefegt hatten und nach Hause gegangen waren, saß meine Mutter allein in ihrem Atelier und zündete sich die 16. oder 17. Zigarette des Tages an. Sie stützte den Kopf in die geöffnete Hand und blickte hinaus auf die düsteren Etagenhäuser zu beiden Seiten der 67. Straße. So saß sie ein paar Augenblicke in dem einzigen Winkel unserer Wohnung, den sie für sich hatte.
Ein Regal voll alter Schuhkartons bildete die Trennwand zum Wohnzimmer, wo sie und Vater nachts schliefen. Die Kartons waren gefüllt mit Knöpfen und Reißverschlüssen, Ziermünzen, Elastik-bändern, Druckknöpfen und künstlichen Blumen, und alle in Mutters unleserlicher Handschrift beschriftet. Daneben lagen Stoffe: Satin, Wolle, Organza und glänzender Brokat für die Kundinnen aus Palm Beach. Ihre Schneiderpuppe stand in der Mitte des Raums neben der betagten Singer-Nähmaschine, ihrer ersten großen Anschaffung in den Vereinigten Staaten. Manche ihrer Prager Kundinnen waren vor ihr nach New York gelangt. Sie hatte sofort nach der Ankunft zu arbeiten begonnen.
Mutter blickte zu dem Porträt hinauf, das sie in einem mit Leder bezogenen Rahmen über ihren Zuschneidetisch gehängt hatte. Es war eine alte Photographie, sepiabraun, die das Gesicht einer Frau zeigte. Ein dunkler Pelzkragen umschmiegte ihre Wange und ließ die Haut sehr weiß erscheinen. Sie hatte dunkles Haar, starke Augenbrauen und traurige, glänzende Augen.
„Wer ist das?“, hatte ich wissen wollen, als ich drei war.
„Das ist Pepi“, sagte Mutter. „Großmutter Pepi.“
„Und wo ist sie?“
„Sie ist gestorben. Sie ist umgebracht worden.“
„Hat sie etwas Böses getan?“
Mutter war verblüfft. „Nein, die Deutschen, die waren böse. Sehr böse.“
„Wo ist sie?“
„Ich hab’ dir doch gesagt, daß sie gestorben ist“, sagte Mutter. „Ich weiß nicht, wo sie gestorben ist. Die Deutschen haben es mir nicht gesagt. So, und jetzt laß mich weiterarbeiten.“
Mutter hatte die Augen ihrer Mutter: dunkelbraun und von einer so geheimnisvollen Tiefe, daß man den Eindruck hatte, man könnte nicht auf den Grund blicken. Es waren lockende Augen, die einen in sich hineinzogen und den Wunsch weckten zu erfahren, was für ein Mensch sie gewesen war.
„Warum haben die Deutschen sie umgebracht?“
Mutter wußte nicht, was sie mir antworten sollte. Welche Gründe nannten andere Eltern? Warum mußte dieses Kind unaufhörlich Fragen stellen? Eine nach der anderen: „Wer hat die Nummer auf deinen Arm getan? Warum läßt du sie dran? Warum geht sie nicht ab? Hat es weh getan, als sie sie drangemacht haben? Warum hat Papi keine?“
Die Fragen machten Mutter zu schaffen und ebenso – wie auch Vater – die Antworten. Meine Eltern hatten sich vorgenommen, mich nicht mit ihren Erinnerungen zu ängstigen, aber lügen wollten sie nicht. Sie hatten nicht geahnt, wie groß die Neugier eines Kindes sein kann.
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Wenn Mutter nicht arbeitete, war sie meistens mit Lesen beschäftigt, und an den Samstagnachmittagen verbrachte sie drei Stunden am Radio und hörte sich die von Texaco finanzierte Opernsendung an. Doch ich erlebte nur selten, daß sie sich ein Vergnügen gönnte. Da Vater chronisch arbeitslos war, nähte sie die meiste Zeit. Sie schneiderte Mäntel und Kostüme für Mrs. Lewis, Mrs. Chauncey, Mrs. Glucken und die anderen Frauen, die sich auf die Betten meiner Eltern im Wohnzimmer setzten, in glänzenden Modejournalen blätterten, diskutierten, welche Möglichkeiten Ausschnitte und Säume boten, und sich kaum dafür interessierten, wer Mutter war und woher sie kam. Für die Kundinnen war sie eine Entdeckung, ein Flüchtling, eine gute Schneiderin mit – wie sie sagten – goldenen Händen.
Ihre Kundinnen in Prag, sagte Mutter, seien kultivierte Leute gewesen. In Amerika waren sie größtenteils weder von Familie noch von kultivierter
Lebensart. Die meisten bezahlten zwar ihre Rechnungen rechtzeitig – eine Frau allerdings, die Mutter 800 Dollar schuldete, hatte sich nach Yucatán aus dem Staub gemacht – doch nur wenige wußten zu schätzen, wieviel Geduld sie für sie aufbrachte. Sie plapperten über ihre Ehemänner und Liebhaber, über die schlechter werdende Qualität des Per-sonals fürs Haus in St. Thomas, die Schwierigkeiten, zu ihren Kleidern passende Hüte und Schuhe aufzutreiben. Hin und wieder vergaßen sie, wer meine Mutter war, und jammerten, daß New York „von Flüchtlingen überschwemmt“ werde oder daß ein bestimmter Makler versucht habe, ihnen „wie ein Jude das Fell über die Ohren zu ziehen“. Mutter ließ sich, wenn so etwas vorkam, nicht anmerken, was sie dachte. Wir hörten später beim Abendessen darüber. Am nächsten Tag kam dann eine telephonische Entschuldigung oder vielleicht ein paar Handschuhe aus dem Luxuskaufhaus Saks. Mutter ließ es nicht zu, daß sich zwischen ihr und den Kundinnen „Szenen“, wie sie es nannte, abspielten. Sie ließ sie die Gönnerinnen spielen, und wenn sie ins Theater oder die Oper eingeladen wurde, nahm sie an. Die Schecks der Kundinnen zahlten unsere Miete. Die Kundschaft, mochte sie sich auch noch so taktlos, lästig oder kränkend benehmen, sicherte den Lebensunterhalt.
Doch um halb sechs, wenn mein Bruder und ich ins Atelier stürmten, waren ihre Geduldreserven erschöpft. Sie drohte mit Ohrfeigen und verpaßte uns auch manchmal eine, daß die Haut brannte. Dann schickte sie meinen Bruder auf sein Zimmer und kommandierte mich in die Küche ab. Gegessen wurde um Punkt sechs, eine Verzögerung kam nicht in Frage. Die Vorstellung, daß man vorher vielleicht noch ein Nickerchen halten oder Cocktails trinken könnte, fand bei meinen Eltern keinen Anklang.
Wenn es auf sechs Uhr zuging, wurde in unserem Haushalt eine Spannung spürbar. Sie erinnerte an die Unruhe von Reisenden auf dem Weg zum Bahnhof oder zum Flugplatz: Wenn sie sich zuviel Zeit gelassen haben, wenn ihre Uhren stehengeblieben sind, wenn sie den Fahr- oder Flugplan falsch gelesen haben, bleiben sie auf ihren Koffern sitzen.
Während ich in der Küche den Tisch deckte, stand Mutter am Herd, schnitt Kartoffeln in Scheiben und bereitete das Fleisch zu. Sie zündete sich noch eine Zigarette und eine zweite an, hielt in der Arbeit inne und griff sich ans Kreuz oder stöhnte leise auf, wenn sie ein Bein zu lange einseitig belastet hatte und es in einem Krampf erstarrte. Sie war im Konzentrationslager verletzt worden, als ein Dach zusammengebrochen und ihr auf den Rücken gestürzt war. Seitdem litt sie an einem Bandscheibenvorfall. Manchmal, wenn sie sich durch die Küche schleppte, sagte sie, sie habe einen Darmkatarrh. Oder Migräne. Oder einen Muskelkrampf. Oder einen Anfall von Melancholie. An Melancholie hätten alle Frauen in unserer Familie gelitten, sagte sie. Meine Urgroßmutter sei aus einem Fenster im zweiten Stock gesprungen und dabei umgekommen.
Die Schmerzen waren ihr anzumerken. Sie entzogen der Haut das Blut, so daß Mutter noch bleicher aussah als sonst schon und die auf den einen Unterarm tätowierten blauen Ziffern förmlich zu glühen schienen. Ich beobachtete sie, wie sie Servietten faltete, Gläser, Silberbesteck und Teller herausholte. Ich sah, wie der Schmerz durch ihren Körper kroch, darin gefangen, von einer Region zur andern wechselnd, ungreifbar für die Spezialisten, deren Liste mit jedem Jahr länger wurde. Internisten, Neurologen, Osteopathen, Chiropraktiker, sogar Hypnotiseure hatten Mutter schon behandelt. Sie traktierten sie mit Extensionsbehandlungen und verschrieben ihr Mittel zum Einreiben, Tabletten, Injektionen, gymnastische Übungen, Diäten. Doch die Schmerzen wollten nicht weichen.
„Steh nicht herum wie eine dumme Ziege! Hilf mir, mich hinzusetzen!“, befahl sie mir mit angespannter, gequälter Stimme. Oder, schlimmer, sie sagte gar nichts. Dann stöhnte sie auf und verharrte in der Stellung, in die der Schmerz sie gebannt hatte, die Augen wie offene Wunden.
Ich unterbrach, womit ich gerade beschäftigt war, bot ihr einen Arm an, zog irgend etwas heran, worauf sie sich setzen konnte. Ich hatte keine Ahnung, was ihr geschah, wenn sie mitten in einer Bewegung erstarrte, unfähig, sich von der Stelle zu rühren. Ich war sieben Jahre alt, laut, frech, hyperaktiv, all das, was die Eltern meinten, wenn sie mich ein „amerikanisches Kind“ nannten. Daß Mutter, bei der im Konzentrationslager drei Jahre lang die Regel ausgeblieben war, ein so gesundes Kind zur Welt hatte bringen können, hatte in ihren Augen noch immer etwas von einem Wunder an sich.
Verwandte in Amerika hatten jeden Monat Päckchen mit Trockenmilch für mich nach Prag geschickt, gleichsam als Einzahlungen auf das Bankkonto eines neuen Lebens. In New York wurde ich mit Essen vollgestopft, mit Büchern, Malerei, Musik und Tanzstunden traktiert; ich mußte Schlittschuh- und Skilaufen, das Radfahren lernen, wurde in die Oper, in Konzerte, ins Theater mitgenommen – all das wurde aus einem Haushaltsbudget bestritten, das kaum für die Miete reichte. Für Mutter war ihr Kind mehr als ein neues Blatt am Baum. Ich konnte das Beste aus ihrer Vergangenheit zurückholen.
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Vater kam mit einem Wolfshunger heim, als hätte er seit Tagen nichts gegessen, während er doch tagtäglich drei rechtschaffene Mahlzeiten zu sich nahm. Er war 51, ein hochgewachsener, kräftiger, lebenszugewandter Mann mit den breiten Schultern und schmalen Hüften eines Wassersportlers. Seine Stirn war hoch, die Augen unter den buschigen Brauen blickten lebhaft in die Welt. In Prag war er Wasserballspieler gewesen und hatte lange Jahre dem Olympischen Nationalkomitee der Tschechoslowakei angehört. Er hatte sich die Statur eines Mannes bewahrt, der, längst aus der Konkurrenz ausgeschieden, weiter an einer sportlichen Lebensweise festhält. „Mens sana in corpore sano“, rezitierte er am Morgen, wenn er uns um sieben Uhr weckte, noch naß von seiner kalten Dusche, ein Handtuch locker um die Taille geschlungen. Er war 16 Jahre älter als Mutter, ein Mann, der in den Prager Restaurants selbstverständlich die besten Tische bekommen hatte und jetzt keine Arbeit finden konnte.
Vater nahm eine Stelle nach der anderen an. Er arbeitete in einer Versandabteilung, als Vertreter, als Buchhalter. Schließlich brachte ihm eine Nachbarin, deren Mann gestorben war, den Umgang mit der Zuschneidemaschine bei, die die beiden in ihrer T-Shirt-Firma verwendet hatten. Er wurde Zuschneider im Konfektionsviertel, wo er für andere Flüchtlinge arbeitete. Jeden Abend kam er aus den Betrieben in der 7th Avenue, wo Stoffetzen die Böden bedeckten, müde zurück, aufgebracht über den Schmutz und den groben Ton in der Untergrundbahn. Er kam mit einer zerknautschten New York Post eilig in die Wohnung geschritten, gab Mutter einen Guten-Abend-Kuß und stand dann als „Verkehrshindernis“ in der Küche umher.
„Was gibt’s zum Abendessen?“, fragte er auf tschechisch und zog, ohne die Antwort abzuwarten, die Kühlschranktür auf, nahm eine geöffnete Dose Sardinen oder einen Zipfel Salami heraus und begann zu schlingen, wobei er ein Stück Brot als „Unterlage“ benutzte. So stand er ein paar Augenblicke lang da, noch im Mantel, über die Anrichte gebeugt. Dann, offenbar gesättigt, wandte er sich uns mit einer seiner täglichen Anekdoten aus dem Konfektionsviertel zu und bot mir einen Schnitz Salami an.
„Ich bitte dich, Kurt“, unterbrach ihn Mutter. „In ein paar Minuten steht doch das Essen auf dem Tisch.“
„Ich bin hungrig. Ich hab’ den ganzen Tag gearbeitet“, antwortete Vater und kaute dabei so heftig, als wollte er zu verstehen geben, daß er ohne weiteres tot auf den Küchenboden sinken könnte, wenn ihm, dem Ausgehungerten, dieser Bissen vorenthalten bliebe.
Mutter schwieg. Sie zündete sich wieder eine Zigarette an, schob die Pellen der Salamischeiben, die auf der Anrichte lagen, zu einem Häufchen zusammen und warf sie in den Abfalleimer. Vater fragte mich, was ich in der Schule getan hätte, ob ich mich im Rechtschreibwettbewerb gut gehalten hätte. Wir lernten gemeinsam die englische Orthographie: ich in der Schule, er in dem Sprachkurs, den er abends besuchte. Er kam mit Passagen aus Shakespeare, mit Predigttexten und Sprichwörtern nach Hause und rezitierte sie, eine Hand in napoleonischer Geste auf der Brust, das Kinn nach vorne gereckt. Er sprach die einzelnen Silben der-art entstellt aus, daß der Sinn dessen, was er sagte, auf der Strecke blieb. „Ehr-ly to bed“, sagte er auf, „Ehrly to rise. Makes a man healthy, wealthy and wise.“
„Thommy! Gehst du dir die Hände waschen?“, rief Mutter hinaus.
„Ist Post gekommen?“, fragte Vater, womit er meinte, ob Schecks von Kundinnen eingetroffen seien.
Mutter schüttelte den Kopf und teilte das Fleisch aus. Wir aßen kalten Braten zum Frühstück, übriggebliebenes Fleisch zum Mittag- und Braten oder Stew oder Koteletts zum Abendessen. Als ich Mutter fragte, warum es bei uns nie Thunfischauflauf gebe wie bei anderen Leuten, sagte sie, sie hätte drei Jahre ohne Fleisch leben müssen, und das sei genug. Was der Supermarkt zu bieten hatte, fand keine Gnade vor ihren Augen. Sie kaufte im „Nevada-Fleischmarkt“, dessen Eigentümer ihre Tätowierung bemerkt hatten und anschreiben ließen, wenn sie ihre Einkäufe nicht bezahlen konnte.
Die Tätowierung war wie ein geheimnisvolles Flaggensignal. Manche Leute erröteten bei ihrem Anblick, wandten die Augen ab und murmelten sonderbare, wirre Sätze. Andere verhielten sich, als wäre Mutter eine Heilige. Ich sah sie auf die einen wie auf die anderen mit einem schroffen Stolz reagieren. Ihre Art, auch sonst schon brüsk, wurde abweisend. Sie zog zwischen ihnen und sich eine Mauer hoch.
„Thommy! Komm zum Essen!“, rief sie jetzt, wie ein Zugschaffner.
Vater saß bereits am Tisch, leicht vorn-übergebeugt, mit gesenktem Kopf. Er schlang das Essen so rasch hinunter, daß er überhaupt nicht zu kauen schien, und hob nur den Blick, um nachzusehen, was Mutter tat, warum sie sich noch nicht zu Tisch gesetzt hatte.
„Papa hat nicht immer so gegessen wie heute“, sagte Mutter manchmal zu mir. „Seine Familie hatte Lebensart. Sie hatten eine Köchin und Hauspersonal.“ Vater selbst wollte nicht einsehen, daß an seinen Eßgewohnheiten etwas Eigenartiges sei. „Wenn man sich zum Essen an den Tisch setzt, soll man essen und sonst nichts“, sagte er. „Das ist ja das Elend in Amerika. Alle wollen mit einem halben Hintern auf drei Hockern sitzen. Sie wollen beim Essen fernsehen. Sie wollen ein Buch dabei lesen. Sie wollen eine Debatte dabei führen!“ Als Mutter den Salat angemacht und sich zu uns gesetzt hatte, war sein Teller leer. Er ließ darauf nie auch nur den kleinsten Rest, nicht einmal einen Streifen Bratensoße, zurück.
Mutter setzte sich und füllte ihren Teller.
„Papi“, sagte ich.
„Ja.“ Er wischte sich das Kinn ab.
„Du bist schon fertig, und wir anderen haben noch gar nicht angefangen.“
Er warf Mutter einen Blick zu.
„Sei nicht frech zu deinem Vater“, sagte sie automatisch. Sie nahm den Teller meines Bruders und begann, das Fleisch darauf mit raschen Bewegungen in Stücke zu scheiden. Ihr Gesicht war angeschwollen, so wie es aussah, ehe sie zu weinen begann. Mein Bruder hielt den Blick auf die Tischplatte gesenkt. In der Küche herrschte Schweigen.
Vater nahm sich noch einmal Fleisch, aber wir spürten, daß sich ein Ausbruch zusammenbraute. Es brauchte nicht viel, daß er sich mit Leuten anlegte. Fast jeden Abend, wenn er von der Arbeit nach Hause kam, verkündete er, daß er zu irgend jemandem im Konfektionsviertel die Beziehungen abgebrochen habe. Ein Kellner hatte ihm die Suppe lauwarm serviert. Ein anderer Zuschneider hatte eine beleidigende Bemerkung über Flüchtlinge gemacht. „Und du, Izzy?“, hatte Vater geantwortet. „War dein Vater vielleicht Indianerhäuptling?“
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Obwohl wir nicht einmal in Umrissen eine Vorstellung davon hatten, woher Vater kam, erwartete er, daß wir uns benahmen wie die Kinder seinerzeit in Roudnice-nad-Labem (Raudnitz an der Elbe). Das hieß, daß wir ihn, wenn er von der Arbeit kam, an der Türe erwarteten, das Haar hinter die Ohren gebürstet, Hände und Gesicht sauber gewaschen, lächelnd, brav und gesittet. Wir sagten: „Guten Abend, Papi“, verzehrten unser Abendessen, badeten, und dann ging es ab ins Bett. Daß Mutter, die im Gegensatz zu ihm kein Personal hatte, zur Abendessenszeit erschöpft war, war für ihn rätselhaft.
Da er im Getto von Theresienstadt von seinen Angehörigen getrennt gewesen war, hatte er seine Mutter wie den allgemeinen Ton bei ihnen zu Hause idealisiert. Er hatte mir ihren Namen gegeben, und wenn ich diesem Vorbild, das ich selbst nie erlebt hatte, nicht entsprach, war er perplex und manchmal traurig. „Wie kannst du nur vor dem Frühstück pfeifen?“, tadelte er mich öfter. „So etwas hat Großmutter Helena nie getan. Weißt du denn nicht, daß eine junge Dame nicht pfeift? Du wirst einmal einen Verrückten zum Mann bekommen.“
Seine Ansprüche, sein frustrierendes Arbeitsleben in beengenden, schlecht gelüfteten Räumen und unser Benehmen führten häufig zu Kollisionen. Wenn er müde war, wenn Sorgen ums Geld oder Mutters Gesundheit seinen Optimismus zermürbten, brach oft in schrecklichen Emotionen sein Zorn heraus. Sein Gesicht lief dunkelrot an, und wenn er zu brüllen begann, war sein Grimm wie ein jäher Hagelsturm.
Um den Tisch herrschte tiefes Schweigen. Mutter begann zu essen. Ich aß. Mein Bruder rührte seinen Teller nicht an. Sein Mund, der nicht so sauber war, wie Vater es gerne gesehen hätte, stand offen, während er zur Decke hinauf- und dann auf den Boden blickte. Er spielte mit seiner Gabel, und wenn sie gegen das Glas mit der Schokomilch schlug, gab es ein schwaches Ping!
Vater blickte auf. Er holte Luft, seine Brust wurde breiter, als sie ohnedies war. Seine Schultern dräuten über dem Tisch. „Sag, worauf wartest du noch?“, wollte er wissen. „Glaubst du, das Essen bleibt ewig warm? Oder bist du dir zu gut für diese Sorte Fleisch? Vielleicht hättest du gern ein Filet Mignon?“
Die Augen meines Bruders wurden größer, während sich Vaters Stimme hob und sich in sein Tschechisch auch Kraftausdrücke mischten, deren Bedeutung wir mehr ableiteten als verstanden. „Hajzle!“ brüllte er, „Svine!“ Die Worte bedeuteten „Dreckskerl“ und „Sau“. Er schien in einer anderen Welt zu sein, gegen Menschen zu wüten, die wir nicht sehen konnten. Wenn wir uns nicht richtig benahmen, diente dies nur als Auslöser für einen Grimm, der immer da war, in sein Inneres eingesperrt, wie es bei Mutter die Schmerzen waren. Sobald das Schloß geöffnet war, schoß er wie ein wütender Lavastrom aus ihm heraus, unmöglich zu bändigen.
„Starr mich nicht an wie ein Schwachkopf! Iß!“
„Kurt, hör auf damit!“, meldete sich Mutter, ebenfalls auf tschechisch und in schrecklich leisem, doch scharfen Ton.
„Verzogene Bälger!“, murmelte Vater, und eine Sekunde lang herrschte Stille.
Mein Bruder ließ die Gabel fallen und verspritzte Bratensoße auf dem Tisch.
„Schweine! Ihr eßt wie die Schweine in einem Schweinestall – nicht wie Kinder aus guter Familie. Du solltest dankbar sein, daß du Fleisch essen kannst, und statt dessen stocherst du auf deinem Teller herum. Bälger! Wißt ihr, was wir für ein solches Essen gegeben hätten?
700 Kalorien pro Tag haben wir bekommen! Und wir haben den Tag nicht in der Schule zugebracht.“
„Kurt!“, sagte meine Mutter.
„Unterbrich mich nicht. Als ...“
„Ich halte das nicht mehr aus!“, überschrie sie ihn. „Jedesmal beim Abend-essen! In diesem Haushalt geht es beim Abendessen nicht ein einziges Mal friedlich zu! Immer muß es eine Szene geben! Du kannst keinen Tag deines Lebens vergehen lassen, ohne durchzudrehen!“
Auch sie schien von etwas gepackt worden zu sein, das mit uns beim Abendessen in der Küche in New York nichts zu tun hatte. Ihr Unterkiefer spannte sich, um die Augen erschienen rote Ränder. Sie stöhnte auf, als ein Schmerz ihren Rücken durchzuckte. Dann brach sie in Schluchzen aus und lief aus der Küche.
Mein Bruder und ich saßen reglos da. Wir horchten auf die Geräusche, die Mutter machte, als sie ins Bad rannte, die Tür hinter sich schloß und absperrte. Auch Vater verließ die Küche.
Für mich hatte der Teil, der mich wirklich ängstigte, erst begonnen. Die Stille war wie ein großes, tiefes, offenes Loch, in das ich fallen konnte, wenn ich mich nicht vorsah. Es kam oft vor, daß Vater auf diese Weise verschwand. Dann blieb er mitten in einem Satz stecken, und in seine Augen trat ein unbestimmter Blick. Die Unterlippe sank herab, er war nicht mehr zu erreichen. Ich tippte ihn auf die Schulter oder rief seinen Namen – vergebens. Für mich stand fest, daß er in jener Welt sepiabrauner Photographien war, unter all den Menschen, die in dem Kuvert in seinem Schreibtisch lebten.
Mutter bewegte sich nicht so leicht aus einer Welt in die andere. Ihre Abgänge und Auftritte waren theatralisch, schrill und voll von mühsam unterdrückter Bewegung. All der Grimm, den Vater an Taxifahrern, Bankkassierern und anderen Leuten ausließ, wandte sich bei meiner Mutter nach innen. Er schwärte in ihr und kam erst heraus, wenn sie sich stundenlang im Badezimmer verbarrikadierte und durch die versperrte Tür ein immer wieder unterbrochenes Gespräch mit mir führte.
Dort postierte ich mich nach einer Explosion – mit Vorwänden, um sie zum Sprechen zu bringen, Maskierungen meines Bedürfnisses nach tröstendem Zuspruch.
„Mammi? Ich brauche jemanden, der mich abhört, weil ich morgen in Sozialkunde ausgefragt werde.“ Oder: „Mammi? Der Kühlschrank ist undicht.“ Wenn es in der Wohnung etwas zu reparieren gab, besorgte sie, nicht Vater, das. Als in Auschwitz die Gefangenen selektiert worden waren, zur Arbeit oder zum Sterben, hatte sie als Beruf nicht Schneiderin, sondern Elektrikerin angegeben. Sie war am Leben geblieben, weil sie behauptete, sie könne Stromleitungen reparieren, und hatte es darin zu einer solchen Geschicklichkeit gebracht, daß sie nun nur selten einen Handwerker zu rufen brauchte. „Mammi?“
Sie gab keine Antwort. Hinter der verschlossenen Türe war kein Geräusch zu hören. Im Bad hing ein Arzneischränkchen, vollgestopft mit Pillenfläschchen, Tablettenröhrchen, vergilbten Rezeptetiketten und ein paar Injektionsnadeln, die ein Arzt ihr gegeben hatte. Mutter kannte ihre Pillen auf Anhieb. Ich kannte mich mit ihnen so gut aus wie mit den Süßigkeiten in der Apotheke, in die ich jede Woche geschickt wurde. In dem Schränkchen waren Darvon, Morphium, Butazolidin. Wie der Fleischer ließ uns auch der Apotheker anschreiben.
„Mammi?“ Ich berührte mit den Fingerknöcheln die Türe.
„Laß mich in Ruhe. Ich will allein sein.“
„Geht es dir gut?“
Mutter weinte. „Ich will nicht weitermachen. Ich kann das nicht mehr ertragen.“
Ich horchte angestrengt. Durch Lauschen, dachte ich, könnte ich irgendwie die Schmerz aus ihr heraussaugen. Sie würden aus ihrem Körper in meinen übergehen und nachlassen, weil sie geheilt wurden. Sonst, dachte ich, würden sie Mutter eines Tages umbringen.
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Was blieb mir anderes übrig, als nach alledem, was sie durchgemacht hatten, ein glückliches, gesundes, braves Mäd-chen zu sein? Vater wurde ärgerlich, wenn ich mich hängenließ oder traurig war, genauso wie es ihn aufbrachte, wenn mein Bruder oder ich hinfielen und uns die Knie aufschürften. „Nach dem Krieg hab’ ich drei Ziele gehabt, wo mir ganz wichtig waren“, sagte mein Vater oft. „Erstens Freiheit. Dann Gesundheit. Und das dritte war Zufriedenheit. Ich wollte, mein Kind sollte in einem freien Land leben und nie das durchmachen, was sie mit mir gemacht haben.“
Mir war es unangenehm, wenn Vater solche Dinge sagte. Er sagte sie immerzu, zu jedem, der bereit war, zuzuhören. Er sprach laut, emphatisch und in einem so eigenartig rhythmisierten Englisch, daß es sich anhörte, als spräche er tschechisch. Ich wollte nicht hören, daß mein Vater im Gefängnis gewesen war, daß andere Männer ihn bespuckt, getreten, geprügelt hatten. Er erwähnte diese Dinge nicht, aber wir wußten sie trotzdem. Das Aussehen seiner Füße, die gelblichen Zehen, die deformierten Nägel, seine Art zu essen, auf Forderungen zu reagieren – all das sagte mehr als Worte. Wie hatte Vater, dieser große, starke Mann, sich so etwas gefallen lassen können. Und wie konnte er auch noch anderen Leuten davon erzählen?
„Als wir in Auschwitz angekommen sind“, erzählte Vater, „sind wir aus dem Zug gestiegen, und ich bin zu Dr. Mengele hinmarschiert, der gerade selektiert hat. Er hat hin und wieder eine Frage gestellt und ‘rechts’ oder ‘links’ gesagt, aber wir haben nicht gewußt, was das bedeutet. Als ich vor ihm stand, fragte er mich: ‘Sind Sie wirklich gesund?’ Weil ich nach einer Krankheit war und mitgenommen wirkte. Ich habe gesagt: ‘Jawohl!’, worauf er mich auf die gute Seite geschickt hat. Von 1.500 Menschen sind gerettet worden 300. So habe ich die erste Prüfung bestanden. Es waren drei Gruppen. Die erste ist in die Grube gegangen, niemand davon zurückgekommen. Die dritte Gruppe, keiner ist zurückgekommen. Die zweite, die, wo ich dabei war, 69 Leute kamen zurück. Sie sehen...“
Dabei lächelte Vater und entblößte die Zähne, an denen die Verfolgung ihre Spuren hinterlassen hatte. „Immer wieder seitdem habe ich überlegt, was es war, ob es ein sechster Sinn, ob es Gott, ob es eine Vorsehung gewesen ist. Denn daß ich hier stehe und Ihnen davon berichten kann, das ist durch eine Entscheidung von mir, im Bruchteil einer Sekunde.“
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Wenn ich morgens zur Schule ging, bewegten mich keine Fragen. Ich fragte mich nicht, warum anständige Menschen umgebracht oder eingesperrt wurden, obwohl sie nichts Unrechtes getan hatten. Ich fragte mich nicht, warum wir kein Geld hatten, obgleich meine Eltern früher doch sehr wohlhabend gewesen waren. Ich dachte nicht darüber nach, woher sie gekommen waren oder warum sie von dort hatten fortgehen müssen.
Die Landschaft der Vergangenheit meiner Eltern war so weit und so leer wie die Welt der griechischen Tragödien, die wir in der Schule lasen. Die kleinen Alltäglichkeiten des Lebens, die ineinander übergehenden Episoden des Erwachens und Frühstückens, wenn man sich erkältet, eine Süßigkeit kauft, zu spät nach Hause kommt oder sich in einen Lehrer verliebt, all dies fehlte in ihren Schilderungen. Bei jeder Geschichte, die sie erzählten, ging es um Treue oder Verrat, Leben oder Tod.
Nichts, was mich aufregte – daß mein Freund mit einem anderen Mädchen tanzen gegangen war oder daß etwas, womit ich fest gerechnet hatte, ausblieb oder daß mir eine Hausaufgabe schleierhaft war –, war wichtig im Vergleich zu den ‘Aufregungen’, die meine Eltern erlebt hatten. „Ach, weißt du, es ist schon Schlimmeres geschehen“, sagten sie. Und ich sah den Krieg wie eine große Flutwelle in die Luft steigen, vor der mein Kummer zu einer Lappalie wurde.
Ich fragte mich, ob ich jemals in meinem Leben irgend etwas zustande bringen könnte, das auf der grandiosen, heroischen Bühne der Vergangenheit auch nur einen kleinen Eindruck hinterlassen würde. Mutters Seufzer und Sarkasmen, Vaters Sorge um unsere Gesundheit und sein Drang nach frischer Luft wie auch seine Entgleisungen, seine starr in die Ferne gerichteten Blicke, die Erzählungen am Picknick-Tisch, all dies brachte mein Inneres zum Glühen. Mein eiserner Kasten wurde dann zu einem Glutofen, der Energie erzeugte und brennenden Grimm. Manchmal, wenn ich ihn in mir brennen fühlte und es nichts gab, was die Hitze ableiten konnte, suchte ich Streit. Mutter erzählte mir, man habe mich aus dem Kindergarten nach Hause geschickt, weil ich über ein anderes Kind hergefallen sei. Und auch mit meinem Bruder trug ich noch im Heranwachsendenalter leidenschaftliche Kämpfe aus, mit Fäusten und allem, was einem in die Hand kam. Einmal schlug ich ihm in unserer Küche mit so eindeutigem Vorsatz den Telephonhörer auf den Kopf, daß ich mich noch jahrelang verblüfft daran erinnerte. Ich wollte töten.
Mutter konnte es nicht ertragen, wenn sich ein Zornausbruch gegen sie richtete. Dann nahm sie ihre Zuflucht zu
Tränen oder schickte uns auf unsere Zimmer, wo wir unsere Wut an die vier Wände schreien konnten. Schon gewöhnliches Kabbeln, wie es zwischen beinahe allen Geschwistern vorkommt, entnervte Mutter wie Vater. Sie konnten es nicht aushalten. Wenn wir uns über kleine Dinge stritten, Dinge, die uns beiden nicht sehr wichtig waren, griffen unsere Eltern – selbst aufgebracht – oft ein. Es war, als müßte unsere Energie unter einem Deckel gehalten werden, weil sie außer Kontrolle geraten könnte.
Ich spürte, wie sie sich in mir zusammenpreßte wie eine Sprungfeder, sich so aufstaute, daß mich manchmal die Beine schmerzten. Ich ließ sie heraus, indem ich rannte, redete, aufs Klavier hämmerte, irgendwelche Dinge machte. In der Schule. Aber ich hatte so viel davon.
Hin und wieder kam es mir vor, als gehörte mein Leben nicht mir selbst. Hunderte Menschen lebten durch mich, Menschen, deren Leben von den Verfolgern abgeschnitten worden war. Meine beiden Großmütter, deren Namen ich trage, lebten durch mich fort. Auch unsere Eltern lebten durch mich. Sie sahen in meinem Leben die Jahre nachgeholt, die sie in Lagern und durch die Auswanderung nach Amerika verloren hatten. Mein Leben, dache ich als Kind oft, ist nicht einfach nur ein anderes Leben, es ist ein Auftrag, etwas Zugewiesenes. „Jeder von euch ist ein Wunder“, pflegte meine Mutter über die Kinder der Leute zu sagen, die sie in den Lagern gekannt hatte. „Keinem einzigen von euch war es zugedacht, geboren zu werden.“
In der High-School, wo die meisten meiner Freundinnen davon träumten, eine gute Partie zu machen, im Beruf Erfolg zu haben oder einmal reich zu sein, daß sie sich chic ausstaffieren konnten, träumte ich von Möglichkeiten, zu leiden, mich Schmerzen auszusetzen, Schmerz zu fühlen und zu bezwingen.
Helen Epstein