Billigmilch: Die Kühe zahlen den Preis!
"Eine Kuh kalbt!“ rief meine Großmutter in einem aufgeregten Ton, den ich gar nicht von ihr kannte. „Hol schnell heißes Wasser! Und saubere Tücher!“ Der Warmwasserhahn war im Haus, die Kuh im Stall gegenüber – eine weite Strecke für ein kleines Mädchen, das Mühe hat, einen vollen Zehn-Liter-Eimer überhaupt anzuheben. Wir waren allein zu Haus, die Großmutter und ich, und der Tierarzt ließ auf sich warten. Wir konnten nichts machen. Immerhin, das warme Wasser stand bereit.
Das war lange vor 1979, dem schrecklichen Jahr, in dem mein Vater alle unsere Kühe an einen Schlachthof verkaufte, darunter meine Lieblingskuh Olga. Ich erinnere mich noch so gut an diese kleine Szene, weil es der erste Tag war, an dem ich spürte, dass ich Verantwortung trug. Dass ich, obwohl ich noch so klein war, meiner Großmutter helfen musste. Ich war sehr stolz damals.
Wenn man Bäuerinnen und Bauern fragt, was Landwirtschaft für sie ausmacht, antworten fast alle: Dass wir als Familie zusammen leben und arbeiten. Der Bauernhof ist kein Arbeitsplatz, sondern eine Lebensaufgabe. Ich glaube: Es ist dieses Gefühl, was Zehntausende von Milchbauern und -bäuerinnen so verzweifelt und so hartnäckig um ihre Existenz kämpfen lässt.
Die traditionelle naturnahe Landwirtschaft ist so gut wie ausgestorben
Mein Vater hat sich damals dagegen entschieden. Meine Mutter arbeitete als Lehrerin, auf die Dauer war die Arbeit im Kuhstall allein nicht zu bewältigen, und schon in den Siebzigern zeichnete sich ab: Wer weitermachen will, der muss investieren, intensivieren und sich spezialisieren. Die traditionelle naturnahe Landwirtschaft starb damals aus. Das war das Ende der Bullerbü-Landwirtschaft, der Idylle meiner Kindheit. Und der Beginn der Industrialisierung der Landwirtschaft, die den Landwirten zwar hohe Erträge gebracht hat – aber kein sicheres Einkommen.
Heute sind die Erzeugerpreise so niedrig, dass Milchproduktion ein Verlustgeschäft ist. Eines, das man unter ökonomischen Aspekten sofort einstellen müsste. (Für einen Liter Milch fallen Produktionskosten von 44 Cent an - verkauft wird der Liter für 32 Cent.) Und doch halten die meisten der Milchbetriebe durch. Sie machen noch mehr Überstunden, obwohl sie ohnehin schon jeden Tag sehr lange im Stall sind und keine Feiertage kennen, sparen, wo sie können. Sie nehmen sogar Kredite auf, um Futter für ihre Kühe zahlen zu können.
Es ist zu viel Milch auf dem Markt, so lapidar lautet die Diagnose der Ökonomen, ein paar Prozent nur, doch diese Prozente bringen Milchproduzenten weltweit in Existenznot.
Die europäischen Agrarpolitiker können sich nicht dazu durchringen, die Milchmenge wieder zu begrenzen – so wie es viele Milchbauern-Vereinigungen in Europa immer wieder fordern. Die Bauern fühlen sich allein gelassen, denn von den versprochenen Millionen Soforthilfe kommen, auf die einzelnen Betriebe umgerechnet, knapp tausend Euro auf jedem Hof an, wenn überhaupt – nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein.
Eine Milchpreiskrise jagt die nächste - aber die Milchmenge wird nicht begrenzt
„Das ist keine Lösung“, findet die ostfriesische Milchbäuerin Karin Mansholt, Teamleiterin im Bundesverband deutscher Milchviehhalter (mit dem etwas unglücklichen Kürzel BDM). „Wir müssen einfach weniger Milch produzieren.“ Bis zur ersten Milchpreiskrise hätte Karin Mansholt nie von sich gedacht, dass sie einmal 500 Milchbetriebe aus Ostfriesland in einem politischen Kampf vertreten würde. Sie war technische Zeichnerin bei der Bundeswehr, heiratete einen Milchbauern und war sofort mit Leidenschaft auf dem Hof dabei. Dann fielen 2009 die Milchpreise zum ersten Mal unter die Produktionskosten und Karin und ihr Mann schlossen sich dem BDM an, der auf die Not der Betriebe aufmerksam machte und vorschlug, die Milchmenge in Krisenzeiten zu begrenzen, um die Preise zu heben.
Die Familie Mansholt hat sich am Milchstreik beteiligt, vor dem Kanzleramt gezeltet und in Ostfriesland Milch im Güllewagen versprüht. „Lebensmittel auf den Acker – wenn man das als Landwirtin sieht und weiß, diese Milch ist nichts mehr wert, dann tut das weh“, erzählt sie. „Aber es musste gemacht werden, es musste ein Zeichen gesetzt werden!“
Die Milchbauern wählten sie, die am liebsten mit „Zahlen, Daten und Fakten“ überzeugt, zur Teamleiterin Ostfriesland und in den Beirat des Bundesverbands. Das ist ganz untypisch für die Landwirtschaft, wo sich die Frauen traditionell bei den Landfrauen engagieren und die Männer im Bauernverband für Agrarpolitik in ihrem Sinne lobbyieren. Gegen dessen Weigerung, die Milchmenge zu begrenzen, kämpft Karin Mansholt nun mit ihrem Verband, dem BDM. „Jetzt in der Krise empfehlen die Berater, den Kühen mehr Kraftfutter zu geben oder sie sogar dreimal am Tag zu melken, um die Milchmenge zu steigern. Das kann korrekt sein für den einzelnen Betrieb, aber für den Markt eine Katastrophe“, sagt Karin Mansholt. „Das kommt als Bumerang zurück, weil die Preise noch weiter fallen werden.“
Nicht als Milchmaschinen ausgebeutet können Kühe 20 Jahre alt werden
Das Tragische ist: Die Misere der Milchbauern ist eine Folge ihres eigenen Erfolgs. In den letzten Jahrzehnten ist es der Branche gelungen, Kühe zu züchten, die immer mehr Milch geben. So viel, dass die Preise sinken. Die Milchwirtschaft hat sich an den Prinzipien der Industrie orientiert: Intensivierung und Spezialisierung und Standardisierung. Und Leistungssteigerung durch Effizienz. Und die Milchkühe mussten das mit sich machen lassen.
Viele Milchbauern und -bäuerinnen sind sehr stolz auf diesen Erfolg: Die Kühe ihrer Großeltern gaben 3.000 Liter Milch pro Jahr, sie selber bringen es auf einen Stalldurchschnitt von über 10.000 Litern.
Doch dieser Fortschritt hat viele Landwirte auch geblendet. Er hat sie vergessen lassen, dass Landwirtschaft etwas anderes ist als Industrie und dass Kühe nicht so manipulierbar sind wie Automobile. Sie haben unvorstellbar leistungsfähige Kühe gezüchtet – und viel zu lange ignoriert, dass diese Hochleistungsmilchmaschinen früh kollabieren.
Im Durchschnitt werden Milchkühe in Deutschland nur knapp drei Jahre gemolken, schon mit vier, fünf oder sechs Jahren werden sie geschlachtet. Dabei können Kühe bis zu zwanzig Jahre alt werden.
Zu lange haben sich die Züchter auf die Jahreshöchstleistungen konzentriert und nicht auf Langlebigkeit und Robustheit. Sie haben Spezialistinnen für Milch gezüchtet, die alle ihre Energie ins Euter geben und dabei selbst unnatürlich dünn bleiben. Einnutzungsrassen nennt man solche Tiere. Der Vorteil: Sie geben viel Milch. Der Nachteil: Ihre männlichen Kälber, die zu langsam und zu wenig Fleisch ansetzen, sind beinahe ebenso überflüssig wie die Brüder der Legehennen, die millionenfach geschreddert werden. Auf den ersten Blick sehen die modernen Milchkühe gar nicht anders aus als die Kühe in unserem Stall damals, beide Rassen sind schwarz-weiß gefleckt. Doch die alten Niederungsrinder bei uns, die beinahe ausgestorben wären, waren klein und rund, sie gaben Milch und setzten auch Fleisch an. Die Milchkühe heute – Holstein-Friesian heißt die Rasse – sind viel größer und knochiger, und sie haben riesige Euter.
10.000 Liter Milch kann eine Kuh im Jahr produzieren. Doch um welchen Preis?
Die gigantischen Milchmengen, die sie produzieren, blenden viele Landwirte. Sie wollen nicht hören, was Kritiker wie der emeritierte Berliner Professor Holger Martens immer wieder anmahnen: Sehr viele Milchkühe sind krank! Martens hat sich durch Berge von Studien und Statistiken gearbeitet und warnt, dass die Kühe dem Leistungsdruck nicht dauerhaft gewachsen sind. Sie geben mehr Milch, als sie an Energie mit dem Futter überhaupt aufnehmen können. Die Kühe mobilisieren alle ihre Reserven, um ihre Kälber auch in Notzeiten durchzubringen. Doch das nutzt die Melkmaschine gnadenlos aus: Ein hungriges Kalb wäre mit ein paar Litern gesättigt, doch die Melkmaschine nimmt, was sie bekommen kann: 20, 25 Liter morgens und abends noch einmal so viel. Und das macht die Kuh anfällig für Stoffwechselkrankheiten, Euterentzündungen, Lahmheiten und Fruchtbarkeitsstörungen. Das Kraftfutter greift die Mägen der Grasfresserinnen an. Deshalb werden so viele so früh zum Schlachter geschickt.
Die Familie Mansholt hat sich für ein anderes Modell entschieden: Sie setzt wieder Deutsche Niederungsrinder ein, also genau die Rasse, die auch mein Vater damals im Stall hatte. „Das sind Zweinutzungsrinder, die Milch geben und Fleisch ansetzen und sehr robust sind.“ Mansholt ist keine Bio-Bäuerin, aber eine mit eigenen Qualitätsansprüchen: Gentechnisch verändertes Futter kommt ihr nicht auf den Hof.
Und sie bleibt dabei: „Die Milchmenge muss runter!“ Es frustriert sie sehr, dass die Politik diese Forderung nicht umgesetzt hat und vor allem die konservativen Agrarpolitiker weiter verkünden, der Markt werde es regeln.
Doch ans Aufgeben denkt sie nicht. Das ginge nicht. „Wir haben unseren Betrieb von unseren Kindern und Enkelkindern nur geliehen“, sagt Karin Mansholt. „Und bei uns ist die nächste Generation schon am Start. Mein Enkel ist gerade fünf geworden und da zeichnet sich schon ab, dass der Tiere und Trecker mag.“ Egal, wie der Kleine sich entscheidet: Der Hof und die Herde, das ist mehr als ein Arbeitsplatz.
Tanja Busse