Alice Schwarzer schreibt

Die Künstlerin ist anwesend

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Die Künstlerin ist anwesend. Und wie. Über 460 Seiten erlaubt sie uns einen direkten Blick in ihr Leben. In ihr Werden, Arbeiten, Lieben. Sie stellt sich uns, ihren LeserInnen, und spricht uns manchmal sogar direkt an: „Sie erinnern sich? Das hatte ich Ihnen schon erzählt.“ Keine Sorge, Marina, wir ermatten nicht. Wir folgen dem Abenteuer deines Lebens atemlos bis zur letzten Zeile.

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Marina Abramović beginnt beim 30. November 1946 in Belgrad, dem Tag ihrer Geburt. Und sie hört keinesfalls auf bei ihrer bisher berühmtesten Performance, „The artist is present“ im Jahr 2010 in New York. Nein, sie geht bis Anfang 2016 – und macht klar, dass es weitergehen wird, mit der Arbeit und mit der Liebe.

Marina ist schon längst eine bekannte Künstlerin, da lebt sie noch bei ihrer Mutter

Marina ist die Tochter von Partisanen, von Helden des Widerstands. Die Eltern retten sich gegenseitig das Leben im Kampf und machen sich dasselbe zur Hölle in der Ehe. Der charmante Vater betrügt die Mutter, bis die die Nerven verliert – und er einen Vorwand hat zu gehen. Donica, Marinas Mutter, eine tüchtige elegante Frau großbürgerlicher Herkunft und kommunistischer Überzeugung, konzentriert sich fortan auf ihren Beruf, das Vergöttern ihres Sohnes und die Kontrolle ihrer Tochter. Zum Glück ist da noch die emotional starke Großmutter, so gläubige wie abergläubische Katholikin. Als Marina schon längst eine bekannte Künstlerin ist, lebt sie noch bei ihrer Mutter. Bis 29. Und ist abends pünktlich um 22 Uhr zuhause, so wie die Mutter es verlangt.

"Rhythm 0", Neapel 1974, Tisch mit 72 Objekten. Foto: Donatelli Sbarra
Rhythm 0, Neapel 1974, Tisch mit 72 Objekten. Foto: Donatelli Sbarra

Doch dann explodiert sie. Es sind die 1970er Jahre. Die unangepasste, unvermarktbare Performance-Kunst steht in heller Blüte. Abramović geht bis zum Äußersten und riskiert nicht selten ihr Leben für die Kunst. Zum Beispiel, als sie sich in Belgrad in einen um sie herum brennenden Stern legt, das Bewusstsein verliert und beinahe verbrennt. Oder als sie 1973 in Edinburgh ihre Performance Rhythm 10 macht, bei der sie sich in steigender Geschwindigkeit ein scharfes Messer zwischen die – rasch blutenden – Finger hackt. Und als sie 1974 in Neapel sechs Stunden lang stumm in einer Galerie posiert und die Menschen aufgefordert sind, mit den bereitliegenden 75 Utensilien – von der Rose über ein Messer bis zur geladenen Pistole – mit ihr zu machen, was sie wollen. Einer zieht ihr die Bluse aus. Ein anderer kann nur im letzten Augenblick daran gehindert werden, sie zu erschießen.

1975 begegnet Abramović in Amsterdam dem deutschen Fotografen Ulay. Der Mann, der eine Hälfte seines Gesichtes geschminkt hat wie eine Frau, und die andere Seite trägt wie ein Mann, wird zur anderen Hälfte der Partisanentochter. Die beiden leben und arbeiten zwölf Jahre zusammen, davon vier Jahre in einem ausgebauten Bus und quasi ohne einen Pfennig.

In ihren Performances, in denen beide oft nackt sind, laufen sie aufeinander zu oder voneinander weg, knallen gegen Hindernisse oder spannen zwischen sich Pfeil und Bogen. Der Pfeil ist dabei auf sie gerichtet. Das hätte ihr zu denken geben müssen.

Die letzte gemeinsame Performance der beiden ist der mit ­unvorstellbaren bürokratischen und natürlichen Hindernissen ­gepflasterte Weg über die chinesische Mauer. 90 Tage lang. Jeder rund 2000 Kilometer. Sie kommt von Osten, er von Westen – in der Mitte wollen sie sich treffen und heiraten. Aber stattdessen trennt er sich von ihr. Marina ist ihm wohl zu stark geworden. Das wird ihr später noch einmal passieren. Auch der schöne Paolo verlässt sie nach zwölf Jahren, um sein „Ich wiederzufinden“.

Das erschüttert Marina tief, aber macht sie in der Arbeit letztendlich nur unabhängiger und stärker. Der Schmerz ist ihr lebenslanges Motiv. Und er scheint so groß zu sein, dass sie ihn oft nur mit selbstzugefügten Schmerzen übertönen kann.

Marina Abramović ist, so leidenschaftlich wie diszipliniert, ­lebenslang auf der Suche nach Selbsterkenntnis und Unfassbarem: bei den Aborigines in Australien, den Lamas in Tibet oder den Schamanen in Brasilien. Dort zieht die Hyperaktive sich in Stille und Besinnung zurück.

Heute lebt Marina Abramović in New York, ist Teil der angesagten Kunstszene und hat ein Performance-Institut gegründet. Als Lehrerin will sie diese so existenzielle aber flüchtige Kunst festhalten und weitergeben. Eine ihrer letzten Schülerinnen war Lady Gaga. Auch die hat unter Marinas Regie vier Tage lang gehungert und geschwiegen – auf der Suche nach den Wurzeln des Schmerzes, der Revolte und der Kraft.

Am 30. November ist Marina Abramovic 70 Jahre alt geworden.

Alice Schwarzer

Mehr zum Thema
Marina Abramovic: Durch Mauern gehen. Ü: Charlotte Breuer/Norbert Möllemann (Luchterhand, 28 €).

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Die Guerrilla Girls attackieren

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Die Guerrilla Girls fanden heraus, dass im Ludwig nur jedes achte Kunstwerk von einer Frau ist. (Außerdem ­befindet sich genau ein Kunstwerk eines Türken in der Sammlung). Ein paar Stunden vor Beginn ihrer Performance kamen Frida Kahlo und Käthe Kollwitz – so nennen sich diese beiden Guerrilla Girls – in den Bayenturm am Rhein, wo das feministische Archiv FrauenMediaTurm (FMT) und die EMMA residieren. Die New Yorkerinnen waren „overwhelmed“ vom „Frauenturm“, wie der mittelalterliche Wehrturm heute im Kölner Volksmund heißt. Und sie konnten kaum fassen, wie viele feminis­tische Avantgardekünstlerinnen im FMT archiviert sind, darunter – die Guerrilla Girls.  (....)

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