Denkmal für Physikerin Lise Meitner
Als junge Frau machte sie sich zur Maxime, das Leben müsse nicht leicht sein, solange es nur nicht leer sei. Ihr 90jähriges Leben war in der Tat weder leicht noch leer: Die Kernphysikerin Lise Meitner war nicht nur eine Pionierin des Frauenstudiums. Ihre 30jährige Zusammenarbeit mit dem Chemiker und späteren Nobelpreisträger Otto Hahn führte zu einer der folgenschwersten Entdeckungen der modernen Wissenschaften: der Spaltung des Atomkerns.
1878 wird Lise Meitner als drittes von acht Kindern einer hochgebildeten jüdischen Rechtsanwaltsfamilie in Wien geboren. Bevor sie allerdings ihrem für eine "höhere Tochter" ungewöhnlichen - Herzenswunsch nachgehen darf, sich mit dem "Naturgeschehen und dessen Ursachen" zu befassen, legt sie auf Wunsch ihrer Eltern das Lehrerinnenexamen in Französisch ab ("Für alle Fälle"). Dann bereitet sie sich auf die externe Matura an einer Knabenschule vor, in zwei Jahren konzentrierter Arbeit acht Jahre Gymnasialbildung nachholend; an Mädchengymnasien war noch nicht zu denken. Nur vier von vierzehn weiblichen Prüflingen bestehen das schwere Examen, das ihnen die Tür zur Universität öffnet.
Lise Meitner belegt Physik, Mathematik und Philosophie an der Wiener Universität. Die Vorlesungen Ludwig Boltzmanns begeistern sie für "die Schönheiten der theoretischen Physik". Auch als Experimentatorin beweist sie Talent: Über "Wärmeleitung in inhomogenen Körpern" promoviert sie 1905 als zweite Frau an der Wiener Universität im Hauptfach Physik.
Schon ein paar Monate später erscheint in den "Sitzungsberichten der Preußischen Akademie der Wissenschaften" ein Artikel von ihr - diesmal über ein Problem aus der Optik. Im gleichen Jahr ihre erste "radioaktive" Arbeit über die Absorption von alpha- und beta-Strahlen. Es sind genau zehn Jahre vergangen, seit in Deutschland Mädchen offiziell zum Abitur zugelassen wurden.
Die wissenschaftlichen Erfolge geben ihr Mut zu der wiederum ungewöhnlichen Bitte an ihre Eltern, ihr einen Forschungsaufenthalt in Berlin zu finanzieren. Sie möchte "ein wahres Verständnis für Physik" gewinnen.
Lise Meitner hat eine Scheu vor Autoritäten
Mit der Wahl Berlins beweist Lise Meitner einen guten Riecher: die Stadt mausert sich zu der Zeit zu einer Metropole der Physik. Max Planck lehrt dort, der Entdecker der Quantentheorie, wenig später wird auch Einstein nach Berlin berufen.
Für die junge Physikerin aus Wien allerdings beginnt die Berliner Zeit mit Diskriminierungen: "Sie haben den Doktortitel. Was wollen Sie mehr?" fragt Max Planck die eifrige Hörerin seiner Vorlesungen. Der Naturwissenschaftler Planck kann, zum Frauenstudium befragt, "nicht stark genug betonen, daß die Natur selbst der Frau ihren Beruf als Mutter und Hausfrau vorgeschrieben hat und daß Naturgesetze unter keinen Umständen ohne schwere Schädigungen ignoriert werden können." Doch im Falle Lise Meitner macht der große Mann selbst eine Ausnahme von seiner ehernen Regel: er ernennt sie zu "seinem Assistenten".
Doch Lise Meitner will mehr. Experimentieren will sie. Sie fragt bei Professor Rubens an, dem Leiter des Physikalischen Instituts. Er bietet ihr einen Platz in seinem eigenen Labor an. Doch Lise Meitner hat eine Scheu vor Autoritäten. Sie braucht als Anfängerin eine Atmosphäre, in der sie ungeniert auch dumme Fragen stellen kann.
In dem jungen Chemie-Professor Otto Hahn findet sie den geeigneten Mitarbeiter: 30 Jahre alt wie sie selbst, mit unkomplizierten Manieren und einem interessanten neuen Forschungsgebiet, in das sie in Wien ja schon hineingerochen hat: die Radioaktivität.
Fast scheitert der Beginn ihrer Teamarbeit an Nobelpreisträger Emil Fischer, Hahns Chef, dem Leiter des Chemischen Instituts. Er mag keine Frauen in seinen Labors, zumal sie an preußischen Universitäten noch nicht offiziell zugelassen sind. Buchstäblich an den Haaren herbeigezogen seine Begründung: Er leide unter der ständigen Angst, die extravagante Frisur einer russischen Studentin könne einmal am Bunsenbrenner Feuer fangen.
Ein schäbiger Kompromiß wird gefunden: Lise Meitner darf mit Otto Hahn das Labor im Kellergeschoß, die ehemalige "Holzwerkstatt", zu Strahlenmessungen benutzen. Die chemischen Labors im Erdgeschoß darf sie nicht betreten, auch den Haupteingang nicht benutzen. Ein Jahr später wird das Verbot bereits aufgehoben, Meitners Arbeiten über beta-Strahlen finden in Fachkreisen Beachtung.
Der erste Weltkrieg unterbricht ihre Arbeit
Am wohlsten fühlt sich Lise Meitner allerdings unter jungen Kollegen. Im "Physikalischen Kolloquium", wo die neuesten Versuchsergebnisse heiß diskutiert werden, tut auch sie, die Schüchterne, den Mund auf. Noch 1920, als sie längs Karriere gemacht hat, organisiert sie mit ihren Freunden James Franck und Gustav Hertz anläßlich eines Besuchs von Niels Bohr das "bonzenfreie Kolloquium", bei dem nur Nicht-Professoren zugelassen sind, um den dänischen Atomtheoretiker mit Fragen zu löchern. Zwei Jahre später ist Lise Meitner selber "Bonze" - Professorin für experimentelle Kernphysik. Ihre Antrittsvorlesung als Professorin trägt den Titel "Die Bedeutung der Radioaktivität für kosmische Prozesse". Eine Tageszeitung macht aus den kosmischen "kosmetische Prozesse".
Die sorglosen Jahre ("vielleicht politisch zu sorglos", wie sie später sagen wird) in der "Holzwerkstatt", wo die Physikerfreunde zum Fenster ein- und ausstiegen, sind längst vorüber. Hahn und Meitner arbeiten im neugegründeten Kaiser-Wilhelm-Institut (KWI) für C t e. Ihre Experimente, die den Aufbau des Atoms, vor allem seines winzig kleinen Kerns, immer durchsichtiger machen helfen, gehen gut voran. Ihre Abteilung wächst.
Der erste Weltkrieg unterbricht ihre Arbeit. Im KWI wird jetzt Kriegsforschung betrieben. Die Kampfgase, die hier unter der Leitung von Professor Haber entwickelt werden, setzen Hahn und seine Kollegen an der Front ein - und erleben ihre entsetzliche Wirkung.
Auch Lise Meitner kann sich dem patriotischen Zug der Zeit nicht entziehen: Sie geht "für ihr Vaterland Österreich" freiwillig als Röntgenologin an die Front. Wir sehen in diesem Krieg die zwei Repräsentantinnen der französischen und deutschen Atomforschung, Marie Curie und Lise Meitner, in gleicher Funktion an verschiedenen Fronten im Kriegsdienst: Meitner durchleuchtet für Österreich polnische Kriegsopfer, deren Sprache sie nicht versteht. Die Polin Curie, geboren Sklodowska, organisiert für ihr "Adoptiv-Vaterland" Frankreich die Röntgenversorgung der Armee. Beide waren damals - freiwillig - bereit, ihre Wissenschaft militärischen Interessen unterzuordnen.
Trotz Krieg geht die Atomforschung auf Sparflamme weiter. 1917 entdecken Meitner und Hahn ein neues Element, das Protactinium, und schließen damit die letzte große Lücke der radioaktiven Zerfallsreihen. Dann trennen sich ihre wissenschaftlichen Wege für eine gewisse Zeit.
In den 30er Jahren fesselt Meitner und Hahn ein neues physikalisches Problem. Seit Rutherford 1919 mit Hilfe von alpha-Strahlen Stickstoff in Sauerstoff verwandelt hat, ist eine neue Form von Alchimie im Gange. Es gelingt den Chemikern nicht nur, bekannte Elemente in andere bekannte Elemente umzuwandeln, sondern auch neue "künstliche" radioaktive Substanzen zu machen. Marie Curies Tochter Irene und ihr Mann sind die ersten.
Mitten in die Experimente platzt die politische Katastrophe
Fermi bestrahlt in Italien beliebige Stoffe mit Neutronen - auch Uran, das schwerste bekannte Element. Es scheinen dabei Trans-Urane, das heißt Elemente mit höherer Kernladungszahl als Uran, zu entstehen. Meitner und Hahn entdecken daraufhin eine ganze Reihe von "Transuranen", die durch Strahlung aus einander entstehen.
Mitten in diese spannenden Experimente platzt für die Jüdin Lise Meitner die politische Katastrophe. Längst hatten die Nazis begonnen, die deutschen Universitäten vom jüdischen Geist zu "reinigen"; die Mathematikerin Emmy Noether zum Beispiel hatte schon 1933 das Land verlassen. Als Österreicherin war Lise Meitner eine Gnadenfrist geschenkt. Mit dem "Anschluß" ihrer Heimat ans "Reich" 1938 gehörte auch sie plötzlich zu den Verfolgten.
Da eine Ausreisegenehmigung nicht erteilt wird - die Nazis fürchten zu Recht, die ausgewanderten Wissenschaftler könnten im Ausland gegen das faschistische Deutschland aktiv werden - bleibt nur die Flucht, die Freunde und Fachkollegen ihr ermöglichen. Nur mit ein paar Koffern geht die 60jährige über die holländische Grenze und von dort nach Stockholm, wo ihr der Leiter des Nobel-Instituts für Physik, Manne Siegbahn, einen Arbeitsplatz in seinem Institut angeboten hat.
Lange Monate bleiben "die paar Kleider" ihr einziger Besitz. Sie friert viel im Stockholmer Winter. Schlimmer noch empfindet sie ihre Arbeitsbedingungen. Sie schreibt an Otto Hahn: "Mir geht es sehr wenig gut. Ich habe hier eben einen Arbeitsplatz und keinerlei Stellung, die mir irgendein Recht auf etwas geben würde. Versuche Dir einmal vorzustellen, wie das wäre, wenn Du statt Deines schönen eigenen Instituts ein Arbeitszimmer in einem fremden Institut hättest, ohne jede Hilfe, ohne alle Rechte und mit der Siegbahnschen Einstellung, der nur große Maschinen liebt und sehr sicher und selbstbewußt ist. Aber das Wesentliche ist eben, daß ich mit so leeren Händen hergekommen bin. Jetzt wird Siegbahn allmählich glauben - besonders nach Euren so schönen Ergebnissen -, daß ich überhaupt nichts gemacht habe und Du auch die ganze Physik in Dahlem gemacht hat. Ich verliere allmählich allen Mut."
Der Briefwechsel zwischen Lise Meitner und Otto Hahn, aus dem dieses Zitat stammt, ist eines der erschütterndsten Dokumente der neueren Wissenschaftsgeschichte. Er dokumentiert nicht nur eine menschliche Tragödie. In diesen hektisch zwischen Stockholm und Berlin-Dahlem hin- und hereilenden Briefen findet auch die - von Mißverständnissen, Kränkungen, Zeitverlusten gestörte - Diskussion über die frappierenden neuen experimentellen Befunde von Hahn und seinem Mitarbeiter Straßmann statt.
Es stimmt etwas nicht mit den Transuranen. Die unter Neutronenbeschuß entstehenden Elemente scheinen nicht schwerer, sondern leichter zu sein als das Uran. Ob es denn energetisch möglich ist, daß der schwere Urankern "zerplatzt" - in zwei leichtere Bruchstücke? Hahn erwartet von seiner Kollegin irgendeine "phantastische Erklärung".
Hähnchen, sei still, von Physik verstehst du nichts
Wie früher. Da galt sie als das "physikalische Gewissen" Otto Hahns. Während man sich bei ihm auf exaktes chemisches Arbeiten verlassen konnte, war sie die Überlegene in der physikalischen Deutung. "Hähnchen, sei still, von Physik verstehst du nichts", soll sie manche Diskussion beendet haben.
1928, zur Blütezeit ihrer gemeinsamen Arbeit, leitete Otto Hahn das Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie, Lise Meitner darin die Abteilung Physik. Die wahren Machtverhältnisse bringt ein gewitzter Druck"fehler" in einer Institutsmitteilung am Schwarzen Brett zum Ausdruck: Sie schließt mit den Worten: Gezeichnet: Otto Hahn - Lies Meitner. Lise Meitner nahm es auch mit dem Geschlecht nicht so genau. 1922 wurde sie bei einem Kongreß von Kollegen begrüßt: "Wir haben uns ja schon früher kennengelernt." Sie, die sich an eine frühere Begegnung nicht erinnern konnte, erwiderte zerstreut: "Sie verwechseln mich wohl mit Otto Hahn."
Die Rollen zwischen Hahn und ihr waren ganz und gar nicht nach dem üblichen Muster verteilt: er war zuständig für die "Intuition" und für die gründliche Ausführung der Experimente, sie für die "kritische Analyse" der Ergebnisse und die Planung neuer Versuchsreihen. Auch jetzt, im Stockholmer Exil nach einer Analyse befragt, ist sie erst einmal skeptisch. Die schönen "Transuran"-Ergebnisse will sie nicht einfach umwerfen. Als sie es endlich - unter dem Druck der Befunde - glauben muß, schaltet sie schnell. Mit ihrem Neffen, dem Physiker Otto Robert Frisch, Sohn ihrer komponierenden älteren Schwester, bei dem sie gerade in Kopenhagen die Weihnachtsferien verbringt, wirft sie einen Artikel in die Zeitschrift "Nature", der das "Zerplatzen" des Urans theoretisch deutet.
Sie nahm es mit dem Geschlecht nicht so genau
Sie gebrauchen für die neue Kernreaktion den Ausdruck "Spaltung" (fission), der sich international durchsetzen wird. Und - sie erbringen als erste den Nachweis, daß bei der Urankernspaltung unvorstellbar hohe Energiemengen frei werden: sie errechnen eine Energieabgabe, die das Millionenfache gewöhnlicher chemischer Prozesse ausmacht.
Diese riesige Energieabgabe sowie ein weiterer, von Meitner und Frisch in der Aufregung gar nicht bedachter Aspekt: die Möglichkeit einer Kettenreaktion, bringt bald die Atomphysiker auf der ganzen Welt zum Rotieren. Die einen, wie Fermi, jetzt in Chicago, denken an den Bau nuklearer Reaktoren, die anderen sehr schnell an eine neue "Superbombe".
1940, Los Alamos, USA - eine ganze Stadt voller Wissenschaftler baut an der Atombombe. Das "Manhattan Project", ein gigantisches Experiment, das zwei Milliarden Dollar und 1945 300000 Japaner das Leben kostet. Für Meitners Neffen Otto Robert, einen politisch naiven Menschen, die wissenschaftliche Chance.
Lise Meitner bleibt in Stockholm. Eine Beteiligung am Manhattan Project kommt für sie nicht in Frage. Insgeheim hofft sie - obwohl sie es besser weiß -, daß es nicht klappen wird mit der Bombe. Sie und Hahn, sie hatten nicht dafür den Urankern gespalten; er war ihnen ja aus Versehen auseinandergeplatzt. Beide leiden nach 1945 an den Folgen ihrer Entdeckung, setzen ihre Hoffnungen auf die Ethik der Wissenschaftler.
Meitner setzt ihre Hoffnung auf die Ethik der Wissenschaftler
Lise Meitners Jahre in Schweden verlaufen unspektakulär. Sie forscht und lehrt an der Technischen Hochschule in Stockholm. 1960 beschließt sie - mit 81 Jahren - sich zur Ruhe zu setzen, zieht zu Verwandten nach Cambridge, England. Auch in den neun Jahren "Ruhestand" reist sie, hält Vorträge.
Auf einem Foto von 1960 sehen wir die alte Dame am Frauen-College Bryn Mawr, USA, auf den Stufen zur Bibliothek sitzen, ins Gespräch mit Studentinnen und Professorinnen vertieft. Der Vortrag, den sie dort hält: "Die Stellung der Frau im Berufsleben", zeigt eine Lise Meitner, die man so nicht kennt: über die Geschichte der Frauenarbeit und der Frauenbewegung wohlinformiert und belesen. Eine emanzipierte Wissenschaftlerin, die die Namen und Lebensgeschichten ihrer Kolleginnen kennt, die ihre eigenen Lebenserfahrungen reflektiert und in die allgemeine Diskussion um die Frauenberufstätigkeit einbringt.
Viele Ehrungen werden ihr zuteil - wenn auch stimmt, was Renate Feyl in ihrem Buch "Der lautlose Aufbruch" über Lise Meitner schreibt: Ihre Arbeit ist gekrönt worden mit dem Nobelpreis für Otto Hahn." 1945, als Hahn ihn bekommt - auch aus dem Motiv heraus, die deutsche Wissenschaft zu rehabilitieren, "vergißt" das Stockholmer Nobel-Komitee die Emigrantin in der eigenen Stadt.
Sie selbst tat nicht viel für den eigenen Nachruhm. Hahn schrieb zwei ausführliche Autobiographien - sie zwei kleine Skizzen über ihren wissenschaftlichen Werdegang. Skizzen nur sind auch die biographischen Aufsätze von Zeitgenossen über Lise Meitner. Den Rest muß frau sich aus den vielen Büchern über Otto Hahn zusammensuchen oder aus Sammelbänden über die neue Physik. So bleibt auch ihr Privatleben weitgehend unbekannt. Freundschaften sollen ihr viel bedeutet haben. Mit ihrer Freundin, der Pflanzenphysiologin Elisabeth Schiemann, ging sie gern auf Bergtouren.
Über Liebesbeziehungen aber gibt es nicht einmal Andeutungen. Die hat Lise Meitner, so scheint es, gründlich geheimgehalten.