Die Opfer

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Die vergewaltigten Frauen in Jugoslawien werden auch hierzulande missbraucht.

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Montagmorgen. Aus dem Postberg an EMMA fällt ein Brief sofort ins Auge. „EMMA, wo ist Deine Stimme angesichts der Bilder aus Sarajewo?" steht da in Fettdruck. Und: „EMMA schweigt oder flüstert nur zu diesem Thema." Darunter zahlreiche Namen von „Haus- und Landfrauen" aus Otersen, die empört den öffentlich ausgelegten „Offenen Brief" unterschrieben haben.
Wir sind gerade noch dabei, die Unterschriften zu zählen - es sind 23 - da klingelt schon wieder das Telefon. „Ich habe im Fernsehen die schrecklichen Berichte über die vergewaltigten Frauen in Bosnien gesehen. Was kann ich tun?" Es ist mindestens die 50. Anruferin, die uns das fragt.
Seit Anfang September steht das Telefon bei EMMA nicht still: Die Kölner Frauengruppe, die eine Hilfsaktion starten will; die Stuttgarter Diakonissinnen, die den Erlös ihres Weihnachtsbazars spenden wollen; die Fernsehjounalistin, die einen Film drehen muss; die Heidelberger Frauen, die zu einer Demo aufrufen wollen; ein Düsseldorfer Paar, das eine Frau bei sich aufnehmen möchte.
Sie alle rufen nicht zufällig bei EMMA an. Denn bereits in der Ende August erschienen September-Ausgabe 1992 hatte EMMA - als erste im deutschsprachigen Raum überhaupt - ausführlich über den „Krieg gegen die Frauen" in (Ex)Jugoslawien berichtet. In der gesamten deutschen Männerpresse herrschte damals noch Stillschweigen über die Massenvergewaltigungen; auch die Kriegsberichterstatter, die es eigentlich längst hätten wissen können und sagen müssen, verloren kein Wort.
Fernab vom Geschehen war EMMA ehrlich gesagt nur zufällig auf das Grauen gestoßen. Ein Kroate, der seit 20 Jahren in Köln lebt, hatte uns informiert und entsprechende Artikel aus der kroatischen Presse geschickt. Wir waren entsetzt. Aber - wir waren auch nachdenklich. Wir erlebten schließlich seit Monaten, wie kritiklose oder gar parteiliche Kollegen unüberprüfte Propaganda-Stories von allen Fronten übernahmen - vor allem von der kroatischen Front, die ja einst in braunen Zeiten Alliierter (Groß)Deutschlands gewesen war. Die Parteilichkeit gerade Deutschlands pro Kroatien und contra Serbien ging soweit, dass das Ausland sogar geschlossen protestierte. Vergeblich.
Dennoch: Das, was wir da zu hören bekamen, war so ernst, dass wir dem nachgehen mussten. Außerdem: Wir trauten es allen von Hass geschüttelten Kämpfern in diesem „Bruderkrieg" durchaus zu, dass die Frauen mal wieder die Rechnung bezahlten.
EMMA begann zu recherchieren. Wir sprachen mit Kolleginnen in Zagreb und Belgrad, mit Hilfsorganisationen in dortigen und deutschen Flüchtlingslagern, mit der in Bosnien und Kroatien drehenden Filmemacherin Heike Sander und mit Zorica (wir nannten sie in unserem ersten Artikel Moijca). Sie hat 16 Jahre lang in Deutschland gelebt und ist jetzt wieder in ihrer Heimatstadt Zagreb und dort aktiv in der feministischen Gruppe „Kareta" und beim „Notruf für vergewaltigte Frauen". Zorica kam in die EMMA-Redaktion und berichtete. Was sie sagte, gab den letzten Ausschlag für unseren Hilferuf in der September-Ausgabe, wo wir über die organisierte Massenvergewaltigung in Lagern berichteten.
Die Tatsache, dass die Vergewaltigung eine Kriegswaffe gegen die Wehrlosesten ist, ist leider nicht neu. Spätestens seit Susan Brownmillers umfassender Analyse der Funktion von Vergewaltigung ('Gegen unseren Willen') kann jede und jeder wissen, dass die Sieger vergewaltigen, um doppelt zu demütigen: die Frauen selbst sowie ihre „Besitzer".
Brownmiller 1975: „Der Krieg liefert den Männern den perfekten psychologischen Freibrief, um ihrer Verachtung für Frauen Luft zu machen. Vergewaltigung ist eine übliche Kriegshandlung." Und ältere deutsche Männer wissen es als (mögliche) Täter, deutsche Frauen als (mögliche) Opfer.
Gab es dennoch etwas, was neu war und ist am Grauen in (Ex)Jugoslawien? Ja. Die Tatsache, dass hier nicht Fremde vergewaltigen, sondern Freunde. Männer, die mit ihren Opfern in die Schule gingen, mit ihnen gespielt, gelacht, geflirtet und gelebt haben.
Ihre Opfer sind zum Beispiel drei serbische Frauen, die sich im Juni 1992 in Novi Grad in ihren Häusern versteckten. Kroatische Nachbarn beschuldigten die Frauen, sie hätten serbische Kämpfer versteckt. Sie verschleppten die Frauen in ein nahegelegenes Haus, wo schon 15 Männer warteten, die sich „Vatreni Konji" nannten, „Feuerpferde". Sie fielen über die Frauen her und verlangten von ihnen, sie sollten während der Vergewaltigung schreien, was es für einen Spaß mache. „Alle diese Männer waren Nachbarn", erklärten die Frauen einer BBC-Reporterin und amnesty international. „Wir kennen sie mit Namen."
In dem so plötzlich ausbrechenden nationalen Wahn der (Ex)Jugoslawen sind die Freundinnen und Nachbarinnen von einst plötzlich - die anderen. Sie sind nicht mehr Jugoslawinnen, sondern Kroatinnen und Bosnierinnen für die Serben oder Serbinnen für die Kroaten und Bosnier.
Und das Bedrückendste: Auch durch die Frauen, die Kolleginnen, Nachbarinnen, Freundinnen von einst geht dieser Riss. Für die Kroatinnen sind ihre jugoslawischen Schwestern plötzlich Serbinnen - oder, noch schlimmer: Serben-Liebchen, Verräterinnen. So wird auf fünf bekannte jugoslawische Schriftstellerinnen derzeit eine wahre Hexenjagd veranstaltet, nur weil sie sich nicht nationalistisch genug verhalten.
Eine von ihnen ist EMMA-Leserinnen gut bekannt: Slavenka Drakulic, die schon zu Beginn des Krieges in EMMA (10/1991) beschrieb, wie sich die ursprünglich so mutigen jugoslawischen 'Mütter für den Frieden' von ihren nationalistischen Männern spalten und benutzen ließen. „Kroatische Feministinnen vergewaltigen Kroatien" lautet der Titel eines Artikels in der Zagreber Zeitung Globo. Und im Text heißt es unter anderem: „Dies ist kein Krieg der Männer gegen die Frauen, sondern eine faschistische Aggression." Globo veröffentlichte am 10. Dezember 1992 eine Liste der fünf Autorinnen mit: Namen, Adresse, Nationalität der Eltern und der Ehemänner sowie einer Aufstellung ihres Besitzes. Freiwild.
Diese fünf Frauen hätten „wegen ihrer körperlichen Erscheinung" keine Männer gefunden und seien deswegen Feministinnen geworden, heißt es, und: „Die wenigen, die einen Mann fanden, trafen eine politische Wahl: Sie heirateten einen Serben." Rassismus und Sexismus - das geht eben fast immer Hand in Hand. Es gibt bisher kaum interessenfreie, objektive Informationen aus dem Kriegsgebiet. Amnesty international teilt mit: „Alle am Konflikt beteiligten Seiten, einschließlich der moslemischen und kroatischen, haben sich Vergewaltigungen und sexuelle Übergriffe gegen Frauen zuschulden kommen lassen."
Und die „Befreier" halten fleißig mit. So musste der Befehlshaber der UNO-"Schutz"-Truppen UNPRO-FOR, der kanadische General McKenzie, abrupt in sein Heimatland zurückberufen werden. Er hatte vergewaltigte Frauen aus einem „Kriegsbordell" abgeholt - die Frauen aber sind nie wieder aufgetaucht. Wer beschützt die Frauen vor ihren „Beschützern"?
Auch die eigenen Männer, Brüder, Freunde und Ehemänner halten fleißig mit. „Die Vergewaltigungen im Ehebett haben um 100 Prozent zugenommen", berichtet Svetlana Verner, Ärztin an einem Belgrader Krankenhaus. Und beim SOS-Notruf in Belgrad suchen 50 % mehr Opfer Zuflucht als vor dem Krieg.
Inzwischen wurde auch in Deutschland über die systematischen Vergewaltigungen und Folterungen von Frauen berichtet. Allerdings fast nur über die in Bosnien. Und in der Tat scheinen die Serben zur Zeit die (noch) Grausameren und (noch) Enthemmteren zu sein. Regeln sie hier eine ein halbes Jahrhundert alte Rechnung, auf deren Sollseite zehntausend durch Kroaten gefolterte, vergewaltigte und getötete Serbinnen und Serben stehen (siehe EMMA 9/1991)?
Wie auch immer: Die Rechnung bezahlen wieder einmal die Frauen. Die weltweite Empörung ist also mehr als berechtigt. Zehn Wochen nach der EMMA-Veröffentlichung greift Maria von Welser in ihrem TV-Frauenmagazin „Mona Lisa" den Skandal auf. Sie nimmt live Politikerinnen und Hilfsorganisationen in die Pflicht und erreicht tatsächlich einiges.
Es folgen Stern, Spiegel, Tageschau - endlich können auch die Politikerinnen nicht länger schweigen. Eilig wird beim „Frauenausschuss" des Deutschen Bundestages ein Hearing anberaumt. Am 7. Dezember nehmen „Expertinnen" zum Thema Stellung. Der Andrang ist riesig, die Debatte wird in mehrere Säle übertragen. Und wer ist „Experte" für die Vergewaltigungen in (Ex)Jugoslawien?
Die erste ist Amelija Janovic von der 'Kroatischen Kulturgesellschaft'. Sie beschwört das Publikum mit leidenschaftlicher Stimme: „Wir müssen den Aggressor stoppen." Auf ihrem schriftlichen Manuskript stehen Sätze wie: „Vergewaltigungen der Frauen eines Landes seitens der serbischen Krieger gehört zur erprobten Kriegswaffe des großserbischen Aggressors. Die unmenschlichste Art der Degradierung eines Lebewesens haben serbische Bolschewisten über Jahre hindurch 1945 bis 1948 an deutschen Frauen durchgeführt." Großserbisch, bolschewistisch - die Sprache der Rechten. Geht es dieser Frau wirklich um die vergewaltigten Frauen?
Die nächste ist Susanne Erdl, Pressesprecherin von amnesty international. Sie will die Missionen der ai-Beobachterinnen in Ex-Jugoslawien abwarten - und macht aufmerksam auf Vergewaltigung als Kriegswaffe an allen Kriegsschauplätzen dieser Welt: in Birma, Äthiopien, Peru, Kuwait. Da wird die ai-Sprecherin von zwei Männern niedergeschrieen.
Der eine, Rupert Neudeck von Cap Anamur, ist „empört", dass amnesty international so „vorsichtig" ist und erntet frenetischen Beifall für die Worte: „Wenn wir noch lange recherchieren, sind die Frauen alle tot." Der andere ist Tilman Zülch von der Gesellschaft für bedrohte Völker. „Was hier passiert, ist Völkermord", ruft er erregt, „Völkermord an den Bosniern." Er stürzt zur Vorsitzenden des Frauenausschusses und begräbt sie unter einem kilometerlangen Fax: „Hier ist die Liste von 10.000 ermordeten Bosniern. Deutschland muss eingreifen!"
Schützenhilfe bekommen die beiden tapferen Frauenfreunde von dem CDU-Bundestagsabgeordneten Stefan Schwarz („Dieses Hearing ist mit auf meine Anregung zustande gekommen"). Er beschwört die Abgeordneten: „Deutschland kann sich nicht länger heraushalten!" Zwei Tage später kommt der CDU-Beschluss, deutsche Truppen nach Somalia zu schicken, „um die Menschenrechte zu sichern". Heute Mogadischu, morgen Sarajewo?
Spätestens in diesem Hearing wird klar, von wie vielen Seiten die vergewaltigten Frauen in Bosnien ein weiteres Mal missbraucht werden. Von deutschen Politikern, die wieder weltweit marschieren wollen. Von deutschen Linken, die nur an der ethnischen und kaum an der sexistischen Dimension der Verbrechen interessiert scheinen. Von kroatischen Neo-Rechten, die den alten Hass auf „die Serben" schüren. Warum auch sollten sich sonst plötzlich so viele Männer so heftig für das Thema Vergewaltigung interessieren? Es passt ihnen in ihren Kram - und deshalb reden sie jetzt über etwas, was sie sonst ignorieren oder sogar verharmlosen.
Bleibt die Frage: Was können wir tun? Bei der Anhörung im Bundestag war Rupert Neudeck von Cap Anamur immerhin der einzige, der von konkreter Hilfe sprach: „Wir richten gerade das erste Haus in Zagreb ein, das als Klinik für Vergewaltigungsopfer ausgestattet werden soll. Wir suchen dafür Ärztinnen und Krankenschwestern." In den Tagen nach dem Hearing verweist EMMA deshalb alle Anruferinnen, die helfen wollen, an Cap Anamur.
Anfang Januar meldet sich das Frauenhaus Paderborn bei EMMA: Ein Hotelbesitzer im Sauerland stellt sein Hotel mit 75 Betten unentgeltlich für vergewaltigte Frauen zur Verfügung. Wir informieren Cap Anamur, um der Idee schnell zum Erfolg zu verhelfen. Eine genervte Frau Neudeck wimmelt uns ab: „Wer helfen will, soll doch selber nach Jugoslawien fahren."
Außerdem habe Cap Anamur Millionen von Spenden bekommen und wisse nicht, wohin damit. Und die Klinik in Zagreb? „Es ist uns bis jetzt nicht gelungen, den Mietvertrag zu unterschreiben." Ein Trost: Die Frauen landauf, landab lassen sich von dem Gerangel nicht abhalten und gründen allerorten Initiativen: Sie sammeln Geld, Kleider oder Medikamente und nehmen Frauen aus Jugoslawien bei sich auf (siehe Liste).
Der Deutsche Ärztinnenbund hat ärztliche und therapeutische Hilfe und ambulante Schwangerschaftsabbrüche vor Ort angeboten. Der Zustand der vergewaltigten, geschwängerten Frauen ist in der Tat lebensbedrohlich. Da Hilfslieferungen von den Soldaten geplündert werden, haben die Frauen noch nicht einmal Schmerzmittel. Abgetrieben wird ohne Betäubung, ohne ärztliche Hilfe in zerbombten Kellern bei minus 20 Grad Kälte.
Wer diesen Krieg verliert, ist klar: Frauen, Kinder und alle Zivilistinnen - wie immer. Wer diesen Krieg gewinnt, wird sich erst noch zeigen. Es sind nicht nur die Serben und die Kroaten, die ihre Gebiete vergrößern. Es sind auch die islamischen Länder, die einen religiösen Feldzug gestartet haben. Bisher sind die Muslime in Bosnien keine Fundamentalisten. Noch sind die Frauen unverschleiert, noch wird hier ein aufgeklärter Islam praktiziert.
Doch je länger der Krieg dauert und je mehr die Muslimlnnen erniedrigt, geschändet und ihrer Ehre beraubt werden, desto stärker werden die Verzweifelten ihr Heil im Islam suchen. Schon jetzt liefern Iran und Saudi-Arabien nicht nur Waffen an die Brüder in Bosnien und nicht nur warme Decken an die Flüchtlinge, sondern auch geistige Munition. Sie wird erst dann treffen, wenn die Feldherren längst „Frieden" geschlossen haben. Dann geht der Krieg gegen die Frauen erst los.
Dann, liebe Land- und Hausfrauen aus Otersen, wird vielleicht wieder nur EMMA die Stimme erheben.
Ursula Ott, EMMA März/April 1993

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