Epstein-Komplizin verhaftet!
Endlich! Endlich stehen die Opfer in der Netflix-Serie „Jeffrey Epstein: Stinkreich“ im Mittelpunkt. Und obwohl der Täter schillernd und faszinierend ist, entscheidet die Dokumentation sich radikal für die Opfer. Auf sie richtet sich die Kamera, ihnen hört Regisseurin Lisa Bryant zu; diesen jungen Frauen, die von Epstein seit Jahrzehnten manchmal über Jahre missbraucht und gefangen gehalten wurden. Gefangen in einem System der Einschüchterung, Gewalt und Abhängigkeit.
Gleichzeitig begibt die Dokumentation sich auf die Spuren dieses unheimlichen Netzwerkes von Geld, Macht und Einfluss, von dem Jeffrey Epstein nur die Spitze eines Eisberges zu sein scheint.
Dass die Opfer gehört werden, ist neu – und ausschließlich dem von der MeToo-Bewegung geschaffenen Klima zu verdanken. Wir erleben die Frauen verletzt und stark zugleich. Schon vor etwa 15 Jahren hatten die Hauptprotagonistinnen erstmals gewagt, ihr Schweigen zu brechen. Mit dem Resultat, dass – nach zähem Ringen von Polizei und Opferanwälten – Epstein 2008 zwar für „Zuhälterei und Missbrauch Minderjähriger“ verurteilt wurde; doch für seine Taten, für die jeder andere zu „lebenslänglich“ verurteilt worden wäre, bekam er lediglich 18 Monate. Davon saß er nur 13 und hatte ab dem ersten Tag Freigang. Denn der Arm seiner Gönner war soviel länger als der der Justiz. Zurück in New York gab Epstein erstmal eine Riesenparty und alle, alle kamen.
Das gesellschaftliche Klima hatte sich
dank MeToo verändert
Als Epstein am 6. Juli 2019 aus seinem Privatjet von Paris nach New York ausstieg, verhaftete ihn – nein, nicht die New Yorker Polizei, sondern das FBI. Ohne das veränderte gesellschaftliche Klima, in dem Opfer endlich ernstgenommen werden, wäre es wohl nie zu dieser zweiten Anklage gekommen und Epstein bis heute ein Partylöwe.
Da ist es keine Überraschung, dass Ronan Farrow, der mit seinen Recherchen über Weinstein die MeToo-Bewegung ausgelöst hat, gerade wieder angegriffen und – ohne jegliche Beweise! – als unglaubwürdig diskreditiert wird. Das Imperium schlägt zurück.
Epstein war schon lange ein Kandidat fürs Gefängnis, eigentlich von Anfang an. Aber er scheint sein System der Erpressung früh perfektioniert zu haben. Die ersten Millionen machte der junge Investmentbanker mit einem betrügerischen Banker, der dafür 20 Jahre ins Gefängnis kam. Epstein passierte nichts. Um die nächsten 46 Millionen Dollar betrog er einen Milliardär, der ihn nie anzeigte. Warum nicht? Weil er ein Verhältnis mit Epstein hatte, vermuten die Opferanwälte.
Ab Anfang der 1990er Jahre baute Epstein sein System des Missbrauchs und Verschacherns Minderjähriger aus – und damit auch sein System der Erpressung seiner „Kunden“. Es waren immer Mädchen aus schwierigen Verhältnissen, oft schon früh missbraucht, manchmal sogar von den Eltern verkauft. Wie in dem Fall der drei 12-Jährigen aus Frankreich, die ein Freund als „Geburtstagsgeschenk“ für Epstein einfliegen ließ.
Welche Rolle spielte Epsteins Gefährtin Ghislaine Maxwell?
Eine zentrale Rolle in dem System Epstein spielte Ghislaine Maxwell, die Tochter des unter mysteriösen Umständen 1991 gestorbenen zwielichtigen britischen Medien-Tycoons Robert Maxwell. Ab 1993 scheint sie seine Gefährtin gewesen zu sein. Sie führte ihn in die feine Gesellschaft ein und meist war sie es, die die Mädchen aufspürte und anlockte.
Das Muster war immer gleich: Sie sollten Epstein angeblich für 200 Dollar die Füße massieren. Einmal in Epsteins Anwesen angekommen, fanden sie den Hausherrn in der Regel nackt auf dem Bauch liegend auf einer Massageliege vor. Sie begannen mit der Massage der Füße – plötzlich drehte er sich um. Manchmal fasste er sie an und masturbierte, manchmal vergewaltigte er sie, gern auf besonders brutale und perverse Art. Ghislaine war in der Regel dabei. Sie streichelte gleichzeitig die Mädchen und sagte ihnen, es sei nichts dabei: „Alles wird gut.“ Manche Mädchen wurden angestiftet, für eine Prämie von 200 Dollar ihre Freundinnen anzuschleppen – sie fühlen sich bis heute schuldig.
Viele wurden auf Epsteins einsame Privatinsel in der Karibik geflogen, bei Einheimischen „die Pädophilen-Insel“ genannt. Dort hatten sie Epstein und seinen Gästen zur Verfügung zu stehen; darunter Prinz Andrew, der Sohn von Queen Elizabeth. Auch Bill Clinton wurde auf der Insel gesehen. Der Ex-Präsident streitet ab, je dort gewesen zu sein – im Logbuch ist er jedoch mit 26 Flügen verzeichnet. Auch Harvey Weinstein, Donald Trump und Woody Allen verkehrten mit Epstein. Die ganze feine Gesellschaft.
Ghislaine Maxwell ist seit der Verhaftung von Epstein und seinem Tod verschwunden. Ihr Zeugnis könnte viele mächtige Männer stürzen. Lebt sie noch?
Nach dem Tod Epsteins bleiben zentrale Fragen weiterhin offen
Epstein wurde am Morgen des 10. August 2019 in der Zelle des New Yorker Untersuchungsgefängnisses tot aufgefunden. „Selbstmord“ lautet der offizielle Befund. Der jedoch wird von vielen bezweifelt. Die beiden Gefängniswärter „schliefen“ zufällig und die Kamera war ausgeschaltet. Ein von Epsteins Bruder beauftragter renommierter Pathologe, Michael Baden, erklärte, die Art von Zungenhalsbruch, die Epstein aufwies, sei quasi undenkbar bei Selbstmord.
Seit Epsteins Tod stellen sich drei Fragen: 1. Was wird mit den 578 Millionen Dollar, die er hinterließ? 2. Wo sind die zahllosen Videobänder von seinen Kunden, die er heimlich filmte? 3. Werden die Mittäter jemals zur Rechenschaft gezogen werden?
Die zentralen Opfer, deren Aussagen Epstein zu Fall brachten, waren oft weit weg geflohen: in die Berge von Colorado, nach Spanien, bis Australien. Doch Ende August 2019 waren sie alle nach New York gekommen, um ihrem Peiniger in die Augen zu sehen. Über Epsteins Tod waren sie enttäuscht und wütend.
Richter Richard Berman berief die Frauen für eine Zeuginnen-Vernehmung ein, obwohl der Angeklagte tot ist. Er wollte diesen „Überlebenden“, wie sie sich selber nennen, Gelegenheit zur Genugtuung verschaffen. Sie kamen alle: Virginia, Sarah, Chauntae, Courtney und die anderen. Und sie weinten vor Glück. Endlich.
Alice Schwarzer