In der aktuellen EMMA

Wie ein Arzt von der Patientin lernt

Zwei gegen Krebs: Prof. Jürgen Wolf und Bärbel Söhlke. Foto: Bettina Flitner
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Hier ist es einmal andersrum: Hier belehrt die Patientin den Arzt. Bärbel Söhlke hat Lungenkrebs. Sie ist damit eine von rund 23.000 Frauen in Deutschland, die jedes Jahr daran erkranken. Anders als bei Männern steigen die Zahlen der erkrankten Frauen. Söhlke hätte eigentlich vor 13 Jahren schon tot sein sollen – so prognostizierten die Ärzte. Aber sie gab nicht auf, forschte – und traf im „Centrum für integrierte Onkologie“ der Uniklinik Köln auf den für ihre Krebsvariante wichtigsten Arzt in Deutschland: Prof. Jürgen Wolf. Der hörte der damals 50-Jährigen zu und staunte. Die Kranke wusste an manchen Punkten mehr als er, der Experte. Die beiden taten sich zusammen und begannen zu netzwerken. Das Patienten-Netzwerk ZielGENau ist daraus entstanden.

"Ich habe gemerkt, dass meine Ärzte damals nicht viele Möglichkeiten bei der Behandlung meiner Krankheit hatten. Sie haben eine Therapie gestartet, an deren Ende nur mein Tod stand“, sagt Bärbel Söhlke. 2008 hatte die Düsseldorferin die Diagnose Lungenkrebs erhalten. „Ein paar Monate haben Sie noch. Klären Sie alle wichtigen Sachen“, sagten die Ärzte. „Ich stand unter Schock. Ich war 50, stand als Mathematikerin voll im Beruf. Ich habe nie geraucht. Und dann soll ich plötzlich Lungenkrebs haben und in wenigen Monaten sterben?“

Lungenkrebs ist im Gegensatz zu vielen anderen Krebsarten stigmatisiert, nach dem Motto „selber schuld“. Doch das ist ein Irrglaube. Lungenkrebs trifft nicht selten auch junge, sportliche und gesund lebende Menschen, die nie geraucht haben. Und: Darunter sind Frauen deutlich häufiger betroffen als Männer. 

Auch für Bärbel Söhlke war Lungenkrebs eine Alte-Männer-Raucher-Krankheit. Und für viele ist es das noch heute. Auch für viele ÄrztInnen. Doch die Zahl der an Lungenkrebs erkrankten Frauen steigt seit Jahren. Auch die der NichtraucherInnen – und zwar ohne, dass es bislang dafür eine wirklich plausible Erklärung gäbe. Auch auf das Passivrauchen lässt sich diese Entwicklung nicht zurückführen. Es gibt Lungenkrebs-Arten, die rein gar nichts mit Nikotin zu tun haben. Trotzdem wird gerade bei Frauen, die nie geraucht haben, Lungenkrebs als Diagnose voreilig ausgeschlossen. Dadurch vergeht von den ersten Symptomen bis zur richtigen Diagnose oft zu viel Zeit. Und meist ist es dann zu spät.

„Es gibt diesen Moment, den wohl viele Menschen kennen, die Krebs haben. Ärzte empfehlen eine Chemotherapie, aber ihr Blick sagt: ‚Du bist so gut wie tot. Für dich können wir nicht mehr viel tun.‘ Meine Ärzte wussten, dass sie bei Lungenkrebs in fortgeschrittenem Stadium damals eigentlich nur noch Verwalter des Todes waren“, sagt Bärbel Söhlke. 

Söhlke: Ich wollte mein Todesurteil nicht akzeptieren, ich wollte einen Weg finden.

Doch die Mathematikerin war gewohnt, auch für schwierige Aufgaben Lösungen zu finden. Als sie merkte, wie wenig die Ärzte über die Ursache ihrer Lungenkrebserkrankung wussten, begann sie, sich in die Materie einzulesen. Sie suchte nach Fallbeispielen, nach Studien, Forschungszentren im Ausland. „Ich wollte mein Todesurteil nicht akzeptieren. Ich suchte nach einem Weg, den meine Ärzte vielleicht noch nicht sahen“, erklärt sie rückblickend. 

Aus Mangel an Alternativen macht Söhlke dennoch mehrere Chemotherapien. Auf alle spricht sie gut an – zur Überraschung der Ärzte. Sie wird auch operiert, an Metastasen, und siehe da: Der Krebs lässt sich zurückdrängen. Aber er kommt wieder und die schweren Nebenwirkungen der Behandlung machen ihr zu schaffen.

Doch 2012, vier Jahre nach der ersten Diagnose, kommt sie endlich „ihrem“ Lungenkrebs selber auf die Spur. Sie nimmt die Gen-Mutationen, sogenannte „Treibermutationen“ ins Visier. Am „Centrum für integrierte Onkologie“ (CIO) an der Uniklinik Köln entdeckt Bärbel Söhlke die Möglichkeit für eine differenziertere Diagnostik. Der Leiter des CIO, Prof. Jürgen Wolf, forscht an genetischen Veränderungen von Lungenkrebszellen. Damals ist er damit noch allein auf weiter Flur. Er und seine Kollegen verfolgen einen sogenannten „personalisierten Ansatz“ auf molekularer Ebene in der Therapie. Nicht den mit der breiten Chemo-Keule, der damals Standard war und den sie selbst als so unzureichend empfanden, dass sie aktiv wurden. 2010 gründet Wolf das Netzwerk „Genomische Medizin Lungenkrebs“, ein molekulares Screening-Netzwerk. 

Wolf erkennt schnell das Potenzial der Patientin Söhlke. Er erhält finanzielle Unterstützung für seine Forschung bei der Deutschen Krebshilfe und erreicht schließlich, dass der Krebs von Bärbel Söhlke bis ins kleinste Molekül aufgeschlüsselt werden kann. Ergebnis: Die Patientin hat eine ROS1-Mutation. Söhlke ist die erste Patientin in Europa mit dieser Diagnose. ROS1-positiver Krebs wird durch eine Veränderung (Fusion) in einem Gen namens ROS1 ausgelöst. Dabei werden ganze Abschnitte seiner DNA mit einem anderen Gen ausgetauscht. Die Folge ist ein unkontrolliertes Zellwachstum.

„Man muss es sich so vorstellen: Bei der Teilung von Zellen repliziert der Körper die DNA und manchmal passiert ein Kopierfehler. Wenn das Immunsystem solche fehlerhaften Zellen übersieht, kann daraus ein Tumor entstehen“, erklärt Söhlke. Sie ist längst nicht mehr nur Patientin, sondern auch Expertin in eigener Sache. Sie wird die erste europäische Lungenkrebspatientin mit ROS1-Mutation und erhält nun ein individuelles, zugeschnittenes, zielgenaues Medikament. Es sind zwei Tabletten pro Tag, die sie nehmen muss. Mehr nicht.

Prof. Wolf: Diesen Erfolg zu erleben, das hat uns enorm angespornt.

„Ich habe dieses passgenaue Medikament bekommen und schon nach einer Woche ging es mir spürbar besser. Ich konnte endlich wieder frei durchatmen“, erinnert sich die heute 66-Jährige. Auch Prof. Wolf atmete auf: „Diesen Erfolg zu erleben, das hat uns enorm angespornt. Die Patientin konnte schon nach zwei Wochen wieder voll durchatmen, die Tumore in den Lungen sind nach vier Wochen zusammengeschrumpft, ja verschwunden. Wir haben direkt gespürt, dass diese Therapie den Umgang mit dem Lungenkrebs, dem ‚Dirty Cancer‘ wie die Amerikaner sagen, komplett verändern wird.“ 

Das war im Jahr 2012. Bärbel Söhlke gilt heute zwar nicht als geheilt, sie bleibt „chronisch krank“. Aber sie kann mit hoher Lebensqualität hoffentlich noch viele Jahre leben.

Ihr Arzt und weitere Forscher der Kölner Uni-Klinik weiteten 2018 das Screening-Netzwerk aus und gründeten das „nationale Netzwerk Genomische Medizin (nNGM) Lungenkrebs“, beflügelt vom Fall Söhlke. Sie sind zu echten „Gamechangern“ bei Lungenkrebs geworden. Die persona­lisierten Therapieansätze erreichen inzwischen weitere Kliniken und Zentren – und bringen PatientInnen viele Lebensjahre.

Und Bärbel Söhlke? Die gründete 2020 gemeinsam mit weiteren Frauen und Männern das Patientennetzwerk ZielGENau. ZielGENau, weil die Therapie punktgenau auf die Genmutation ausgerichtet wird. Prof. Wolf unterstützt seine Patientin auch dabei, er will mit ihrer Hilfe die Testung in Deutschland weiter voranbringen.

Seine rechte Hand in der Patientenkoordination CIO, Katja Ruge, koordiniert die Webinare mit den Frauen, sorgt von medizinischer Seite für fachliche Vernetzung. „Ich bin begeistert von diesen Frauen. Wir stellen gemeinsam ganz schön etwas auf die Beine“, sagt sie.

„Wir haben verstanden, dass uns Gesundheitskompetenz dabei helfen kann, die optimale Therapie zu erhalten“, sagt Söhlke, „schließlich geht es um nichts Geringeres als unser Leben“. Und damit ist Söhlke nicht allein. 

Da ist zum Beispiel Michaela Neuenkirch aus Bad Homburg, 44 Jahre alt, Mutter von zwei kleinen Kindern. 2021 verschlimmert sich ihr Heuschnupfen. Die Diagnose nach einer Lungenembolie: Nicht-kleinzelliger Lungenkrebs durch eine Gen-Mutation, inoperabel. „Ich war so geschockt, ich kann es gar nicht beschreiben“, sagt Michaela Neuenkirch. Sie wird getestet, ihr Krebs wird zielgenau aufgeschlüsselt, und siehe da: Auch für sie gibt es ein passgenaues Medikament. Auch bei ihr bleibt die Krankheit chronisch. Aber sie kann mit Lebensqualität noch lange weiterleben. „Natürlich denke ich auch an meine Kinder, ich werde sie auf die Gen-Mutation testen lassen. Am Puls der Forschung zu bleiben, das bringt Lebenszeit!“, sagt sie. 

Auch Sabine Hatzfeld aus München hat sich diese Lebenszeit erkämpft. Bei der Journalistin wurde 2017 Lungenkrebs festgestellt, mit 42 Jahren. Auch sie kennt den Blick, wenn ein Arzt einen Patienten wie einen lebenden Toten ansieht. „Ich dachte, das war es jetzt. Ich habe keine Chance.“ Sie wird mit palliativer Chemotherapie behandelt. Knapp zwei Jahre später wächst der Krebs erneut. Diesmal breiten sich Metastasen im Gehirn aus. Sie besteht auf einer Gen-Testung. Ihre Ärzte in München muss sie davon erst überzeugen, dann aber unterstützen sie sie. „Ohne die molekulare Testung, die im nNGM-Netzwerk durchgeführt wurde, wäre ich schon längst tot!“, sagt sie.

Hatzfeld arbeitet nach wie vor in ihrem Beruf. „Ich habe verstanden, dass ich zur Expertin meiner eigenen Erkrankung werden muss“, sagt sie, „das haben wir uns nun alle auf die Fahnen geschrieben“. 

Bei Heike Gantke aus Stuttgart wurde der Lungenkrebs 2021 in einem frühen Stadium diagnostiziert. Mit OP und Chemo besteht zunächst Aussicht auf Heilung für die Raumplanerin, doch nur drei Monate später meldet sich der Krebs mit Metastasen zurück. Doch sie hatte das Glück, dass sie schon bei der Diagnose umfassend auf Mutationen getestet wurde und direkt das richtige Medikament erhalten hat. Sie kann weiterarbeiten, legt keines ihrer vielen ehrenamtlichen Projekte nieder. „Ich kann den Krebs momentan gut in Schach halten“, sagt sie und will sich dafür einsetzen, dass genau das möglichst viele LungenkrebspatientInnen sagen können.

Alle vier Frauen wissen, dass ihr Krebs nie ganz verschwinden wird. Aber sollte er wieder wachsen, wollen sie gewappnet sein und eine Therapie in der Hinterhand haben. Ihrer Einschätzung nach wird rund ein Drittel aller Lungenkrebs­patientInnen in Deutschland nicht auf der Höhe des aktuellen Wissensstands behandelt: „Bislang versagt das Gesundheitssystem noch an dieser Stelle. Die vernetzten forschungsnahen Strukturen erreichen viele, aber noch nicht alle ÄrztInnen und PatientInnen. Dass es manchmal noch Glückssache ist, die richtige Diagnostik und Therapie zu erhalten, das darf doch nicht sein!“

Sieben Frauen sind heute im Vorstand von ZielGENau. Gemeinsam geben sie ihr Wissen weiter an ÄrztInnen und andere LungenkrebspatientInnen, und sie setzen sich für die bestmögliche Diagnostik und Therapie ein. Und sie wollen auch die Forschung für seltene Mutationen voranbringen. Um das zu erreichen, vernetzen sich PatientInnen innerhalb mutationsspezifischer Gruppen. Sie verbessern ihre Kompetenz via Webinare, Videos und Podcasts. So sind Betroffene bestens informiert über die Bedeutung und Möglichkeiten von molekularer Diagnostik und personalisierten Therapien sowie über die Zugangswege zu den besten ExpertInnen und passenden klinischen Studien. Sie veranstalten PatientInnen-Tage, beteiligen sich an Kongressen, Symposien, Fachtagungen. 

Viele Frauen des Netzwerks ZielGENau sind mittlwerweile zu Freundinnen geworden

Der Verein vertritt inzwischen über 800 Patien­tInnen und Angehörige, zwei Drittel davon sind Frauen. „Vielleicht liegt es daran, dass Frauen öfter von dieser Art Lungenkrebs betroffen sind. Vielleicht sind Frauen aber auch schneller bereit, sich Hilfe zu suchen und sich zu vernetzen“, sagt Heike Gantke. 

Viele der Frauen von ZielGENau sind nicht nur zu einer Betroffenengemeinschaft, sondern auch zu Freundinnen geworden. Mit Argusaugen beobachten sie laufende Studien und lassen sich in Online-Meetings mit Prof. Wolf auf den neuesten Stand bringen. Und manchmal sind sie es auch, die den Professor auf den neuesten Stand bringen. „Manchmal wissen die Frauen von ZielGENau schon über Nebenwirkungen neuer Substanzen in den USA Bescheid, bevor wir Ärzte überhaupt den Medikamentennamen buchstabieren können“, sagt der internationale Experte. Und lacht. 

Wenn der Professor sich zu Ärztekongressen, beispielsweise nach Chicago, auf den Weg macht, hat er nicht selten Namen von Pharma-Firmen im Gepäck, die neue Wirkstoffe im Programm haben, auf die er ohne das PatientInnen-Netzwerk so rasch gar nicht gekommen wäre.

„Wir Patientinnen und Ärzte sind zu einem Team zusammengewachsen. Ein Team, von dem beide Seiten profitieren“, schwärmt Sabine Hatzfeld, zum Nutzen für beide, und so manches Mal auch für Forschungsprojekte. Aktuell arbeiten die Frauen und Prof. Wolf gemeinsam an einer umfangreichen Datensammlung von LungenkrebspatientInnen mit bestimmten Treibermutationen, um diese Daten für die Forschung verwenden und optimieren zu können. Um eben noch zielgenauer zu werden.

Inzwischen landen PatientInnen mit Lungenkrebs mit einer Wahrscheinlichkeit von 70 Prozent relativ rasch an der richtigen Stelle. Vor zehn Jahren waren es vielleicht 30 Prozent.

Prof. Wolf hat mit seinen Kollegen Prof. Büttner und Prof. Thomas von der Uniklinik Köln für diese bahnbrechende Pionierarbeit im Februar 2024 den Preis der „Deutschen Krebshilfe“ bekommen, für ihre Quantensprünge auf dem Gebiet der molekularen Diagnostik bei Lungenkrebs durch die zielgenaue Therapie. Bärbel Söhlke war das Role-Model dafür. Mehr als das, sie hat die Forschung entscheidend mit nach vorne gebracht. 

Auch das wurde gewürdigt: Bärbel Söhlke wurde die Medaille der „Deutschen Krebshilfe“ verliehen. Ihr Engagement und das der anderen Frauen hat dazu beigetragen, nicht nur ihr eigenes, sondern das Leben vieler LungenkrebspatientInnen zu retten.

Aber eigentlich hat die Mathematikerin nur ihren Job gemacht: Sie hat eine Lösung für eine schwierige Aufgabe gefunden.  

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