Wiederentdeckt: Die Film-Pionierin

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Wenn eine Frau maßgeblich an der Entstehung einer neuen Kunstform mitwirkt, wie oft muss sie dann wiederentdeckt werden, bis sie endlich ganz selbstverständlich in den Kanon aufgenommen wird? Mindestens zwei Mal, muss man wohl mit Blick auf das Schicksal von Alice Guy-Blaché feststellen. Denn die Französin ist zwar eine Pionierin des Films, konnte jedoch selbst nicht mehr erleben, dass ihr Kunstschaffen anerkannt wurde. Ja sogar heute, wo Filmemacherinnen Guy-Blachés Werk bereits zum zweiten Mal entdecken – in den Siebzigerjahren erlebte sie im Zuge der Frauenbewegung eine erste kurze Welle der Wiederentdeckung – sucht man ihren Namen in vielen Standardwerken der Filmgeschichte noch immer vergebens. Dabei sollte er in einem Atemzug mit den Brüdern Lumière und Georges Méliès genannt werden, denen man die Erfindung des Films als Kunstform für gewöhnlich zuschreibt.

Dass sie als Frau den Mut hatte, eine neue, revolutionäre Technik auszuprobieren und obendrein in ihren Filmen lauter aktive Frauenfiguren zeigte, die reiten, schießen, kämpfen und sich Männern ebenbürtig erweisen, mag schon in ihrer Kindheit begründet liegen. 1873 in eine wohlhabende französische Familie in Paris geboren, wächst Alice Guy als Jüngste von vier Geschwistern vornehmlich unter Frauen auf. Der Vater kehrt kurz nach der Geburt als Geschäftsmann nach Chile zurück, um das Kleinkind kümmert sich in den ersten drei Jahren die Großmutter in der Schweiz, erzählt ihr Geschichten und singt ihr Lieder vor. 1876 holt die Mutter Alice nach Valparaiso, wo sie gemeinsam mit ihrem Mann eine große Bücherei betreibt. Alice lernt Spanisch, kehrt jedoch bereits drei Jahre darauf in die Schweiz zurück, wo sie mit ihren drei Schwestern ein Mädcheninternat besucht. Die Eltern ziehen nach dem Tod des ältesten Sohnes kurz vor der Jahrhundertwende nach Paris zurück, doch bald darauf stirbt auch der Vater, sodass Alice und ihre Mutter sich selbst versorgen müssen (die älteren Schwestern sind da bereits verheiratet und aus dem Haus). So kommt es, dass Alice sich als Sekretärin beim Kamerahersteller Gaumont vorstellt. Schlagfertig war sie schon damals. Als ihr zukünftiger Chef sie zunächst mit der Begründung ablehnen will, sie sei für die Stelle viel zu jung, antwortet die 18-jährige Alice: „Aber mein Herr, das geht doch vorbei.“

Léon Gaumont, Inhaber der gleichnamigen Firma, stellt sie als seine Stenotypistin ein und nimmt sie mit, als die Brüder Lumière in Paris ihren ersten Film zeigen: die Aufnahme eines einfahrenden Zugs in einen Bahnhof. Das Publikum ist begeistert vom neuen Medium, doch nur die junge Frau fragt sich, ob man damit nicht mehr anfangen könnte, als den Alltag zu dokumentieren.

Ursprünglich hatte Alice Schauspielerin werden wollen, doch der Beruf war im bürgerlichen Milieu ihrer Familie höchst verpönt. In einem Interview erinnerte sie sich später an die Empörung ihres Vaters: „‚Schauspielerin? Niemals, lieber sähe ich dich tot.‘ So war die Bourgeoisie damals eben.“ Da sie trotzdem gern Geschichten erzählen wollte, fragte sie ihren Chef, ob sie sich eine der Kameras für Filmarbeiten leihen könnte. Warum nicht, bekam sie zur Antwort, es handle sich dabei ja nur um ein Spielzeug. Alice Guy sollte den Gegenbeweis antreten. Gemeinsam mit zwei Freundinnen nahm sie an einem Wochenende 1896 das auf, was heute als einer der ersten (wenn nicht sogar als der erste) Spielfilm der Filmgeschichte gilt: „La Fée aux Choux“, eine kurze amüsante Erzählung über eine Fee in wallenden Kleidern, die Babys aus Kohlköpfen hervorzaubert. Der wenige Minuten lange Stummfilm zeigt bereits, wofür die Regisseurin wenige Jahre später bekannt werden sollte: Humor, Fantasie und einen weiblichen Blick beim Erzählen einer Geschichte.

Damit schuf „das Mädchen für alles“, wie sie ihre Stelle bei Gaumont in ihren Tagebüchern bezeichnete, ein Alleinstellungsmerkmal für sich und für ihren Arbeitgeber. Gaumont erkannte das Potenzial des neuen Mediums und erbaute eines der ersten Filmstudios. Alice Guy blieb auch beim Film „Mädchen für alles“ oder wie man später sagen würde: Sie war die erste Auteur-Filmerin des Kinos. Sie schrieb ihre eigenen Drehbücher, führte Regie, produzierte ihre Filme selbst, ja sogar um Schnitt und Zwischentitel kümmerte sie sich. Neugierig wie sie war, wollte sie herausfinden, was mit diesen neuen Geräten möglich war. So schreibt man ihr heute als Erster den Gebrauch von Nahaufnahmen zu; sie färbte Filmmaterial ein und war Pionierin bei der Synchronisation von Ton- und Bildaufnahmen.

Auch Ideen wie Splitscreens und Doppelbelichtungen nutzte sie, um ihre witzigen Geschichten zu erzählen. Eine etwa handelt von einer betrunkenen Matratze, die durch die Gegend hüpft und Hügel hinunter kullert. Immer hinterher läuft ihre Besitzerin, die das widerspenstige Ding einzufangen versucht – Alice forderte von ihrer Darstellerin vollen Körpereinsatz im Ringen mit dem Ungetüm, der Slapstick-Humor funktioniert noch heute. Im Kurzfilm „Madam’s Cravings“ (1907) läuft eine schwangere Frau durch Paris und geht schamlos ihren Gelüsten nach, schnappt sich vom Männertisch ein Glas Absinth im Straßencafé, raucht und lässt ihren Mann mit Kinderwagen ihres Erstgeborenen hinter sich aufräumen. Feministische Themen und Humor wurden zu Guy-Blachés Markenzeichen. Den Höhepunkt darin stellt wohl „The Consequences of Feminism“ (1906) dar, in dem sich Alice Guy eine Welt ausmalte, in der die Geschlechterrollen umgedreht waren. Männer nähen, bügeln, machen sich vorm Spiegel hübsch, während die Frauen in Clubs debattieren, Führungspositionen ausüben und Männer verführen, wenn sie Lust dazu haben – kurzum, sie illustriert als Utopie, was die konservativen Karikaturisten damals als Horror des Feminismus an die Wand malten. Der Filmemacher Sergej Eisenstein wird dieses Werk mit acht Jahren sehen und davon so beeindruckt sein, dass er es noch bis ins hohe Alter als eine seiner prägenden Filmerfahrungen beschreibt.

Was sich Alice Guy in den Filmen ausmalte, hatte wenig mit ihrem Alltag zu tun. In ihrem Tagebuch hielt sie rückblickend auf das Entleihen ihrer ersten Kamera fest: „Wenn die Entwicklung, die die ganze Sache nahm, voraussehbar gewesen wäre, hätte ich niemals die Erlaubnis dazu bekommen. Meine Jugend, meine Unerfahrenheit, mein Geschlecht, alles stand mir im Wege.“ Doch gerade das schien sie anzuspornen. Sie produzierte dutzende kurze Spielfilme. 1900 sorgte sie mit ihrer Arbeit auf der Weltausstellung in Paris für Aufsehen. Fünf Jahre später wagte sie sich an das Großprojekt der Passionsgeschichte. Sie erzählte „Das Leben Christi“ in einem aufwändigen 25-minütigen Spielfilm, für den sie 300 Statisten koordinierte. Auch hier kamen ihre revolutionären Ideen für Spezialeffekte zum Einsatz: Durch eine geschickte Kamerabewegung lässt sie ihren Jesus bei seiner Auferstehung in die Höhe schweben. Der Film wurde vom zeitgenössischen Publikum gefeiert. Doch schon wenige Jahrzehnte später schrieben Filmhistoriker die Urheberschaft des Werkes ihrem Assistenten zu, konnten sie sich doch nicht vorstellen, dass eine so frühe, so große Produktion von einer Frau geleitet wurde.

Für Alice Guy bedeutete ein solches Frauenbild einen immerwährenden Kampf, selbst im Privatleben. 1907 heiratete sie den einige Jahre jüngeren Kameramann Herbert Blaché. Das Paar hatte sich bei gemeinsamen Dreharbeiten kennengelernt und ging bald nach der Eheschließung nach Amerika. Der Mann als Angestellter für Gaumont, Alice nur noch als seine Frau ohne Anstellung. Während die junge Regisseurin schon bald die Rolle als Mutter erproben musste, stellte sie jedoch fest, dass sie ohne die Kunst nicht leben konnte. Sie schrieb in ihren freien Minuten Drehbücher, entwarf Setdekorationen, plante Filmprojekte und gründete schließlich mit ihrem Mann „Solax“, ein eigenes Studio in New Jersey.

Bei der Wahl ihrer ersten Filmstoffe in Amerika zeigte sich, dass Alice Guy-Blaché nicht nur eine kreative Künstlerin, sondern auch eine hervorragende Geschäftsfrau war. „Solax“ drehte Cowboyfilme, denn wie Alice später in einem Interview bemerkte: „Die waren damals sehr populär.“ Auch hier setzt sie auf einen weiblichen Blickwinkel, besetzt Heldinnen, die mit Pistolen umzugehen wissen. Sie hat auch vor gefährlichen Stunts keine Angst, lässt Autos in die Luft jagen und dreht mit echten Tigern. Im Studio lässt sie Banner aufhängen, die ihre Schauspielerinnen und Schauspieler auffordern: „Be natural!“ (Seid natürlich!) – schon dieser Ansatz war seiner Zeit voraus und führte dazu, dass ihre Filme und deren Darsteller auch für heutige Sehgewohnheiten noch immer modern und authentisch wirken.

In einem Artikel für eine amerikanische Zeitschrift schreibt Alice Guy-Blaché: „Es gibt nichts beim Filmemachen, das Frauen nicht genauso leicht fällt wie Männern, es gibt keinen einzigen Grund, warum sie die technische Seite dieser Kunst nicht ebenso vollständig meistern sollten.“ Unter ihrer Anleitung und Zusprache beginnt die Schauspielerin Lois Weber selbst Regie zu führen, sie wird die erste amerikanische Regisseurin.

Guy-Blachés Arbeit bekommt in jenen Jahren einen zunehmend politischen Aspekt. Selbst als sie 1911 mit ihrem zweiten Kind schwanger ist, dreht sie weiter Filme und thematisiert dabei Antisemitismus (A Man’s a Man, 1912), Einwanderungsprobleme (Making an American Citizen, 1912) und den Arbeiterkampf (The Strike, 1912). Gemeinsam mit der Feministin Rose Pastor Stokes setzt sie sich für Geburtenkontrolle und sexuelle Aufklärung ein. Die beiden Frauen schreiben das Drehbuch „Shall the parents decide?“ (1916), der Film soll zur Eröffnung der „Birth Control Clinic“ von Margaret Sanger, einem Vorläufer des heutigen amerikanischen „Planned Parenthood“-Programms, Premiere feiern. Sanger wird kurz nach der Klinikeröffnung verhaftet, der Film niemals umgesetzt. Mehr als hundert Jahre später wissen wir, dass Alice Guy-Blaché auch hier ihrer Zeit voraus war und das Thema heute aktueller denn je ist.

Nur ein Schicksalsschlag konnte diese Frau bremsen, die so viel Energie in ihre Kunst steckte. Herbert Blaché hatte das Vermögen der Familie in den späten Zwanzigerjahren an der Börse verspekuliert und sich mit einer Schauspielerin nach Los Angeles abgesetzt, wo sich die amerikanische Filmindustrie anzusiedeln begann. Das Solax-Studio in New Jersey war für die Schulden des Ehemannes verpfändet, also reiste Alice ihm mit den Kindern hinterher, konnte jedoch weder ihre Ehe retten, noch eine neue Karriere in den Hollywood-Studios aufbauen. Ihr Mann bot ihr stattdessen an, sie als seine Assistentin anzustellen. Gemeinsam mit den Kindern geht sie nach Frankreich zurück. Dort hat man die Frau, die half, Gaumont erfolgreich zu machen, nach zwei Jahrzehnten fast vergessen. „Eine Frau mit weißen Haaren will niemand mehr anstellen“, beklagte sie in einem Brief an ihren ehemaligen Chef. Als sie kurz vor ihrem Tod im Alter von 95 Jahren ihre Memoiren schrieb, fand sie keinen Verlag, der diese veröffentlichen wollte.

Als die amerikanische Dokumentarfilmerin Pamela B. Green 2018 beim Filmfestival Cannes ihren Film „Be Natural“ über die Filmpionierin vorstellte, hörten viele im Saal den Namen Alice Guy-Blaché zum ersten Mal. Green stellt ihrer Doku eine Befragung von Dutzenden Filmemachern voran, alle zucken mit den Schultern. Lediglich die Filmproduzentin Gale Anne Hurd („Alice hat auch als Assistentin angefangen, so wie ich für Roger Corman.“) und die Regisseurin Ava DuVerney („Auf der Suche nach den ersten schwarzen Darstellern sah ich ihre Kurzfilme.“) konnten mit dem Namen etwas anfangen. In aufwändiger Recherche rekonstruiert Green das Leben und Werk der Filmpionierin, wühlt sich durch Dachbodenfunde, sichert Nachlässe, sucht nach Abspielgeräten für längst vergessene Filmformate. Und sie geht auch kurz auf die erste zaghafte Wiederentdeckung Guy-Blachés ein: 1970 erinnerte das französische Frauen-Filmfestival Créteil an weibliche Filmemacher. Die Feministinnen der zweiten Welle entdeckten dabei auch das umfassende Werk Alice Guy-Blachés – heute geht man von mehr als tausend Filmen aus, die diese Frau drehte und produzierte. Green zeigt die Aufnahmen einer Diskussionsrunde, in der männliche Kritiker den filmgeschichtlichen Stellenwert dieser Frau anzweifeln und ihre Kunst als minderwertig abtun. Dass diese Männer damals entschieden, wer zum Kanon gehört und wer nicht, zeigt sich auch darin, dass Alice GuyBlaché abermals mehrere Jahrzehnte in Vergessenheit geriet.

1997 begab sich die Dokumentarfilmerin Katja Raganelli auf ihre Spuren, rund 20 Jahre später folgte Pamela B. Green, an deren Film sich auch zeigen lässt, dass sich in Hollywood mittlerweile einiges geändert hat. Jodie Foster, die von der Schauspielerin zur Regisseurin geworden ist, hat „Be Natural“ produziert, sie leiht dem Film auch ihre Stimme als Erzählerin. Filmemacherinnen wie Raganelli und Green ist es gelungen, wichtige Quellen für die Forschung zu erschließen. Für den deutschsprachigen Raum zog die „Edition Filmmuseum“ im vergangenen Jahr nach und widmete Alice Guy-Blaché eine eigene DVD-Edition, die sowohl Raganellis Recherchen, als auch eine Auswahl der Komödien der Filmemacherin umfasst. Dass Alice Guy-Blaché ein fester Platz im Kanon der Filmgeschichte gehört, kann niemand mehr bestreiten.

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