Belarus: Die Rolle der Frauen
Ines Geipel: Iryna, die Revolution in Belarus läuft seit August 2020. Ein ganzes Jahr Aufstand. Wir haben damals im Fernsehen auf den Straßen die Frauen in Weiß gesehen, die Fahnen, Blumen, Transparente. Und jetzt?
Iryna Herasimowitsch: Man hat das Gefühl, alles Lebendige ist in Gefahr, ausgerottet zu werden. NGOs und Vereine werden einer nach dem anderen geschlossen, viele Menschen verlassen das Land. Entweder, weil sie unmittelbar bedroht sind oder weil sie es nicht mehr aushalten. Es gibt kaum noch Freiräume. Als würden wir einbetoniert. Das Ganze ist so offensichtlich wie nie, es gibt kaum noch Grautöne. Das ist der eine Aspekt.
Und der andere Aspekt?
Menschen reagieren in so einer Drucksituation sehr unterschiedlich. Um nur zwei Beispiele zu nennen: Ein Künstlerfreund in Minsk, der bei den Protesten aktiv war, spricht von totaler Apathie und Orientierungslosigkeit; ihm fehle sogar die Kraft, sich auf ein Stipendium zu bewerben. Ein anderer Freund, Verleger und Schriftsteller, der unter enormem Druck lebt, lädt mich stattdessen ein, Jury-Mitglied bei einem Literaturwettbewerb zu werden, den er ins Leben rufen will. Noch dazu hat er angefangen, an einem neuen Buch zu arbeiten.
Und was ist mit denen, die ins Exil gegangen sind?
Auch die gehen mit der Situation sehr unterschiedlich um. Es gibt nicht wenige, die einzig und allein mit dem Belarus-Thema unterwegs sind. Das ist natürlich heikel.
Iryna, lass uns über die Frauen in Belarus sprechen.
Auch da gibt es natürlich viele Facetten. Denn es war ja so, dass die Frauen erst wirklich sichtbar und aktiv wurden, nachdem die Männer zu den Wahlen nicht zugelassen, bzw. verhaftet worden waren. Diese lange öffentliche Unsichtbarkeit hat viel mit der traditionellen Rolle der Frauen in der belarussischen Gesellschaft zu tun. Die Frauen bei uns sollen Dekor sein, Mütter sein, aber vor allem unsichtbar bleiben. Dabei waren sie zumindest seit der Wendezeit vor allem in den Familien oft diejenigen, die die Entscheidungen trafen.
Auch während der ostdeutschen Revolution waren die Frauen ja oft die Ersten auf den Barrikaden, die Stürmerinnen der Stasizentralen, die radikalen Veränderinnen ...
Ja, auch in Belarus waren die Frauen in dieser Umbruchsphase die Initiatorinnen und die Flexibleren. Und sie haben geackert, für die Familie, für die Kinder. Ich glaube, diese Erfahrung hallt immer noch nach. In der Generation meiner Eltern ging es für die Frauen darum, den Mann zu unterstützen, sich selber für seine Karriere zurückzustellen, ihm einen Rückzugsort zu schaffen. All das gilt bis heute als erstrebenswerte Frauenrolle für viele Belarussinnen. Nach meinen Beobachtungen entscheiden sich viele nach wie vor bewusst für diese Rolle: Stütze und Hilfe für den Mann zu sein.
Aber hat sich da jetzt nicht etwas geändert?
Ich glaube, die Frauen, die auf die Straße gegangen sind, um damit ihre Männer und Söhne bzw. Kinder zu schützen, passen letztlich ganz gut ins Bild der traditionellen Frau, die sich für ihren Mann und ihre Familie stark macht. Klar gab es auch andere Motive, aber passend zum patriarchalen Bild hieß es erst einmal, dass es sicherer wäre, wenn nur Frauen auf die Straße gingen, da der Kampf gegen sie für Männer zu gefährlich würde. Und am Anfang war es ja auch tatsächlich so, dass Frauen von der Polizei nicht so brutal behandelt wurden.
Und die Frauen in Weiß, die im letzten Sommer in den Medien plötzlich so sichtbar waren?
Diese Aktionen wurden von einer Event-Managerin konzipiert: die schönen Frauen in Weiß gegen die bösen Männer in Schwarz. Das hat medial ja auch extrem gut funktioniert. Aber eigentlich hatten die Frauen selber zu dem Zeitpunkt noch gar keine eigene politische Agenda.
Und haben sie die jetzt?
Frauen sind heute auch in Belarus in ganz anderer Weise drin im Geschehen. Viele - und zwar aus allen Generationen - sitzen jetzt im Gefängnis. Und dann sind da die Frauen, deren Männer im Gefängnis sind und die sich nun allein um die Kinder kümmern müssen. Übrigens werden dabei auch die Kinder politisch missbraucht, um Druck auf die Frauen zu machen. Nach meinen Beobachtungen thematisieren die belarussischen Frauen aber heute viel öfter und auch lauter die emotionale und psychische Seite der Krise.
Wie meinst Du das konkret?
Was könnte die spezifische Agenda der Frauen in dieser Revolution sein? Ein Teil von ihnen meint, es sei noch zu früh für die Emanzipation und eigentlich gäbe es andere Sorgen. Andere wollen die neue weibliche Sichtbarkeit nutzen, um ihre Positionen und Themen öffentlich zu forcieren. Ich hoffe allerdings, dass der weibliche Protest nicht dabei stehen bleibt, dass schöne Frauen in Weiß gegen dunkle Gewalt sind. Ich fände es gut, wenn es egal wäre, ob die Frauen schön sind oder nicht, ob sie in Weiß, Regenborgenfarben oder eben gepunktet aktiv werden. Was in meinen Augen fehlt, sind unterschiedliche Entwürfe, wie man als Frau das eigene Leben gestalten kann. Vor allem aber geht es darum, dass Gewalt möglichst früh erkannt und auch thematisiert wird. Dass wir öffentlich darüber sprechen können.
Du sprichst von politischer, von struktureller Gewalt?
Auch die Frauen bei uns sind oft selbst abhängig, ob familiär oder beruflich. Sie „müssen" schön und gütig sein, „müssen“ sich anpassen. Deswegen dulden sie oft die Gewalt der Ehemänner, der Vorgesetzten, greifen aber auch selbst zu Manipulationen und Umwegen. Diese weibliche Selbstentfremdung ist auch ein starker Nährboden für Gewalt. Frauen sind ja in der Bildung, in der Medizin, aber auch in den Verwaltungsberufen in der Mehrzahl. Wir kennen alle diese Lehrerinnen, die ihre Schülerinnen schikanieren. Hier fängt doch die Gewalt schon an.
Schlägt das Pendel in der langen Krise eher zurück, oder siehst Du, dass etwas nach vorn geht?
Meine große Hoffnung ist, dass die belarussische Gesellschaft, wenn sie überlebt, sensibler in Bezug auf jede Art von Gewalt sein wird. Nicht nur in Bezug auf die staatliche Gewalt, sondern auch in Bezug auf die private Gewalt. Das hängt ja zusammen.
Das Interview führte Ines Geipel.