Die Schatten des irischen Terrors

Gerry Adams, 65, ist heute der Parteiführer von Sinn Féin.
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In ganz West-Europa kämpften in diesen Jahrzehnten Regionen um ihre politische Autonomie, so auch Nordirland. Es strebte den Zusammenschluss mit der katholischen Republik Irland an. Die IRA kämpfte dafür mit großer Selbstgerechtigkeit und schonungslos. Angeblich hatte die 37-jährige Jean McConville Geheimnisse an die Briten verraten.

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Gerry Adams, 65, damals einer der führenden Terroristen, ist heute der Parteiführer von Sinn Féin, dem legalen politischen Arm der IRA, die 2005 aufgegeben hatte. Zu dem Mord an McConville bekannte die IRA sich erst 1999. Sinn Fein tritt zu den bevorstehenden Europawahlen sowie bei den Kommunalwahlen an. Adams wurde zunächst verhaftet und nach vier Tagen vorläufig auf freien Fuß gesetzt. Die Ermittlungen gehen weiter.

McConvilles Sohn Michael begrüßte die Verhaftung von Adams mit den Worten: „Wir wollen nur, dass unserer Mutter Gerechtigkeit widerfährt.“ Gleichzeitig erklärte Michael laut FAZ der BBC: Die Täter seien ihm zwar bekannt, er werde aber nichts sagen, da er Angst habe, dass „eines meiner Kinder von diesen Leuten erschossen wird“.

Für EMMA analysierte Sigrun Saundersen, die lange in Irland gelebt hat, 2005 den tödlichen (Männlichkeits)Wahn einer „Befreiungsbewegung“ wie der IRA. Hier ihr Text.

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Die Wut der fünf Schwestern

Die McCartney-Schwestern haben es gewagt, Sinn Féin den Kampf anzusagen.
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Spätestens seit dem Höhepunkt der nordirischen Troubles in den 70er Jahren war das eiserne Schweigen der IRA-Mitglieder einer der Gründe für die Unschlagbarkeit der Bewegung. Nicht einmal die brutalen Foltermethoden der britischen Armee, die Amnesty International auf den Plan riefen, konnten einen IRA-Aktivisten zum Sprechen bringen.

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Auch auf die Unterstützung der restlichen katholischen Bevölkerung konnten sich die IRA-Milizen seit Generationen verlassen. Die republikanische Bewegung in Nordirland hielt zusammen wie eine große Familie. Die einen jagten ganze Einkaufsstraßen in die Luft, die anderen hielten dicht. Die einen lauerten einem Armeetransporter auf und ballerten 18 britische Soldaten in Grund und Boden, die anderen stilisierten die Attentäter zu Freiheitskämpfern. Und alles für ein "Freies Irland".

Ja, da waren die IRA-Kumpels noch Helden. Doch seit der Friedensprozess im Gang ist, sind Helden nicht mehr gefragt. Und das, wo die Organisation gerade so gut läuft. Aus professionell geplanten Banküberfällen gefüllte Kassen, Waffen, Munition und Sprengstoff im Überfluss. Aber der Waffenstillstand, den Gerry und Martin ausgehandelt haben, muss eingehalten werden.

Was macht der kampfbereite, im Waffengebrauch trainierte IRA-Killer? Er geht mit seinen Kumpels ins Pub. Dort gibt's was zu trinken und da kann es schon mal vorkommen, dass er sich mit einem Typen anlegt, der ihm sowieso schon länger nicht in den Kram passt. Und weil die IRA-Kumpels gerade so gut drauf sind und der Typ nur einen einzigen Freund dabei hat, machen wir die jetzt so fertig, dass sie nicht mehr aufstehen. Dass der Typ schon kapitulierend beide Hände in der Höhe hat, macht es nur leichter, ihm die Innereien aufzuschlitzen.

Die zwei Männer liegen reglos in ihren Blutlachen an einer Straßenecke, die Kumpels gehen zurück ins Pub, um "aufzuräumen". Das Überwachungsvideo muss verschwinden. Das Messer und blutige Kleidung ebenfalls.  Alles Routine. Die anderen Gäste im Pub werden mit einem scharfen Blick daran erinnert, dass sie nichts gesehen haben. Die meisten der 72 Anwesenden werden der Polizei später erzählen, dass sie "gerade auf dem Klo" waren, als der Trouble losging.

Der 33-jährige katholische Familienvater Robert McCartney stirbt an seinen Verletzungen, sein Freund kommt noch einmal davon. Die Polizei sucht nach Zeugen. In der kleinen republikanischen Gettosiedlung in Belfast weiß inzwischen jeder, dass die IRA mit dem Mord zu tun hat. Aber jeder hier weiß auch was es heißt, einen IRA-Angehörigen der Polizei auszuliefern. Ein Schuss ins Knie ist da noch eine nachsichtige Strafe. Viel eher gräbt man Jahre später deine Leiche irgendwo aus dem Sand.

Doch mit einem hatte die härteste Terrororganisation in Westeuropa nicht gerechnet: mit den fünf Schwestern des Opfers! Als sie hören, dass der Tatort "gesäubert" worden war und der Mord vertuscht werden sollte, werden Paula, Donna, Gemma, Ciaire und Catherine zornig. So zornig, dass sie die Angst vergessen. "IRA oder nicht - wir wollen Gerechtigkeit!"

Die fünf Schwestern kleben Plakate in der Nachbarschaft, appellieren an die Nachbarn: Ihr müsst doch irgendwas gesehen haben! Und so langsam vergessen auch die anderen die Angst - und kriegen Wut. Über 600 Nachbarinnen demonstrieren mit den Schwestern für eine Aufklärung des brutalen Verbrechens. Es regt sich der Aufstand gegen die einstigen Helden, die über die Jahre unbemerkt zur mafiosen Ganovenbande mutiert waren. Höchste Zeit für die Kumpels, die Reihen zu schließen.

Phase 1: Alles abstreiten. Ex-Bürgermeister Alex Maskey von der republikanischen Partei Sinn Fein: "Die Polizei hat überreagiert und macht aus einer tragischen Schlägerei eine politische Affäre. Es hat keine Vertuschung durch die Republikaner gegeben. Das ist völliger Unsinn."

Jetzt werden die fünf Schwestern noch zorniger. Gemma, die 41-jährige Krankenschwester, hat sich vorläufig beurlauben lassen; Paula, Mutter von fünf Kindern, vernachlässigt ihr Erwachsenenstudium der Frauenforschung; Catherine, Lehrerin der Geschichte und Politikwissenschaft, lässt sich seit Wochen vertreten; die Jüngste, Ciaire, ist 26 und jobbt noch als Aushilfslehrerin; Donna hat eine kleine Sandwich-Bar in Belfasts Zentrum, die sie nicht einfach zusperren kann: Sie verkauft tagsüber weiter belegte Brote und diskutiert abends mit den Schwestern die nächsten Schritte.

Die fünf treten vor die Kameras und sprechen endlich laut aus, was schon lange insgeheim jeder weiß. Sie beschuldigen die IRA öffentlich, die Mörder zu schützen, indem sie Zeugen bedrohen. "Wir bitten alle, die irgendetwas darüber wissen, mutig zu sein und den Mund aufzumachen. Bitte. Ihr müsst reden."

Die Medienmaschine läuft. Paulas winziges Reihenhaus wird zur Zentrale der Kampagne und ist täglich von Journalisten belagert. Die Welt will wissen, wer es hier so couragiert mit der selbst vom Staat gefürchteten IRA aufnimmt. Politiker freuen sich über den Angriffspunkt gegen Sinn Fein, auch als "politischer Arm der IRA" bekannt. Die Kumpels von IRA und Sinn Fein sehen ihr Image der Freiheitskämpfer bedroht.

Zeit für Phase 2: Einlullen. Sinn-Fein-Präsident Gerry Adams stellt sich öffentlich auf die Seite der McCartneys und nennt den Mord ein "unentschuldbares Verbrechen". Von nun an ruft er fast täglich die Schwestern an, versichert ihnen, dass er und seine Partei alles tun werden, um Roberts Mörder vor Gericht zu bringen. "Wir haben ihm zu dem Zeitpunkt wirklich vertraut", erinnert sich Gemma.

Die Schwestern bekommen Besuch von einigen hochrangigen IRA-Männern. "Die haben einen Haufen hysterischer Weiber erwartet." Die fünf lassen sich nicht mit leeren Worten abspeisen und verlangen Taten. Die IRA soll die Verantwortlichen der Polizei ausliefern und aufhören, Zeugen zu bedrohen. Die irischen Zeitungen klagen: "Die Frauen haben ihren Beschützer vergrault."

Jetzt erklären die fünf Schwestern und die Lebensgefährtin des toten Bruders der IRA den Krieg. Sie suchen Hilfe im Ausland. Der amerikanische Konsul sichert ihnen seine Unterstützung zu. Die Premierminister Englands und Irlands nützen die McCartney-Affäre nach Kräften, den Druck auf Sinn Fein und die IRA zu erhöhen. "Es ist Zeit, den kriminellen Aktivitäten der IRA ein Ende zu setzen." Der Druck von außen steigt.

Phase 3: Distanzieren. Wir lassen ein paar unserer Leute im Regen stehen. Ein zweites Treffen zwischen IRA und den Schwestern resultiert in einer öffentlichen Erklärung der Organisation, drei der in den Mord Verwickelten seien IRA-Mitglieder. Diese hätten aber als Individuen gehandelt, nicht im Auftrag der IRA, und werden daher vor das Heeresgericht gebracht. Sie bieten an, zwei der an der Tat beteiligten IRA-Männer zu erschießen. Zusätzlich geben sie den McCartneys die Namen von sieben Sinn Fein-Mitgliedern, die in der Mordnacht ebenfalls im Pub waren.

Doch die Schwestern lassen sich nicht mit der üblichen "internen Lösung" vom Tisch wischen und verlangen "Gerechtigkeit, nicht Rache", also einen ordentlichen Gerichtsprozess für die Mörder sowie alle, die an der Vertuschung beteiligt waren. Die Namen der sieben Sinn Fein-Mitglieder machen sie nicht öffentlich, sondern lassen sie Gerry Adams zukommen, der die sieben umgehend aus der Partei ausschließt. Und er fordert von allen Parteimitgliedern, die in jener Nacht im Pub waren, auszusagen.

Mitte März, sechs Wochen nach dem Mord, melden sich zwei junge Sinn Fein-Parteimitglieder. Sie wären in jener Nacht in der Bar gewesen, hätten aber nichts gesehen. "Egal was du sagst, sage nichts." Das gilt nicht nur für die IRA, sondern auch für ihren legalen Arm, die Sinn Fein. Die Schwestern rasen. "Das stinkt nach Verschwörung." Sie verdächtigen nun die gesamte Partei, an der Vertuschung erheblich beteiligt zu sein. "Das ganze Pub muss voll von denen gewesen sein." Die Anrufe und Besuche von Gerry Adams bei den Schwestern reißen abrupt ab.

Wendepunkt: Die öffentliche Demütigung. Die fünf Schwestern fliegen gemeinsam mit der Lebensgefährtin ihres toten Bruders zum irischen Nationalfeiertag nach Washington. Belfasts "Famous Five" wollen Amerika klarmachen, dass die Zeit der heldenhaften Freiheitskämpfer vorbei ist. "Heute haben wir es mit kriminellen Gangs zu tun, die das romantische Image der IRA benutzen, um Menschen auf offener Straße zu ermorden und sich dann ungestraft davonzumachen."

Die amerikanischen Medien sind begeistert von der rührenden Geschichte der Heldinnen. Die irische Community in Amerika - bisher finanzkräftiger Unterstützer der republikanischen Sache in Irland - droht sich gegen die IRA zu wenden. Gerry Adams, der seit Jahren zum St. Patrick's Day Dinner im Weißen Haus eingeladen war, muss dieses Jahr abseits des Medienglitzers den Staatsfeiertag begehen. G. W. Bush, Ted Kennedy und Hillary Clinton, allesamt langjährige Unterstützer des Sinn Fein-Präsidenten, wollen diesmal nichts mit Adams zu tun haben. Stattdessen zeigen sie sich mit den fünf Schwestern vor den Kameras. Spekulationen über die Folgen für Sinn Fein bei den Wahlen im Mai werden laut. Der britische Nordirland-Minister, Paul Murphy, verlautbart: "Über zukünftige Regierungsverhandlungen mit Sinn Fein sprechen wir erst wieder, wenn die Frage der kriminellen Aktivitäten der IRA gelöst ist."

Höchste Zeit für Phase 4: Einschüchtern. Martin McGuinness warnt die Schwestern in einer Pressekonferenz in Belfast vor der Verwicklung in die Parteipolitik. "Wenn sie weiterhin Sinn Fein direkt herausfordern und kritisieren, werden sie schrecklich viele Leute verärgern." Und einen Tag später: "Das sollte nur ein freundschaftlicher Ratschlag sein."

Am 20. März schreibt die Jugendsektion von Sinn Fein einen offenen Brief: "Die Schwestern haben den tragischen Tod ihres Bruders in ein politisches Spektakel verwandelt, anstatt Getechtigkeit für ihren Bruder zu suchen. Sie haben jetzt ihr wahres Gesicht gezeigt."

Eine grimmige Catherine hatte schon vor dem Weißen Haus erklärt: "Es ist uns bewusst, dass uns verschiedene Gruppen - Sinn Fein eingeschlossen - für ihre Interessen benutzen wollen. Aber wir können sehr gut für uns selbst sprechen. Irgendwer da draußen glaubt, dass jemand hinter uns steht und die Fäden zieht. Aber wir sind keine dummen Frauen. Der einzige Mann, der hinter dieser Sache steht, ist unser toter Bruder."

Es ist ihnen ernst, den fünf Schwestern und allen Irinnen, die durch den Mut der Frauen aufgewacht sind: Schluss mit der Rache - endlich Gerechtigkeit.
 

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