Doris Lessing: Kinder der Gewalt

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"Sie ist in der Lage, das Weltgeschehen ohne große Kunstgriffe transparent zu machen", schrieb die Berliner Schriftstellerin Jeanette Lander über Doris Lessing 1983 in EMMA.

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Der dritte Band ist da! Vierter und fünfter folgen binnen Jahresfrist! Endlich kann ich diesen fünfbändigen Roman-Zyklus "Kinder der Gewalt" von Doris Lessing als Einheit besprechen.
Wenn man die fast zwei tausend Seiten hintereinander weg liest, ist es ein Rausch. Worum geht es? Geht es um Martha Quest, die "Heldin" aller fünf Romane, deren Lebensweg ab ihrem 15. Lebensjahr über fünfzig Jahre hinweg verfolgt wird? Geht es um dieses halbe Jahrhundert Menschheitsgeschichte zwischen 1930 und 1980? Nein. Nicht nur.

Es geht um die Leserin, um den Leser. Es geht um uns "Kinder der Gewalt". Doris Lessing erklärt die Welt, und es fällt uns wie Schuppen von den Augen. Sie erklärt unsere Zeit, macht uns begreiflich, was wir schon immer wußten, aber wovon wir nicht wußten, daß wir es wissen. Man kann nichts lernen, was man nicht schon weiß, sagt Doris Lessing: Aber jede/r von uns weiß viel mehr, als sie/er sich bewußt ist, zu wissen. Wir machen Erfahrungen und ziehen daraus Erkenntnisse, die wir scheinbar vergessen, denn, nach diesen Erkenntnissen handeln wir nicht. Aber wenn eine ähnliche Erfahrung uns daran erinnert, dann wissen wir es wieder.

Es gibt keinen Ersatz für Erfahrung, sagt Doris Lessing, und sie sagt: man kann nichts lernen, was man nicht schon weiß - aber die Erfahrungen von Martha Quest sind auch unsere Erfahrungen. An die werden wir beim Lesen erinnert, und diese Erinnerung macht uns bewußt, was wir über uns selbst wissen, über unsere unausgesprochenen Handlungsmotive, geheimen Wünsche, uneingestandenen Schwächen, überspielten Ängste, preisgegebenen Moralsätze - und auch über unsere unerklärbaren Ahnungen, unheimlichen Eingebungen, instinktiven Reaktionen, sich bewahrheitenden Voraus-Sichten... Wir haben viel Erfahrung mit uns selbst und wissen viel über uns, was wir nach innen halb, nach außen ganz bemänteln - die Lessing deckt auf, mit leichter Hand, als lüfte sie kurz den Deckmantel. Gewiß kann man "vergessen", weiterhin so handeln wie bisher, aber man weiß, nachdem man diese Bücher gelesen hat, was in einem selbst verborgen liegt.

Klingt das kompliziert? Ist es schwer zu verstehen? Dann nur, weil es Angst macht. Lieber nicht so genau hingucken, wozu man alles fähig ist. Im Guten wie im Bösen. Der Verstand wehrt sich dagegen. Aber neugierig ist man dennoch, nicht wahr? Und das macht diese Bücher so spannend. Sie erhalten viele kleine Schlüssel zu den Innenkammern des Ich.

Dabei ist es immer scheinbar ganz simpel, was da im Leben der Martha Quest passiert. Am Anfang des ditten Bandes, "Sturmzeichen" (A Ripple from the Storni) ist sie eine junge Frau, die sich hat scheiden lassen, obwohl sie damit für immer das Anrecht auf ihr Kind aufgeben mußte. Sie stürzt sich in die politische Arbeit, erfährt diese Selbstaufgabe im Namen des Freiheitskampfes für die Völker der Welt als die Überwindung der bürgerlichen Kleinfamilie, macht sich im orthodox sozialistischen Sinne vor, ihr Kind vor der sich in jeder Generation wiederholenden Mutterfixierung zu bewahren, unter der sie selbst so leidet.

Martha ernährt sich durch Büroarbeit, macht diese und jene Erfahrung mit Männern, denkt über die Verlogenheit der sie zunächst "für" die alliierte Sowjetunion sind, nach dem Krieg aber "gegen" den Kommunismus. Sie erlebt die irrationalen Schwingungen in der linken Agitationsgruppe, der sie selbst angehört: Selbstüberschätzung, autoritäres, auch kindisches Verhalten... Martha selbst, die das alles beobachtet und reflektiert, ist keineswegs frei von Widersprüchen. Im Gegenteil, ihr größter Ärger ist ihre eigene Inkonsequenz, ihre scheinbare Unfähigkeit. Entschlüsse kühl und überlegt in Handlungen umzusetzen, ihr Hang, das zu tun. was von ihr erwartet wird, obwohl es zu dem in Konflikt steht, was sie tun will.

Daß Martha Anton Hesse, einen deutschen Kommunisten jüdischer Abstammung, der sich nach Afrika gerettet hat, heiratet, steht, wie ihre erste Ehe mit Douglas (über die der vorangegangene Band, "Eine richtige Ehe", berichtet hat) im Zeichen dieser Charakterschwäche. Hat sie denn nichts aus jener gescheiterten Ehe gelernt? Sie wollte doch überhaupt nicht wieder heiraten, schon gar nicht wieder einen Mann, den sie nicht liebt. Sie liebt Anton Hesse nicht, aber in den sich im Kriegszustand befindlichen britischen Kolonien Afrikas kann Antons Affäre mit ihr, einer unbescholtenen weißen Bürgerin, ihm, dem sowieso immer verdächtigen"feindländischen" Immigranten, die Arbeitsstellung, Aufenthaltsberechtigung - und damit auch seine politische Betätigung kosten. Entweder Heirat oder Trennung, so stellt sich der Konflikt für Martha dar. Martha, die nicht einmal weiß, warum sie in diese "Liebesaffäre" mit ihm hineingeschliddert ist (sexuell entspricht er ihr nicht, emotional gibt er ihr nichts), heiratet ihn.

"A Ripple from the Storm" ist nicht die Geschichte dieser Ehe, oder nur insofern sie betroffen ist von den Stürmen des II. Weltkrieges, deren Ausläufer in Kolonialafrika fühlbar waren: zersetzend für die bestehende Ordnung. Aber Bewegungen, die das Gesellschaftsgefüge erschüttern, rütteln auch an den Selbstverständlichkeiten des Einzelnen, und Martha. In ihrem Eifer eine neue, eine starke weil gerechte politische Ordnung zu schaffen, muß einiges über die Unordnung erkennen, in die ihr eigenes Leben immer wieder gerät. Martha, ein kleiner Kosmos, spiegelt den großen Kosmos wieder, von dem sie sich als Individuum abzuheben bestrebt ist, und den sie ändern will.

Daß sie in diesem Zustand oder vielleicht in diesem Land nichts Wesentliches verändern kann, weder an sich noch am System, wird ihr im vierten Band der Pentalogie, "Landumschlossen" (Landlocked), klar. Es gibt hierfür ein unverkennbares Zeichen: Die Ziele, für die Martha sich eingesetzt hat, an die sie geglaubt hat, die ihre eigenen waren, sind ausgehöhlt. Sie wiederholt eine Geste oder spielt eine Rolle Vorstellung für Vorstellung.
Sie schläft zum Beispiel hin und wieder mit Anton, obwohl ihre Ehe längst nur ein Abwarten auf seine Einbürgerung ist, die Scheidung beschlossene Sache. Sie rackert sich noch für die Agitationsgruppe ab, deren Mitglieder auseinandergelaufen, abgesprungen sind, deren einstige Ziele sie von bürgerlichen Parteien vereinnahmen und unterlaufen lassen haben, so daß die, denen sie zu Gleichberechtigung, zu Selbstbestimmung verhelfen wollten: die Schwarzen, längst eigene, radikale Führer haben.

Martha erlebt sich als abgetrennt von sich selbst, als aufgeteilt, wie eine Wohnung in Zimmer. Sie handelt als ein Teil von sich, wenn sie als Tochter am Sterbebett ihres Vaters sitzt; wenn sie als die politische Engagierte in einer Sitzung der vielen Komitees sitzt; wenn sie als Ehefrau neben Anton schläft. Zwischen diesen Teilen, diesen Rollen (im Englischen das gleiche Wort: parts) besteht keine Verbindung. Sie kann sich auch in dem einen Zimmer von sich aufhalten, die Wahrheit aber im Zimmer nebenan sein.

Ganz - ist sie mit Thomas. Mit ihm erlebt Martha jene Einheit der Körper und der Seelen, die sie "Liebe" zu nennen zögert, da sie nicht weiß, was Liebe ist. Das Ungespielte an ihrer Verbindung ("mit Thomas zusammen zu sein war so natürlich wie atmen"), der schmerzliche Prozeß des sich selbst für den anderen Demontierens, so daß jeder die Gedanken des anderen zu jeder Zeit kennt, diese Erfahrung prägt Martha nachhaltig. Als die Beziehung so organisch wie sie anfing auch zu Ende geht, kann sie Thomas doch immer noch "reden hören".

Martha sehnt sich unter den Trümmern ihrer Träume nach einem Traum. Sie fühlt sich eingeschlossen in diesem geistig unbewegbaren Kontinent. Sie fühlt sich wie ein auf Sand aufgelaufenes Schiff. Das Meer, Wasser, wird für sie Symbol für Leben, und die Reise übers Meer nach England, dem Mutterland - eine Reise von zu Hause nach Hause - bedeutet eine neue Chance, einen Neubeginn.

Ob nun London die erträumte "Stadt der vier Tore" ist? London ist jedenfalls die Stadt, mit der Martha im letzten Band, "Die viertorige Stadt" (The Four-Gated City), vorlieb nehmen muß. Eine durch die Veränderung veränderte Martha? Nein. Eher eine desorientierte Martha, die auszieht, sich selbst zu erfahren, wie sie es nur in der völligen Anonymität kann.

Wieder spielt sie Rollen, nun aber absichtlich und kontrolliert. Sie läuft Tage und Nächte durch die Stadt, ißt wenig, schläft kaum, setzt sich, auch sexuell, den letzen Reserven ihres Körpers aus, die zugleich die ersten Reserven ihres Geistes sind. Und Martha erreicht in diesem über 600 Seiten starken Roman (von dem man sich während des Lesens wünscht, daß er bloß nicht so schnell zu Ende ist), Kenntnisse von den Tiefen und Höhen zu denen sie fähig ist.

Ich würde wagen zu sagen, daß man am Ende der Lektüre mehr von der menschlichen Psyche versteht; wie und warum der Mensch seiner Intuition, seiner Instinkte beraubt wird; welche Funktion und welche Bedeutung der sogenannte Wahnsinn haben kann. Ich würde auch behaupten, daß man am Ende dieser Lektüre fähiger ist, seine sexuellen Hemmungen einzugestehen, sie im Kontext sozialer Zwänge zu analysieren; besser einzuschätzen, welche Möglichkeiten man überhaupt noch zur Kommunikation mit anderen Menschen besitzt, und daß man die Mechanismen kurzsichtiger politischer Machtspiele schneller durchschaut. Das alles, wie gesagt, anhand einer simplen und einfach erzählten Lebensgeschichte voller alltäglichen Begebenheiten: eine Affäre mit Jack; ein Posten als persönliche Sekretärin für den Schriftsteller Mark; ein Besuch der Mutter aus Rhodesien; eine Wahlkampfkampagne...

Doris Lessing ist in der Lage, Weltgeschehen, wie es im Leben des Einzelnen wirksam ist, und individuelle Verhaltensweisen, wie sie, von modischen Bewegungen abgeleitet und wieder in diese einmündend, das Weltgeschehen bestimmen, gleichzeitig transparent zu machen. Das macht sie auf die selbstverständlichste Weise, ohne große Kunstgriffe: eine Zeitungsnotiz löst eine Stimmung aus, die Stimmung wieder ein zwischenmenschliche Auseinandersetzung...

Am Ende dieses letzten Bandes hat Martha Quest die"permanente Person" in ihrer allzu anpassungsfähigen Persönlichkeit gefunden, den Teil von sich, der "durchgeht". Vor allem hat sie den in ihrer Kindheit angelegten Selbsthaß und seine Gegenseite, ihre Selbstgefälligkeit, aufgespürt, die die Quellen ihrer Inkonsequenz sind. Der Weg zu dieser Erkenntnis ist ein schonungsloser Prozeß des Sich-Er-innerns, den sie "die Arbeit" nennt. Kein Moment in der eigenen Vergangenheit darf "vergessen" sein.

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