Der Blick der Freier gilt allen Frauen

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Sie stand plötzlich vor meiner Tür. Sie müsse mit mir reden, unbedingt. So könne sie nicht länger leben. Sie war Mitte 20 und ab 16 auf den Strich gegangen, auf den Drogenstrich am Kölner Hauptbahnhof. Zu Hause abgehauen war sie, weil ihr Vater sie missbraucht hatte – wie 90 % aller Prostituierten (laut UN-Studie). Seit einigen Jahren war sie runter, mit Hilfe von Freunden. Aber es ließ sie nicht los.

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Sie klammerte sich an mich wie eine Ertrinkende: „Nachts liege ich wach oder habe Alpträume, tags Migräne. Anfassen darf mich keiner, sonst drehe ich durch. Mal spüre ich meinen Körper überhaupt nicht, mal brennt er wie Feuer. Alles ist angefasst, bis in mein Innerstes. Das Schlimmste waren die Demütigungen. Ich komme einfach nicht darüber weg …“

Das erste Mal saß ich 1967 mit Prostituierten in der Bordellküche in Mönchengladbach zusammen. Damals war ich noch Volontärin bei den Düsseldorfer Nachrichten, und gerade war die Frage aufgekommen, ob nicht auch „die Damen des ältesten Gewerbes der Welt“ (wie es neckisch hieß) Steuern zahlen sollten. Ich lernte viel an diesem Nachmittag. Unter anderem, dass so eine „Nummer“ im Schnitt nicht länger als zehn, zwanzig Minuten dauert, dann saßen Irene oder Ramona schon wieder am Küchentisch.

Nach zwei, drei Stunden Gespräch waren wir uns einig: Prostituierte haben nicht die gleichen Rechte, also sind ihnen auch nicht die gleichen Pflichten zuzumuten. So schrieb ich es. Gleich nach Erscheinen meines Artikels riefen die Frauen mich an: „Wollen wir nicht ein Blatt zusammen machen, in dem wir für unsere Rechte kämpfen?“

Das war vier Jahre vor der Frauenbewegung. Ich volontierte erst mal brav zu Ende und ging später nach Paris. Doch auch da dauerte es nicht lange, bis ich wieder mit Prostituierten an einem Tisch saß, diesmal zusammen mit Freundinnen aus der Frauenbewegung. Gemeinsam planten wir nun den Kampf für die Rechte der Prostituierten: Flugblätter und Aktionen gegen die Doppelmoral, die Prostituierte verurteilt und Freier toleriert; gegen die Polizeiwillkür, der die Prostituierten ausgeliefert waren; und für gleiche Rechte! Die Spießer waren schockiert, wir waren zufrieden. Ja, wir gehören zusammen – wir lassen uns nicht länger spalten in „anständige“ und „unanständige“ Frauen!

Was Prostitution ist, weiß im Grunde jede Frau. Fast jede hat es schon mal getan: aus „Gefälligkeit“, um nett zu sein, um des lieben Friedens willen, aus Angst. Nicht nur die Hausfrau, die in Ermangelung eigenen Geldes oft noch nicht einmal gehen kann, wenn sie will, prostituiert sich so manches Mal. – Dass diese feministische Erkenntnis allerdings einige Jahre später zu der postfeministischen Parole verkommen würde: Heterosexualität ist immer Prostitution, warum dann nicht gleich kassieren? oder: Prostitution ist ein Beruf wie jeder andere! – das konnten wir damals nicht ahnen.

Die mindestens 250.000 Frauen, die heute in Deutschland „anschaffengehen (die Schätzungen reichen von 50–400.000, Polizeiexperten gehen von 280.000 aus), haben im Monat im Schnitt nicht mehr als 1.000 € im Portemonnaie – jede zweite sogar unter 800 €. Von einem „gut und leicht verdienten Geld“ kann also keine Rede sein. Verschärft wird die Lage durch den Strukturwandel der Prostitution. Heute sind 90 % der Prostituierten in Deutschland Ausländerinnen, die meist unter Vortäuschung falscher Tatsachen oder mit Gewalt nach Deutschland verschleppt werden. Und etwa jede zehnte ist eine drogenabhängige Minderjährige. 

Ich bin also nicht der Meinung, dass Prostitution „ein Beruf wie jeder andere“ ist, wie es in Deutschland oder Holland so gerne propagiert wird. Männer kaufen bei Prostituierten nicht Sex, sondern Macht. Und erst die Nachfrage schafft den Markt. Und Freier sind heute die meisten Männer, allen voran die Verheirateten. Denn bei 250.000 Prostituierten in Deutschland müssen wir pro Jahr 1.500 sexuelle Kontakte pro Prostituierte rechnen (an 300 Arbeitstagen je fünf Kontakte – die unterste Grenze). Das macht 375.000.000 sexuelle Kontakte im Jahr (Sextouristen und homosexuelle Freier mit ihren Strichjungennicht mitgerechnet). Also 375 Millionen mal Sex für Geld im Jahr alleine in Deutschland.

Gehen wir einmal von zwei „Stammfreiern“ pro Prostituierter aus, die je 50 Kontakte im Jahr haben, so macht das 500.000 Stammfreier mit 25 Millionen Kontakten. Gehen wir weiter davon aus, dass der „Gelegenheitsfreier“ 15 Kontakte im Jahr hat, so macht das rund 24 Millionen Gelegenheitsfreier mit 350 Millionen Kontakten. Was hieße: Etwa 24.500.000 Männer in Deutschland kaufen sich jährlich eine oder mehrere Prostituierte (1999 leben in Deutschland 31.837.500 Männer über 18 Jahre). Das heißt: Rund drei von vier Männern in Deutschland sind Freier.

All diese Männer lassen den Freier natürlich auch zu Hause nicht vor der Tür. Ihr Begehren, ihr Blick auf Frauen, ihr Verhältnis zu Frauen wird zutiefst geprägt von der Erfahrung der Käuflichkeit einiger. Die Prostitution dringt so nicht nur ins Innerste der Prostituierten, sondern auch ins Innerste der Freier. Selbst die Männer, die es nicht tun, wissen, dass sie es tun könnten. Und schon das prägt die Einstellung. Früher gab es noch die „anständigen“ und die „unanständigen“ Frauen, heute sind alle Frauen Ware. Übrigens: Männer mit Abitur gehen doppelt so häufig zu Prostituierten wie Männer mit Hauptschulabschluss.

Prostitution ist also nicht nur ein Verstoß gegen die Menschenwürde. Prostitution degradiert alle Frauen zur Ware und alle Männer zu (potentiellen) Freiern. Sie zementiert das Machtverhältnis zwischen den Geschlechtern. „Das Schlimme ist noch nicht einmal der Sex“, hat einmal eine Prostituierte gesagt. „Das Schlimme ist, dass man ihnen immer Recht geben muss. Egal, was für einen Unsinn sie erzählen, du musst dazu nicken.“ Immer Recht haben. Machen können, was man will. Der Boss sein. Männer kaufen bei Prostituierten nicht Sex, sondern Macht. Er zahlt, sie liefert. Und auch noch die Peitschenhiebe sind bestellt.

Solange das Prinzip des Freiertums gesellschaftlich akzeptiert ist, sind alle Frauen ein Objekt. Die Tatsache, dass ein Mann die Erfahrung gemacht hat – oder auch nur machen könnte –, dass er für Geld das Recht auf den Körper und die Seele eines anderen Menschen kaufen kann, prägt und korrumpiert zwangsläufig das Verhältnis quasi jeden Mannes zu jeder Frau. Ob er will oder nicht. Nicht nur die Frauen müssen darum ein Interesse an der Abschaffung der Prostitution haben, sondern auch all diejenigen Männer, die diese unmenschlichen Verhältnisse zwischen den Geschlechtern nicht mehr wollen.

Frauen sind das verkaufte Geschlecht. Seit Jahrtausenden. Was nicht heißt, dass sich das nicht auch wieder ändern könnte. Siehe Schweden. Auf das Hohngelächter im Ausland reagierte die schwedische Regierung gelassen mit dem Hinweis, auch das Männerrecht auf Prügelstrafe für Frauen und Kinder sei bis vor kurzem für gottgegeben gehalten worden. Und: Auch die Sklaverei schien noch vor gar nicht langer Zeit unabänderliches Schicksal zu sein und ist dennoch heute abgeschafft. Auch beim Kampf gegen die Sklaverei waren es im 19. Jahrhundert die Frauen, die als Erste auf den Barrikaden standen – warum sollten wir also im 21. Jahrhundert nicht anfangen, endlich die Prostitution abzuschaffen?

Es ist nun schon über 50 Jahre her, dass die UNO ihre Konvention „zur Verfolgung von Menschenhandel und Ausbeutung der Prostitution anderer“ 1949 um folgenden Passus ergänzte: „Prostitution und ihre Begleiterscheinungen wie Menschenhandel sind mit der Würde und dem Wert des Menschen unvereinbar.“ Diese Erklärung wurde von allen UNO-Ländern unterzeichnet, auch von Deutschland. Zeit, dass sie eingelöst wird.

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