Betroffen

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Ich für meinen Teil habe begonnen, meine Freunde aufzuteilen: in diejenigen, die von der Krise im Nahen Osten „betroffen“, und diejenigen, die „unbetroffen“ sind. Ich bin doppelt betroffen. Ich bin eine Amerikanerin, die römisch-katholisch großgezogen wurde, aber der größte Teil meiner Familie waren deutsch-jüdische Flüchtlinge. Ich habe Familie in Israel, aber ich habe auch eine Tochter, die in Beirut lebt. Mein Herz schlägt für Israel, aber meine Angst gilt meiner Tochter und ihren Freunden.

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Viele meiner Freunde, besonders in Europa, sind nicht persönlich von der Krise betroffen und beziehen dennoch ebenso leidenschaftlich Stellung, nicht erst seit Juli. Die meisten haben im Laufe der Jahre Empörung über das Verhalten Israels geäußert. Als bekannt wurde, dass vierzig südlibanesische Dorfbewohner von israelischen Raketen „massakriert“ wurden, sind die Freunde, die wie ich Verbindungen zu Israel haben, zusammengezuckt und haben gelitten. Wir litten für die Toten, aber auch für Israel. Doch mehrere „unbetroffene“ Freunde riefen mich an, um mir in einem selbstgerechten, an Schadenfreude grenzenden Tonfall von dem Massaker zu berichten. Es war, als hätten sie soeben einen Prozess gewonnen, sie genossen es sichtlich.

Im weiteren Verlauf des Tages entdeckte man die libanesischen Dorfbewohner unversehrt in einem Keller. Die Unbetroffenen schienen geradezu betrübt, während die Freunde mit Verbindungen zu Israel eindeutig hocherfreut waren.

Israel sitzt auf der Anklagebank, weil es „böse“ ist, und daher ist jeder törichte oder absichtliche Fehler, den Israel macht, ein Grund zum Jubeln, während die Weltöffentlichkeit ihr Plädoyer abschließt. Denn die Wahrheit ist, dass über die Anklage gegen Israel schon vor langem entschieden wurde.
Im April diesen Jahres verbrachte ich einige Zeit im Libanon, und zunächst amüsierte mich der beiläufige Antisemitismus der Einheimischen. Er war so vulgär, so maßlos übertrieben, so unverfroren, dass ich darüber gelacht habe. In Deutschland könnte so etwas nie passieren. Ich habe ‚Adolf-Hitler-Cocktails‘ getrunken und geschmunzelt, als meine Tochter erzählte, dass ein Händler, der sie für eine Deutsche hält, sie mit „Heil Hitler“ begrüßt. Und er meint das nicht ironisch.

Am Geburtstag Hitlers erschien in einer liberalen ägyptischen Zeitung, die in Beirut verkauft wird und auf meinem Frühstückstisch im Hotel landete, ein Leitartikel, der des Führers gedachte und seine zu wenig geschätzte Rassenpolitik lobte. Hitler sei „seiner Zeit voraus“ und ein „Vorkämpfer“ gewesen. Auch darüber schmunzelte ich noch, wenn auch nicht mehr aus ganz vollem Herzen.

Ich hatte mich auch daran gewöhnt, zu hören, dass Israel Schuld hat an Hariris Tod (Anm. d. Red.: der ermordete libanesische Präsident). Was in Wirklichkeit unwahrscheinlich ist, und ich wusste, dass alle Syrien für verantwortlich hielten. Trotzdem ist es allgemein üblich zu sagen: „Syrien steckt nicht wirklich hinter der Sache. Es war Israel.“ Auf die Nachfrage, warum Israel denn Hariri erledigen sollte, habe ich nie eine Antwort bekommen. Israel ist böse …

Nach libanesischem Recht sind Kontakte mit Israel ein Gesetzesverstoß. Auf den Landkarten in libanesischen Schulen gibt es überhaupt kein Israel. In den Augen des Gerichts der Weltöffentlichkeit muss es mit alldem seine Richtigkeit haben, denn dagegen hört man niemals Proteste.

Eines Tages, als ich vor dem Schaufenster eines Antiquitätenladens stand, trat der Inhaber vor die Tür, um mit mir zu plaudern. Mit typisch libanesischer Gastfreundschaft lud er mich ein, mit ihm und seiner Familie hinten im Laden Tee zu trinken. Es stellte sich heraus, dass sie alle amerikanische Pässe hatten, weil sie Anfang der achtziger Jahre in die USA geflüchtet waren und es dort zu etwas gebracht hatten. Wir haben uns wunderbar unterhalten, während ich großzügig mit Süßigkeiten und Tee versorgt wurde. Da bemerkte unser Gastgeber beiläufig: „Die Juden sind ein Krebsgeschwür, das den gesamten Erdball zerstört.“ Ich hatte genug gehört. Ich war froh, den Libanon wieder zu verlassen.

Als der Krieg einige Wochen später ausbrach, wurde der Libanon als liberales Land dargestellt, das von den Israelis zerstört werde. Für alle stand fest, dass Israel einen großen Fehler gemacht und einen Freund im Nahen Osten verloren habe.

Diese Art von offenem Antisemitismus, wie er im Libanon üblich ist, ist auch im gesamten Mittleren Osten verbreitet, aber vor dem Gericht der Weltöffentlichkeit wurde er lange Zeit für unerheblich befunden. Vor diesem eigenartigen Gericht wird Israel für schuldig erklärt für die Vertreibung von fast 900.000 Palästinensern in den Jahren 1948/49. Aber wer hat Schuld an der Vertreibung von fast 900.000 Juden aus den verschiedenen arabischen Ländern in eben diesem Jahr? Diese Frage ist nicht Teil des Gerichtsverfahrens. Warum?

Vielleicht weil die aus den arabischen Ländern vertriebenen Juden eine willkommene Vermehrung des gerade flüggewerdenden jüdischen Staates darstellten. Es war egal, dass sie kein Hebräisch und keine europäische Sprache sprachen und aus einer Kultur kamen, die den meisten Einheimischen fremd war. Sie wurden integriert, weil sie gebraucht wurden – die meisten von ihnen wurden in ihrer neuen Heimat zu Bürgern zweiter Klasse und landeten in niederen Tätigkeiten.

Die vertriebenen Palästinenser, auf der anderen Seite, die in den Libanon gingen, bekamen weder einen Job, noch die Staatsbürgerschaft, noch irgendwelche Rechte. Nach 45 Jahren, im Jahre 1994, wurde ein Dekret erlassen, dass die Einbürgerung für Palästinenser vereinfachte. Zirca 60.000 der 400.000 Palästinenser erhielten daraufhin die libanesische Staatsbürgerschaft. 2003 wurde das Dekret rückgängig gemacht; gleichzeitig wurde mehreren tausend palästinensischen Familien die Staatsbürgerschaft wieder aberkannt.

Generationen von im Libanon geborenen palästinensischen Kindern sind im Libanon von Gymnasial- bzw. Hochschulbildung ausgeschlossen. Qualifizierte Palästinenser dürfen nicht als Arzt, Anwalt oder Architekt praktizieren, und ein 2001 erlassenes Gesetz verbietet ihnen, im Libanon Eigentum zu kaufen oder zu erben. Im Libanon existiert eine nicht unerhebliche vermögende Schicht, die zwar nie einen Cent für die „Flüchtlinge“ gespendet hat, aber gleichzeitig Israel für das Dilemma die Schuld gibt. Denn in dem moralischen Gerichtsverfahren gegen Israel wird selbst die Art und Weise, wie die Palästinenser von ihren Gastländern behandelt werden, Israel zur Last gelegt.

Ich schreibe dies nicht, um den Tod unschuldiger Zivilisten durch israelische Hand im Libanon zu rechtfertigen oder, was aus meiner Sicht noch schlimmer wäre, um die israelische Politik im Gaza-Streifen und im Westjordanland zu rechtfertigen. Aber in den palästinensischen Gebieten geschehen schreckliche Dinge, unzählige ungeheuerliche Menschenrechtsverletzungen, an denen nicht die Israelis schuld sind, doch die erregen kein internationales Interesse. Ich schreibe, um darauf aufmerksam zu machen, dass die Diffamierung Israels mittlerweile eine Art Gesellschaftsspiel darstellt, wie irgendeine abstruse Fernsehgerichtssendung. Dass ist wenig hilfreich.

Die Israelis sind sich des laufenden Verfahrens gegen sie überaus bewusst. Im weit entfernten Europa unterstützen die Regierungen Israel, vielleicht weil sie Angst vor den starken islamistischen Organisationen auf ihrem Grund und Boden haben. Die einheimischen Europäer aber sind größtenteils „unbetroffen“. Die Tatsache, dass sie selbst oder ihre Eltern oder ihre Großeltern die Juden überhaupt erst in diese Klemme gebracht haben, berührt ihr Urteilsvermögen nicht.

Ich habe in meinem eigenen Wohnzimmer in Berlin gehört, wie die Juden in Israel mit den Nazis verglichen wurden, auf schmierige Art zufrieden, genau wie Gaarder. Kein anderes Land, das um sein Überleben kämpft, würde so beurteilt werden.

Für mich liegt in dem Gedanken, dass Israel schließlich doch noch ins Meer gestoßen würde, die – zugegebenermaßen krankhafte – Genugtuung, dass Leute wie Jostein Gaarder dann Mühe haben werden, ein so bequemes Objekt für ihr Hobby Hass zu finden.

Irene Dische, EMMA September/Oktober 2006
 

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