Alice Schwarzer schreibt

Recht auf Abtreibung in akuter Gefahr

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Er ist ein Intellektueller meiner Generation und in zweiter Ehe mit einer jüngeren Frau verheiratet, die sich als Feministin versteht. Die beiden haben zusammen ein Kind. An diesem sonnigen Herbsttag schlendern wir gemeinsam über die Straße, auf dem Weg zu einem Termin. Da sagt er, so ganz nebenher, zu mir: „Na, das mit der Abtreibung würden Sie ja heute sicherlich auch ganz anders sehen, Frau Schwarzer. Nicht so leichtfertig wie damals.“

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Leichtfertig? Ich bin sprachlos. So sprachlos, dass ich nichts erwidere. Aber der Satz geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Soweit sind wir inzwischen also gekommen, den Frauen, die es gewagt haben, das angstvolle Schweigen von Millionen zu brechen, „Leichtfertigkeit“ zu unterstellen. Warum? Weil sie auf die Anschuldigungen von Kirchenmännern, die Abtreibung sei „ein Baby-Holocaust“, trotzig geantwortet haben: „Mein Bauch gehört mir!“?

Von Leichtfertigkeit kann die Rede nicht sein. Die Sache war und ist ernst, blutig ernst. Im Wortsinn. Auf 30 Millionen Abtreibungen im Jahr weltweit schätzte die UNO noch Mitte der 60er Jahre die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche, die meisten illegal. Hunderttausende von Frauen starben Jahr für Jahr an diesen illegalen Abtreibungen bei den „Engelmacherinnen“ oder ganz allein. Noch heute sterben nach Schätzungen der Weltgesundheits-Organisation WHO Jahr für Jahr 70.000 Frauen. Sie wären noch am Leben, hätten sie die Möglichkeit gehabt, legal und mit medizinischem Beistand abzutreiben.

Abtreibung, das war vor den Aktionen der Feministinnen und dem so ausgelösten Protest von Millionen das dunkle Geheimnis einer jeden Frau. Eine Frau, die ungewollt schwanger war, redete oft noch nicht einmal mit ihrer eigenen Mutter oder besten Freundin darüber. Und so manches Mal noch nicht einmal mit dem Verursacher der Schwangerschaft. Sie machte es mit sich allein ab. Verzweifelt. Ausgeliefert. Schuldbewusst.

Und auch Frauen, die noch nie abgetrieben hatten, kannten sehr wohl die Angst vor der ungewollten Schwangerschaft, die ihr ganzes Leben hätte in Bedrängnis bringen können.

Die Forderung nach dem Recht auf Abtreibung wurde Anfang der 70er Jahre nicht zufällig zum Auslöser der Neuen Frauenbewegung in der gesamten westlichen Welt. Denn dieses Recht kann das ganze Leben einer Frau prägen: von der angstfreien Sexualität („Währenddessen denke ich immer nur daran“, hat mir damals eine Mutter von drei Kindern anvertraut) bis hin zur selbstbestimmten Lebensplanung.

Ich lebte damals als Korrespondentin in Paris und hatte die Idee der provokanten öffentlichen Selbstbezichtigung von Frankreich nach Deutschland exportiert. Die 374 deutschen Frauen, die es dann gewagt haben, am 6. Juni 1971 im Stern zu bekennen: „Ich habe abgetrieben – und fordere das Recht dazu für jede Frau!“, diese Frauen wussten nicht, was am nächsten Tag geschehen würde. Würde ihr Mann sich scheiden lassen? Würden die Nachbarn noch mit ihr sprechen? Würde ihr Chef ihnen kündigen? Oder würden sie gar von der Polizei verhaftet?

Auch für das Dutzend Prominente unter den 374 war das Risiko hoch, ja fast noch höher. Sie riskierten mit dem mutigen Bekenntnis ihre Karriere. Doch die meisten waren Frauen von nebenan. Frauen, die nach dem Schneeballsystem angesprochen worden waren und mir dann ihre Unterschrift anvertraut hatten: Nachbarinnen, Kolleginnen, Hausfrauen, Studentinnen.

Sie waren Heldinnen. Wahre Heldinnen. Ihnen verdanken Millionen Frauen heute, dass sie in der Notsituation einer ungewollten Schwangerschaft nicht mehr allein sind, dass sie sich beraten und helfen lassen können.

Geschenkt worden ist das uns Frauen nicht. Schon 1971 schlug uns eine Welle von pseudo-bevölkerungspolitischen und religiös-fanatischen Argumenten entgegen. Doch auch die aufgeklärten Kreise waren keinesfalls auf unserer Seite. So sprach zum Beispiel die Süddeutsche Zeitung 1971 im Zusammenhang mit dem ‚Appell der 374‘ von „Exhibitionismus“, und die Frankfurter Rundschau kritisierte den „Konsumwahn“ der Frauen (Pelzmantel statt Kind) und die „Vernichtung unwerten Lebens“ (sic).

Doch wir Frauen waren nicht mehr aufzuhalten. Wir zwangen sogar die SPD, die keineswegs mehrheitlich pro Reform des §218 war (nur die FDP war dafür), in die Knie. 1974 verabschiedete in der Bundesrepublik das Parlament gegen CDU/CSU nach jahrelangen Debatten endlich die Fristenlösung. Das Recht auf Abtreibung in den ersten drei Monaten. 1975 schenkte das Politbüro den Frauen in der DDR die Fristenlösung – um einem Protest wie im Westen zuvorzukommen.

Wenige Monate darauf stürzten im Westen sechs alte Männer vom Bundesverfassungsgericht die Reform – gegen das Minderheitenvotum unter der Führung der damals einzigen Verfassungsrichterin, Wiltraut Rupp-von Brünneck. Seither hat es viele faule Kompromisse gegeben, die letztendlich dazu führten, dass heute Frauen in ganz Deutschland nicht mehr das „Recht“ haben abzutreiben – wie die Italienerinnen, Französinnen oder Amerikanerinnen – sondern um die Erlaubnis dazu bitten müssen. 2005 haben genau 124.023 Frauen den Beratungsschein bekommen und ohne Demütigung und Lebensgefahr, sondern in Würde und mit medizinischem Beistand die ungewollte Schwangerschaft abbrechen können.

Der halbherzige §218 kann jederzeit aufgeweicht und unterlaufen werden – und das passiert auch schon. Er ist nicht mehr als eine Art Gewohnheitsrecht. Die größte Gegnerin dieses Rechts auf Abtreibung bleibt die katholische Kirche, doch auch so manche Protestanten sind mit von der Partie.

Dabei sieht selbst die katholische Kirche das mit der Seele des Fötus mal so und mal so. So hatte bis zum Jahr 1869 laut Dogma der männliche Fötus ab dem 40. Tag eine Seele, der weibliche ab dem 80. Tag. Heute gilt dem Vatikan bereits die Vereinigung von Ei und Samen im Reagenzglas als heilig. Entsprechend bezeichnen Kirchenmänner abtreibende Frauen als „Mörderinnen“ und setzen die Abtreibung gleich mit dem „Holocaust“. Dass gerade katholische Länder die höchsten Abtreibungszahlen haben – eben wegen des Verhütungstabus und der größeren Abhängigkeit der Frauen – scheint den Vatikan nicht zu stören. Und auch nicht, dass er Jahr für Jahr mitverantwortlich ist für den Tod von 70.000 Frauen.

All dessen ungeachtet sind ausgerechnet die Kirchen für unsere demokratisch gewählte Regierung der Dialogpartner Nr.1 in Sachen Abtreibung, wie bei dem Spitzentreffen in Berlin der Fraktionschef der Regierung und Bischöfe am 19. September (siehe Seite 82). Und auch mein aufgeklärter Freund und seine fortschrittlichen (und gerne auch grünen) FreundInnen scheinen es heute selbstverständlich zu finden, die mutigen Pionierinnen als „leichtfertig“ zu klassifizieren und das Vatikan-Vokabular von den „abgetriebenen Kindern“ (statt Föten) und dem „schützenswerten ungeborenen Leben“ zu übernehmen.

Klar, dass die aktuelle Debatte um die Spätabtreibungen – die im vergangenen Jahr in Deutschland exakt 171 mal durchgeführt wurde (80 Prozent dieser Föten wären nicht lebensfähig gewesen) – in Wahrheit die 124.023 Abtreibungen im Visier hat. Die Spätabtreibungen sind die Hintertür, durch die der halbherzig reformierte §218 noch rigider gefasst werden soll.

In Amerika bringen christliche „Lebensschützer“ nach 33 Jahren gerade das Recht auf Abtreibung ernsthaft ins Wanken. Das könnte in nicht allzu ferner Zeit auch bei uns der Fall sein. Wenn wir nicht endlich aufwachen – und verhindern, dass im Namen des „ungeborenen Lebens“ wieder Macht über das geborene Leben ausgeübt wird. Das Leben von Frauen.

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