Friedliches Europa ...
Die Nacht zum 1. Mai ist eigentlich eine Nacht der reinen Freude. Denn es wird etwas passieren, was bis vor kurzem noch unvorstellbar war: 25 Länder mit 450 Millionen EinwohnerInnen rücken zusammen zur Europäischen Union. Länder, die noch vor zwanzig Jahren im kalten Krieg über 50.000 Atomwaffen gegeneinander gerichtet hatten. Länder, in denen die Menschen sich in den beiden letzten heißen Weltkriegen millionenfach gegenseitig massakrierten. Und jetzt das: Wir sind alle EuropäerInnen!
Hätten meine Großeltern das erlebt, sie wären tief gerührt gewesen. Er, der sich mit 19 freiwillig meldete, um „allen Franzosen in die roten Hosen zu schießen“ – und tief schockiert, ja traumatisiert von den Schlachtfeldern von Verdun zurück kehrte. Sie, die mit 16 ihren Jungmädchenschmuck zur Sammelstelle „Gold für Eisen“ trug, und sich im Rückblick fassungslos fragte, wie dieser patriotische Wahn möglich gewesen war. Beide, deren letzte undeutsche Ausflüge im tausendjährigen Reich in das besetzte Straßburg gingen, wo aber niemand mit ihnen reden wollte, weil sie Deutsche waren.
Und ich, die ich als junge blonde Frau Anfang der 60er in Paris noch auf der Straße als „SS“ beschimpft wurde; und als Korrespondentin Anfang der 70er beinahe aus dem Lande gewiesen worden wäre, weil ich nicht kooperativ mit der Geheimpolizei war. Ich, die ich 1968 nach dem gescheiterten Putsch mit weinenden Freunden in Prag telefonierte und bei Besuchen in Ost-Berlin in den 80ern gleich von zwei Stasi-Autos mit je vier Insassen auf einmal verfolgt wurde.
Der ganze Horror ist also jetzt vorbei. Unser gutes altes Europa wird barrierefrei. Und selbst das harte ökonomische Ost/West-Gefälle wird irgendwann ausgeglichen sein. Was 1957 mit sechs Ländern der EWG begann, ist heute bei 25 EU-Ländern angekommen. Und die wenigen, die noch fehlen, werden nicht mehr lange auf sich warten lassen. Der Sog vom Nationalstaat zum Vereinten Europa ist unaufhaltsam. Und überlebenswichtig.
Denn im gleichen Maße, in dem der Friede in Europa wächst, wächst der Unfriede in der Welt. Hauptunruhestifter ist die heute einzige verbliebene und überwältigende Weltmacht: ist Amerika. Unter wechselnden Vorwänden, doch mit gleichen Motiven verletzen die USA die Autonomie anderer Staaten. Die Vorwände lauten: bedrohte Menschenrechte, drohende Pogrome, angebliche Massenvernichtungswaffen etc. Die Motive sind: Weltherrschaft, Öl und andere ökonomische Interessen.
Mit diesen Übergriffen schürt Amerika, unterstützt von den jeweiligen Alliierten, das, was wir in Europa uns gerade nach Jahrhunderten des Horrors abgewöhnen: den Nationalismus, dessen hässlicher Zwilling der Rassismus ist. Statt in den wirklich bedrohten und gefährdeten Ländern die demokratischen Oppositionen zu bestärken – um so den Ländern zu helfen, sich selber zu helfen – spielt die Weltmacht zusammen mit ihren Kumpanen gefährliche Spielchen und gießt erst recht Öl ins Feuer: von der Förderung der Nationalisten in Bosnien oder der Islamisten im Kosovo, über die Unterstützung der Talibane inklusive Bin Laden in Afghanistan, bis hin zur Zerschlagung des Irak, dessen Trümmer jetzt der Exerzierplatz der Gotteskrieger sind.
Das alles war voraussehbar. Jeder hätte es wissen können, wenn er gewollt hätte. Pogrome nicht nur gegen Muslime und Albaner, sondern auch gegen Serben gab es von Anfang an auch in Bosnien und im Kosovo: einfach immer der Stärkere gegen den Schwächeren. Und nicht nur in EMMA war das zu lesen, aber auch. So schrieb ich 1979, was nach der Machtergreifung von Khomeini zu erwarten war; warnte Gabriele Venzky 1992 vor der durch die vom Westen aufgerüsteten Talibane drohenden Gefahr nach Abzug der sowjetischen Besatzer; schrieb Sonia Mikich 1992 für EMMA über den neu aufflammenden Rassismus („Und plötzlich bin ich halbe Serbin“); berichtete Bettina Flitner 1999 über die serbischen Gettos, schon damals umstellt von bis an die Zähne vom Westen bewaffneten, rachsüchtigen und selbstgerechten Albanern. Unsere Stimmen waren zwar in der Minderheit, aber nicht die einzigen.
Warum also wollte es niemand wissen? Warum waren diese jedes Völkerrecht verhöhnenden Angriffskriege möglich, und das auch noch im Namen der „Menschenrechte“ oder gar zur angeblichen Verhinderung eines „zweiten Auschwitz“? Weil massive Interessen dahinter stecken. Und weil immer alle geglaubt haben: Uns trifft es ja nicht, es trifft nur die anderen.
Und in der Tat, jetzt sieht es so aus, als könnten wir die Schotten dicht machen rund um Europa: Ein friedliches Europa in einer brennenden Welt. Nur ganz so einfach ist das nicht. Die Kreuzzügler der gedemütigten islamischen Welt antworten jetzt mit Terror. Und vor dem sind selbst wir mitten in unserem schönen neuen, alten Europa nicht sicher. Zumindest nicht, so lange das friedliche Europa sich zum Handlanger des zur Zeit so unfriedlichen Amerikas machen lässt.
Alice Schwarzer , EMMA Mai/Juni 2004